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VfGH vom 06.10.2011, B877/10

VfGH vom 06.10.2011, B877/10

19528

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Versammlungsfreiheit durch Bestrafung wegen Verwaltungsübertretungen im Zuge einer "Spontan-Manifestation" zur Freilassung festgenommener Demonstrationsteilnehmer; keine Beurteilung des Sachverhaltes unter dem Blickwinkel des Versammlungsgesetzes

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.400,-

bestimmten Prozesskosten bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Mit Straferkenntnis vom verhängte die Bundespolizeidirektion Wien über die Beschwerdeführerin, eine österreichische Staatsbürgerin, wegen Übertretung 1) des § 81 des Sicherheitspolizeigesetzes (im Folgenden: SPG) und 2) § 76 Abs 1 der Straßenverkehrsordnung 1960 (im Folgenden: StVO) eine Geldstrafe in Höhe von 1) € 50,- im Fall der Uneinbringlichkeit 25 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe und 2) € 40,- im Fall der Uneinbringlichkeit 20 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe, weil sie 1) durch Versperrung des Gehsteiges, lautstarkem Schimpfen, Beschimpfungen der Exekutivbeamten und Behinderung des Personen- und Fahrzeugverkehrs die Ordnung an einem öffentlichen Ort ungerechtfertigt gestört und ein besonders rücksichtsloses Verhalten gesetzt hat, das Ärgernis zu erregen geeignet war, und auch tatsächlich erregt hat, und 2) als Fußgänger vorschriftswidrig die Fahrbahn benützt hat, obwohl ein Gehsteig vorhanden war.

Der dagegen erhobenen Berufung wurde vom Unabhängigen Verwaltungssenat Wien mit Bescheid vom keine Folge gegeben und das angefochtene Straferkenntnis wurde bestätigt.

2. Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung den in der Anzeige bei der Bundespolizeidirektion Wien vom dargestellten Sachverhalt zu Grunde, aus dem sich u.a. entnehmen ließ, dass - wie weiter unten näher begründet wird - eine "Spontan-Manifestation" zur Freilassung einiger Demonstranten stattgefunden habe.

3. Im Rahmen einer mündlichen Verhandlung am vor der belangten Behörde gab die Beschwerdeführerin Folgendes an:

"Nach Beendigung der angemeldeten Demonstration gegen eine Wahlveranstaltung der FPÖ kam es zu einer Spontankundgebung. Wir fanden uns zusammen und wollten gegen die Festnahme einiger Aktivisten demonstrieren. Ich weiß nicht aus welchem Grund diese verhaftet wurden, ich kenne sie auch nicht. Wir wollten vor der Polizei Van-der-Nüll-Gasse unseren Unmut kundtun und ich nahm an dieser Spontankundgebung teil. Nach kürzester Zeit bereits wurde eine Sperrkette von der Polizei gebildet. Befragt, was ich tat, gebe ich an: Ich skandierte Parolen, welchen Inhalts weiß ich nicht mehr, beschimpft habe ich niemanden. Sinngemäß forderten wir die Freilassung. Wurfgeschosse hatte ich keine bei mir.

Mir werden die beiden Parallelverfahren 11523/2009 und 11526/2009 zur Kenntnis gebracht. Die dort genannten Personen sind mir unbekannt. Möglich[er]weise kenne ich die Personen unter anderen Vornamen.

Ich erachte die Strafe als nicht gerechtfertigt, weil man im Rahmen einer Versammlung auch die Straße betreten darf. Mir wird dargelegt, dass dies nur für ordnungsgemäß angemeldete Versammlungen Geltung hat."

4. Der Meldungsleger der Strafanzeige, Herr Insp. A, gab im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom zeugenschaftlich befragt Folgendes an:

"Der Vorfall liegt längere Zeit zurück. Ich habe dazu auch eine Stellungnahme geschrieben. Ich habe mir deshalb auch die Anzeige durchgelesen, um mich an den Vorfall besser erinnern zu können. Es war eine Kundgebung vor der Polizei Van-der-Nüll-Gasse. Ich glaube nicht, dass diese genehmigt war, das weiß ich heute aber nicht mehr. Nach meiner Erinnerung richtete sich die Kundgebung gegen die Festnahme einzelner Aktivisten. Durch diese Versammlung wurde der Verkehr behindert und auch die Ordnung gestört. Welche Rufe damals ertönten, weiß ich heute[] nicht mehr. Wir waren eine geschlossene Einheit. Der Kompaniekommandant ordnete letztlich die Anzeige aller Teilnehmer an.

