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OGH vom 01.03.2011, 10ObS6/11x

OGH vom 01.03.2011, 10ObS6/11x

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S***** F*****, vertreten durch Hajek Boss Wagner Rechtsanwälte OG in Neusiedl am See, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 118/10x 12, womit der Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt vom , GZ 23 Cgs 148/10k 3, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 528a iVm § 510 Abs 3 ZPO).

Text

Begründung:

Das Erstgericht wies mit Urteil vom zu AZ 23 Cgs 66/05v das auf Weitergewährung einer Waisenpension in gesetzlicher Höhe über das vollendete 27. Lebensjahr hinaus gerichtete Klagebegehren rechtskräftig ab. Seither mehrfach eingebrachte Wiederaufnahmsklagen wurden zurück oder abgewiesen.

Der Kläger stützt seine nunmehr zu beurteilende Wiederaufnahmsklage auf § 101 ASVG und verweist auf die bereits in den Vorverfahren geltend gemachten Wiederaufnahmsgründe und auf die dort beantragten Beweismittel.

Die Vorinstanzen wiesen die Klage zurück.

In seinem außerordentlichen Revisionsrekurs vertritt der Kläger den Standpunkt, es sei nicht nachvollziehbar, dass im Verwaltungsverfahren § 101 ASVG als lex specialis gegenüber den Bestimmungen über die Wiederaufnahme nach § 69 AVG zur Verfügung stehe, während im sozialgerichtlichen Verfahren ausschließlich die „strengere“ Bestimmung des § 530 ZPO zur Anwendung gelangen solle. Dass in § 64 ASGG ein Hinweis auf die Anwendbarkeit der Bestimmung des § 101 ASVG im sozialgerichtlichen Verfahren fehlt, stelle eine planwidrige Lücke dar, die durch Analogie zu schließen sei. Sollte keine Analogie möglich sein, begründe die unterschiedliche Behandlung der Interessen eines Versicherten im Verwaltungsverfahren einerseits und im sozialgerichtlichen Verfahren andererseits Bedenken gegen die Verfassungsgemäßheit der §§ 64 ff ASGG.

Rechtliche Beurteilung

Mit diesen Ausführungen zeigt der Revisionsrekurswerber keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf:

1. Der mit „Rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen“ überschriebene § 101 ASVG normiert, dass dann, wenn sich nachträglich ergibt, dass eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde, mit der Wirkung vom Tage der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen ist. Schon aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich, dass § 101 ASVG nur auf Bescheide eines Sozialversicherungsträgers anwendbar ist. Diese können zu Gunsten des Berechtigten bei Vorliegen eines dem Pensionsversicherungsträger unterlaufenen wesentlichen Rechtsirrtums oder offenkundiges Versehens von diesem ohne weiteres berichtigt werden. Die Entscheidung, ob diese gesetzlichen Voraussetzungen für die Herstellung des gesetzlichen Zustands vorliegen, ist eine Verwaltungssache iSd § 355 ASVG (SZ 62/117 = SSV NF 3/76; RIS Justiz RS0084076; RS0084088), über die nach Einspruch (§ 412 ASVG) der Landeshauptmann und in der Folge der Bundesminister zu entscheiden hat (§ 413 Abs 1 Z 2 ASVG;§ 415 ASVG). Anträge auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustands nach § 101 ASVG sind demnach nicht beim Sozialgericht, sondern beim Sozialversicherungsträger einzubringen (RIS Justiz RS0084098). Den Gerichten ist die Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 101 ASVG zwingend entzogen (RIS Justiz RS0084076 [T1]; VfSlg 13.824).