[...]

Ich weiß, dass die Polizei eine Sperrkette bildete. Ich weiß nicht, ob ich selbst in dieser Kette stand. Ich weiß auch nicht, wo die Polizisten Aufstellung genommen hatten. Mir ist auch die hier anwesende Bw unbekannt."

5. Schließlich kam die belangte Behörde in dem nunmehr angefochtenen Bescheid zu folgendem Ergebnis:

"Die Bw verantwortet sich während des gesamten Verwaltungsstrafverfahrens damit, dass sie an einer 'Spontandemonstration' teilgenommen hätte, die wie eine ordnungsgemäß der Behörde angezeigte Kundgebung durch das österreichische Versammlungsgesetz gedeckt sei.

Der Verfassungsgerichtshof (zB VfSlg. 4586/1963, 5193/1966, 5195/1966, 5415/1966, 8685/1979, 9783/1983, 10443/1985, 10608/1985, 10955/1986; , B74/88, B281/88, , B706/89) wertet eine Zusammenkunft mehrerer Menschen nur dann als Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes, wenn sie in der Absicht veranstaltet wird, die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken (Debatte, Diskussion, Manifestation usw.) zu bringen, so dass eine gewisse Assoziation der Zusammengekommenen entsteht.

Nach der Aktenlage ist ersichtlich, dass es der Bw (und ihren Mitstreitern) ausschließlich darum ging, anderen Personen ihre Meinung mitzuteilen, nicht aber darum, diese Meinung mit anderen Personen zu erörtern und sie zu einer gemeinsamen Aktion zu veranlassen.

Die 'Veranstaltung' entsprach somit nicht den gesetzlichen Vorgaben.

Gemäß § 81 Abs 1 SPG begeht eine Verwaltungsübertretung, wer durch besonders rücksichtsloses Verhalten die öffentliche Ordnung ungerechtfertigt stört, und ist mit Geldstrafe bis zu Euro 218,-- zu bestrafen. Anstelle einer Geldstrafe kann bei Vorliegen erschwerender Umstände eine Freiheitsstrafe bis zu einer Woche, im Wiederholungsfall bis zu zwei Wochen verhängt werden.

Gemäß § 76 Abs 1 StVO haben Fußgänger, auch wenn sie Kinderwagen oder Rollstühle schieben oder ziehen, auf Gehsteigen oder Gehwegen zu gehen; sie dürfen nicht überraschend die Fahrbahn betreten. Sind Gehsteige oder Gehwege nicht vorhanden, so haben Fußgänger das Straßenbankett und, wenn auch dieses fehlt, den äußersten Fahrbahnrand zu benützen; hiebei haben sie auf Freilandstraßen, außer im Falle der Unzumutbarkeit, auf dem linken Straßenbankett (auf dem linken Fahrbahnrand) zu gehen. Benützer von selbstfahrenden Rollstühlen dürfen Gehsteige, Gehwege und Fußgängerzonen in Schrittgeschwindigkeit befahren.

Die schuldhafte Tatbestandverwirklichung ist durch die Aktenlage, sowie den Angaben des Zeugen Insp. A[...] in der mündlichen Berufungsverhandlung als erwiesen anzusehen. Die Darstellung des Sachverhaltes durch die Bw wirkte wenig glaubwürdig und war dieser daher keinesfalls zu folgen."

6. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Versammlungsfreiheit, auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie auf Freiheit der Meinungsäußerung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides beantragt wird.

Wörtlich wird im Wesentlichen, insbesondere im Hinblick auf die behauptete Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Versammlungsfreiheit, Folgendes vorgebracht:

"2. Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Versammlungsfreiheit nach Artikel 12 StGG, Artikel 11

EMRK:

Die belangte Behörde hat jener Kundgebung, an der die Bf. teilnahm und in der die Freilassung der Festgenommenen mittels Sprechchören und Gesängen gefordert wurde, zu Unrecht den Charakter einer Versammlung iSd Art 12 StGG bzw Art 11 EMRK abgesprochen [...].

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt eine Versammlung vor, wenn eine Zusammenkunft mehrerer Personen in der Absicht veranstaltet wird, die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken (Debatte, Diskussion, Manifestation usw.) zu bringen, sodass eine gewisse Assoziation der Zusammengekommenen entsteht (VfSlg 12.161, 14.366). Eine solche Manifestation als Zweck der Versammlung kann auch in der gemeinsamen Kundgabe einer Meinung bestehen (VfSlg 11.832, 11.935). Dementsprechend hat der Gerichtshof auch Sprechchöre als Versammlungen qualifiziert (VfSlg 8685, 17.600, 18.560).

Genau um eine solche Manifestation handelte es sich im vorliegenden Fall. Die Teilnehmer der Kundgebung wirkten zusammen, um gemeinsam ihren Protest über die Festnahmen zum Ausdruck zu bringen und dadurch gemeinsam auf die Freilassung der Festgenommenen hinzuwirken. Es liegt auf der Hand, dass gemeinsames Rufen von Parolen und gemeinsames Singen ein gemeinsames Zusammenwirken ('Chor'!) beinhaltet und solcherart eine deutliche Assoziation der Zusammengekommenen entsteht. Auch die polizeilichen Feststellungen sprechen von Gesängen und Parolen und verwenden sogar ausdrücklich den Begriff der 'Manifestanten'. Es handelte sich daher um eine Versammlung.

Auch das hier gegenständliche Verhängen einer Verwaltungsstrafe wegen der Veranstaltung einer Versammlung nach anderen Bestimmungen als dem Versammlungsgesetz greift in das Recht auf Versammlungsfreiheit ein (VfSlg. 8685, 11.651, 11.866/1988), das auch für die hier stattgefundene - nicht angemeldete - Spontanversammlung gilt (VfSlg 11.132, 14.366, vgl. das Urteil des EGMR , ZI. 31684/05 - Barraco). Zumal die der Bf. vorgeworfenen Verhaltensweisen (Benützen der Fahrbahn und zeitweilige 'Verstopfung' des Gehsteigs sowie die dadurch allenfalls bewirkte [...] Beeinträchtigung des Verkehrs, die ebenfalls angelasteten Beschimpfungen lagen nicht vor und wurden von der belangten Behörde auch nicht sachverhaltsmäßig festgestellt) in unmittelbarem sachlichen, zeitlichen und örtlichem Zusammenhang mit der Versammlung standen, fielen sie daher in den Schutzbereich [des] Grundrechts der Versammlungsfreiheit.

In diesem Zusammenhang ist auf die politische Funktion der Versammlungsfreiheit in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen hinzuweisen. Es liegt im Wesen einer Versammlung, die der öffentlichen Durchsetzung eines Protests dienen soll, dass dies in einer Weise geschieht, durch welche die Öffentlichkeit auf das Anliegen der Versammlung aufmerksam wird. Gerade sachverhaltsbezogen, nämlich vor dem Hintergrund der öffentlich organisierten politischen Kundgebung, die Hintergrund der Geschehnisse war, erforderte die Versammlung, an der die Bf. teilgenommen hat, eine ebenso öffentlichkeitswirksame Gegenkundgebung. Da auch die Festnahmen der Polizei vor diesem Hintergrund zu sehen sind, erforderte auch die Kundgabe des Protests gegen diese Festnahmen entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit. Die auffällige Polizeipräsenz auf der Straße (Sperrkette) zog sohin die Notwendigkeit nach sich, die Versammlung in gleicher Weise auf die Straße zu verlagern. Die dadurch veranlasste, zeitweilige Inanspruchnahme des öffentlichen Raums war mithin für die Durchführung der Versammlung essentiell (Vgl. VfSlg 11.832). Auch aus diesem Grund liegt durch die Bestrafung ein Eingriff in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit vor.

Die in Beschwerde gezogenen Schuld- und Strafaussprüche wären daher im Grunde des materiellen Eingriffsvorbehalts des Art 11 Abs 2 EMRK nur dann verfassungskonform gewesen, wenn sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig gewesen wären (Vgl. VfSlg 10.443, 10.955, 11.132, 12.155). Dies war nicht der Fall. Vielmehr war das der Bf. angelastete Verhalten bei verfassungskonformer Auslegung der Straftatbestände nach § 6 VStG gerechtfertigt (Vgl. VfSlg 11.866, ) bzw. lag keine 'nicht gerechtfertigte Störung der öffentlichen Ordnung' iSd § 81 SPG vor.

Zwar dienen die Zielsetzungen der herangezogenen Straftatbestände (bestimmungsmäßige Verwendung der Straße mit öffentlichem Verkehr, geordnetes menschliches Zusammenleben im öffentlichen Raum) den Interessen der öffentlichen Sicherheit und der Aufrechterhaltung der Ordnung und finden sohin ihre Grundlage im materiellen Gesetzesvorbehalt des Art 11 Abs 2 MRK. Die Verhängung von Strafsanktionen war jedoch im konkreten Fall weit überschießend. Denn derartige Eingriffe in die Versammlungsfreiheit verlangen eine behördliche Abwägung, ob derartige Beeinträchtigungen öffentlicher Interessen im Interesse der Versammlungsfreiheit von der Öffentlichkeit hinzunehmen sind oder nicht (VfSlg 10.443, 11.832). Dabei ist davon auszugehen, dass sich Versammlungen in der Regel auch für Unbeteiligte störend auswirken (so etwa durch Sperre des Straßenverkehrs). Demnach gehört die Inkaufnahme eines gewissen Maßes von Beeinträchtigungen des öffentlichen Verkehrs bzw. einer gewissen Störung der normalen Abläufe zum Kerngehalt der Versammlungsfreiheit. Sie ist daher hinzunehmen, da ansonsten die Versammlungsfreiheit leer laufen würde.

Im vorliegenden Fall hat die Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und des Verkehrs schon im Hinblick auf den kurzen Zeitraum (die Kundgebung auf Straße und Gehsteig dauerte ca. 5 Minuten, bevor die Polizei einschritt) nicht jenes Maß geringfügiger Beeinträchtigung überschritten, das in einer demokratische[n] Gesellschaft im Interesse der Versammlungsfreiheit hinzunehmen ist. Auch sonst war die Behinderung des Verkehrs nicht bedeutsam. Es handelte sich nicht um eine Verkehrsverbindung, der besondere Bedeutung zukommt. Betroffen war lediglich eine geringe Anzahl von Kraftfahrern, die zu kurzen Stehzeiten veranlasst wurde. Die von der Polizei beschriebene Beeinträchtigung des Fußgängerverkehrs bestand real darin, dass einige Fußgänger auf die gegenüberliegende Straßenseite wechselten. Die behauptete Beeinträchtigung des planmäßigen Busverkehrs kann sich schon wegen der Kürze des betroffenen Zeitraums nur im Rahmen dessen gehalten haben, was im innerstädtischen Verkehr mittlerweile zum Normalfall geworden ist. Von einem massiven Stau, wie ihn die Polizei gesehen haben will, konnte keine Rede sein. Insgesamt konnte die geringe Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und des Verkehrs in keinem Fall die mit einer Strafsanktionierung des - in Ausübung der Versammlungsfreiheit gesetzten - Verhaltens der Bf. verbundenen massiven Eingriffe in ihre politischen Rechte rechtfertigen (wobei die Schwere des Eingriffs nicht in der Höhe der Strafe sondern in dem mit der Pönalisierung verbundenen sozialem Unwerturteil und den langfristig negativen Folgen verwaltungsstrafrechtlicher Vormerkungen - Folgen für Berufsausübung oder als Milderungsgrund - liegt). Vielmehr war die verfassungsrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit im konkreten Fall als das höherwertige Rechtsgut anzusehen.

Dies gilt umso mehr als die Kundgebung gegen die Festnahmen in zeitlichem Zusammenhang mit Wahlkampfveranstaltungen einer politischen Partei stand, die 'Law and Order' Maßnahmen, wie die Festnahmen gegen die protestiert wurde, besonders befürwortet. Im Interesse des politischen Pluralismus spricht dies für größere Freiräume für Gegenkundgebungen als Ausgleich gegen solche Maßnahmen bzw. gegen die Geisteshaltung jener Polizeikräfte, die - ausweislich der Personalvertretungswahlergebnisse - in durchaus spürbarer Anzahl den diesbezüglichen Anschauungen anhängen. Die offensichtlich politische Konnotation der Vorgänge um die Kundgebung kommt im Übrigen auch in der von der Polizei ohne nähere Begründung verwendeten Bezeichnung 'Demonstranten der linken Szene' zum Ausdruck.

Angemerkt sei, dass die von der Polizei erwähnten - für die Bf. nicht wahrnehmbaren - Beschwerden und Befürchtungen von Passanten betreffend die Kundgebung, an der die Bf. teilnahm, jedenfalls keine taugliche Grundlage für einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstellen. Zunächst können Befürchtungen Einzelner die Behörde nicht von der sie hinsichtlich konkreter Beeinträchtigungen treffenden Ermittlungspflicht dispensieren. Es handelt sich dabei auch nicht um Dritte, deren Rechte nach Art 11 Abs 2 EMRK zu schützen sind. Denn Dritten kommt nach der österreichischen Rechtsordnung kein Recht auf Untersagung oder Strafsanktionierung einer Versammlung zu, noch gibt es ein subjektives Recht auf Gebrauch der ja im Gemeingebrauch aller stehenden Straße. Das Versammlungsrecht würde ins Groteske verzerrt, wenn die bloße Missbilligung der Versammlung durch Dritte zum Verbot bzw. der Strafsanktionierung des in Ausübung des Versammlungsrechts gesetzten Verhaltens führen könnte. Dies wäre das Gegenteil einer pluralistischen, auf dem Schutz der Rechte des Einzelnen aufbauenden Gesellschaft. Solcherart entstünde eine Einfallspforte für die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit.

Demnach hat die belangte Behörde die Rechtslage verkannt, indem sie die gebotene, am Grundrecht der Versammlungsfreiheit ausgerichtete Auslegung der angewendeten Straftatbestände unterlassen und dem Gesetz einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt hat. Bereits das Unterbleiben der gebotenen verfassungsrechtlichen Abwägung in der Bescheidbegründung belastet den Bescheid der belangten Behörde mit Verfassungswidrigkeit.

[...]"

7. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II. Rechtslage

Die den angefochtenen Bescheid tragenden Bestimmungen lauten wie folgt:

1. § 81 Sicherheitspolizeigesetz - SPG, BGBl. 566/1991 idF BGBl. I 158/2005 lautet:

"Strafbestimmungen

Störung der öffentlichen Ordnung

§81. (1) Wer durch besonders rücksichtsloses Verhalten die öffentliche Ordnung ungerechtfertigt stört, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 218 Euro zu bestrafen. Anstelle einer Geldstrafe kann bei Vorliegen erschwerender Umstände eine Freiheitsstrafe bis zu einer Woche, im Wiederholungsfall bis zu zwei Wochen verhängt werden.

(2) Von der Festnahme eines Menschen, der bei einer Störung der öffentlichen Ordnung auf frischer Tat betreten wurde und der trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht (§35 Z 3 VStG), haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes abzusehen, wenn die Fortsetzung oder Wiederholung der Störung durch Anwendung eines oder beider gelinderer Mittel (Abs3) verhindert werden kann.

(3) Als gelindere Mittel kommen folgende Maßnahmen der unmittelbaren Befehls- und Zwangsgewalt in Betracht:

1. die Wegweisung des Störers vom öffentlichen Ort;

2. das Sicherstellen von Sachen, die für die Wiederholung der Störung benötigt werden.

(4) Sichergestellte Sachen sind auf Verlangen auszufolgen

1. dem auf frischer Tat Betretenen, sobald die Störung nicht mehr wiederholt werden kann, oder

2. einem anderen Menschen, der Eigentum oder rechtmäßigen Besitz an der Sache nachweist, sofern die Gewähr besteht, daß mit diesen Sachen die Störung nicht wiederholt wird.

(5) Solange die Sachen noch nicht der Sicherheitsbehörde übergeben sind, kann der auf frischer Tat Betretene das Verlangen (Abs4) an die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes richten, die die Sache verwahren.

(6) Wird ein Verlangen (Abs4) nicht binnen sechs Monaten gestellt oder unterläßt es der innerhalb dieser Zeit nachweislich hiezu aufgeforderte Berechtigte (Abs4 Z 1 oder 2), die Sachen von der Behörde abzuholen, so gelten sie als verfallen. Im übrigen ist § 43 Abs 2 sinngemäß anzuwenden."

2. § 76 Abs 1 Straßenverkehrsordnung - StVO 1960, BGBl. 159/1960 idF BGBl. 450/1984 lautet:

"Fußgängerverkehr.

§76. Verhalten der Fußgänger.

(1) Fußgänger haben, auch wenn sie Kinderwagen oder Rollstühle schieben oder ziehen, auf Gehsteigen oder Gehwegen zu gehen; sie dürfen nicht überraschend die Fahrbahn betreten. Sind Gehsteige oder Gehwege nicht vorhanden, so haben Fußgänger das Straßenbankett und, wenn auch dieses fehlt, den äußersten Fahrbahnrand zu benützen; hiebei haben sie auf Freilandstraßen, außer im Falle der Unzumutbarkeit, auf dem linken Straßenbankett (auf dem linken Fahrbahnrand) zu gehen. Benützer von selbstfahrenden Rollstühlen dürfen Gehsteige, Gehwege und Fußgängerzonen in Schrittgeschwindigkeit befahren.

..."

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die belangte Behörde legte ihrer Entscheidung im Wesentlichen einen Sachverhalt zu Grunde, von dem sie im Ergebnis annahm, dass er dem Versammlungsgesetz nicht unterliege. Die Beurteilung der Frage, ob eine Zusammenkunft dem verfassungsgesetzlich garantierten Versammlungsrecht unterfällt, ist eine Frage, zu deren Beurteilung der Verfassungsgerichtshof zuständig ist:

2. Artikel 11 EMRK und Artikel 12 StGG garantieren die Versammlungsfreiheit wie folgt:

Artikel 11 EMRK lautet:

"Artikel 11 - Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

(1) Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen, einschließlich des Rechts, zum Schutze ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten.

(2) Die Ausübung dieser Rechte darf keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden als den vom Gesetz vorgesehenen, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Dieser Artikel verbietet nicht, daß die Ausübung dieser Rechte durch Mitglieder der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung gesetzlichen Einschränkungen unterworfen wird."

Artikel 12 StGG lautet:

"Artikel 12. Die österreichischen Staatsbürger haben das Recht, sich zu versammeln und Vereine zu bilden. Die Ausübung dieser Rechte wird durch besondere Gesetze geregelt."

3. Das Versammlungsgesetz 1953 (im Folgenden: VersammlungsG) definiert den Begriff der von ihm erfassten "Versammlung" nicht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist eine Zusammenkunft mehrerer Menschen dann eine Versammlung im Sinne des VersammlungsG, wenn sie in der Absicht veranstaltet wird, die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken (Debatte, Diskussion, Manifestation, u.s.w.) zu bringen, sodass eine gewisse Assoziation der Zusammengekommenen entsteht (vgl. etwa VfSlg. 15.109/1998 und die dort nachgewiesene Rechtsprechung). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, hängt nicht zuletzt von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. etwa VfSlg. 11.935/1988). Im Hinblick auf die in der Judikatur entwickelten Maßstäbe und Grundsätze (vgl. insbesondere zur Voraussetzung eines gemeinsamen Wirkens: VfSlg. 8685/1979, 15.680/1999, 18.483/2008, 18.560/2008 mwN sowie zur Dauer der Veranstaltung und der Zahl ihrer Teilnehmer: VfSlg. 11.866/1988), ist im Ergebnis davon auszugehen, dass - anders als die belangte Behörde meint -auch Spontan-Versammlungen und ad-hoc entstehende Demonstrationen in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fallen können (VfSlg. 14.366/1995).

3.1. Wenn nun, wie im hier vorliegenden Fall, eine Gruppe von etwa 30 Personen nach Beendigung einer - angezeigten - Demonstration, im Zuge derer es zu Festnahmen kam, beschließt, gemeinsam die Freilassung der zuvor festgenommenen Demonstrationsteilnehmer zu erwirken (und zu diesem Zweck, unter gemeinsamem Rufen von Parolen und Gesängen zum Bezirkskommissariat Van-der-Nüll-Gasse zu ziehen), ist die Rechtsauffassung der belangten Behörde, eine solche "Spontan-Manifestation" nicht als Versammlung iSd VersammlungsG zu werten, unzutreffend. Eine Versammlung iSd VersammlungsG liegt nämlich dann vor, wenn sich Personen zu einem gemeinsamen Zweck und gemeinsamen Wirken zusammenfinden (vgl. dazu schon VfSlg. 8685/1979). Weder der Umstand, dass die Teilnehmer - die im Übrigen nicht absehen konnten, dass es im Zuge der angezeigten Gegenkundgebung zur Abschlusskundgebung der FPÖ zu einem sicherheitsbehördlichen Einschreiten und zu Festnahmen auf Seiten der Kundgebungsteilnehmer kommen werde - die Anzeigepflicht verletzend eine "Spontan-Versammlung" organisierten, um gemeinsam die Freilassung einiger Festgenommener zu erwirken, noch der Umstand, dass eine Erörterung des Versammlungszwecks mit Passanten unterblieb, steht der rechtlichen Qualifikation als Versammlung entgegen

(VfSlg. 18.560/2008).

3.2. Der angefochtene Bescheid ist vor dem Hintergrund, dass an sich verwaltungsbehördlich strafbares Handeln iSd § 6 Verwaltungsstrafgesetz 1991 dann gerechtfertigt sein kann, wenn es im Zusammenhang mit einer Versammlung gesetzt wird und zur Durchführung der Versammlung erforderlich ist (VfSlg. 11.866/1988), zu beurteilen. Die belangte Behörde hat im angefochtenen Bescheid die Auffassung vertreten, "dass es der [Berufungswerberin] (und ihren Mitstreitern) ausschließlich darum ging, anderen Personen ihre Meinung mitzuteilen, nicht aber darum, diese Meinung mit anderen Personen zu erörtern und sie zu einer gemeinsamen Aktion zu veranlassen", weshalb - so die belangte Behörde resümierend - die "Veranstaltung" nicht den gesetzlichen Vorgaben iSd VersammlungsG entsprach. Ausgehend von dieser, das Wesen einer Versammlung verkennenden, verfassungsrechtlich unzutreffenden Prämisse wurde die Beschwerdeführerin in der Folge schuldig erkannt, zwischen 19.05 und 19.10 Uhr aufgrund Versperrung des Gehsteiges, lautstarken Schimpfens, Beschimpfungen der Exekutivbeamten und Behinderung des Personen- und Fahrzeugverkehrs sowie aufgrund vorschriftswidriger Benützung der Fahrbahn als Fußgänger, obwohl ein Gehsteig vorhanden war, gegen die Vorschriften des § 81 SPG und des § 76 Abs 1 StVO verstoßen zu haben. Eine Beurteilung der verwirklichten Tatbestände unter dem Blickwinkel des VersammlungsG unterblieb jedoch, ging doch die belangte Behörde davon aus, dass die Beschwerdeführerin nicht als Teilnehmerin einer Versammlung handelte.

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Dadurch, dass die belangte Behörde die Beschwerdeführerin wegen der Verwaltungsübertretungen nach § 81 SPG und § 76 Abs 1 StVO bestraft hat, ohne zu berücksichtigen, dass es zu den im Sachverhalt festgestellten Geschehnissen im Zuge einer "Spontan-Manifestation" iSd Versammlungsgesetzes kam, hat sie die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlichen Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt.

2. Der angefochtene Bescheid ist daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 400,- enthalten.

4. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.