2. Die Wiederaufnahmsklage nach § 530 ZPO bezweckt die Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung, durch welche die Sache erledigt wird, wegen eines bei der Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen unterlaufenen (in den §§ 530 und 531 ZPO genannten) schwerwiegenden Fehlers und die Ersetzung der fehlerhaften Entscheidung durch eine fehlerfreie ( Fasching , Lehrbuch 2 Rz 2051). Welche Fehler auf diese Weise geltend gemacht werden können, ergibt sich aus den Tatbeständen der §§ 530 und 531 ZPO, etwa wenn die Entscheidung aufgrund einer gerichtlich strafbaren Handlung zu Stande kam oder neue Tatsachen oder Beweismittel aufgefunden wurden. Nicht zu den Wiederaufnahmsgründen nach § 530 ZPO gehört die Unvereinbarkeit einer Entscheidung und ihrer Rechtsfolgen mit der materiellen Rechtsordnung. Ein prozessuales Mittel zur Beseitigung der Rechtskraft (allein) aus diesem Grund ist in der österreichischen Prozessordnung nicht existent ( Fasching/Klicka in Fasching/Konecny 2 III § 411 Rz 146). So stellen auch der „wesentliche Irrtum über den Sachverhalt“ oder „das offenkundige Versehen“ iSd § 101 ASVG keinen Wiederaufnahms oder Nichtigkeitsgrund dar. Lässt sich der behauptete Sachverhalt von vornherein unter keinen der Wiederaufnahmsgründe der §§ 530 und 531 ZPO unterordnen, ist die Klage zurückzuweisen.

3. Nach § 2 Abs 1 ASGG sind soweit nichts anderes angeordnet ist die für die Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen geltenden Vorschriften anzuwenden. Es sind demnach die JN, ZPO, EO und das GOG anzuwenden, soweit nicht im ASGG etwas anderes angeordnet ist (RIS Justiz RS0085459). Das Verfahren für Sozialrechtssachen hat sich gemäß § 64 ASGG neben dem für Arbeits und Sozialrechtssachen geltenden I. Abschnitt des ASGG im Übrigen nach den Sondernormen des III. Abschnitts zu richten. Aus diesem ergeben sich zur Wiederaufnahmsklage keine Sondervorschriften, sodass diese Klage im Rahmen der §§ 530 ff ZPO und den von Lehre und Rechtsprechung hiezu entwickelten Grundsätzen zulässig ist (10 ObS 286/01h). Die mit Wiederaufnahmsklage vorgebrachten Aufhebungsgründe müssen sich auf das gerichtliche Verfahren beziehen. Insbesondere müssen die neuen Tatsachen als Beweismittel (§ 530 Abs 1 Z 7 ZPO) die vom gerichtlichen Urteil zu berücksichtigende Entscheidungsgrundlage betreffen ( Fasching/Klicka in Tomandl , SV System, 15. ErgLfg 771).

4. Die Sonderregeln im ASGG erklären sich vor allem aus der speziellen Natur der Ansprüche, die meist existentielle Bedürfnisse von Arbeitnehmern und Sozialversicherten berühren, weshalb der Gesetzgeber dieser Gruppe besonderen Schutz angedeihen lässt ( Neumayr in Neumayr/Reissner Zeller Kommentar § 3 ASGG Rz 3). Hält man sich diese Zielsetzung vor Augen, kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, er sei sich bei Schaffung des III. Abschnitts des ASGG darüber nicht bewusst gewesen, dass der „wesentliche Irrtum über den Sachverhalt“ oder „das offenkundige Versehen“ iSd § 101 ASVG keinen Wiederaufnahmsgrund nach den §§ 530 f ZPO darstellen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Nichterwähnung der Wiederaufnahmsklage im III. Abschnitt des ASGG vom Gesetzgeber bewusst erfolgte, um zu bewirken, dass auch im Sozialrechtsverfahren eine Durchbrechung der Rechtskraft im Wege der Wiederaufnahmsklage ausschließlich aus den in den §§ 530 f ZPO genannten Wiederaufnahmsgründen erfolgen soll. Es stellt deshalb keine Regelungslücke dar, wenn im Sozialrechtsverfahren die im § 101 ASVG genannten Gründe nicht als (weitere) Wiederaufnahmsgründe herangezogen werden. Eine Lücke im Rechtssinn ist nach einhelliger Auffassung nur dann gegeben, wenn die Regelung eines Sachbereichs keine Bestimmung für eine Frage enthält, die im Zusammenhang mit dieser Regelung an sich geregelt werden müsste, wenn das Gesetz also, gemessen an seiner eigenen Absicht und immanenten Teleologie, unvollständig, dh ergänzungsbedürftig ist und seine Ergänzung nicht etwa einer vom Gesetz gewollten Beschränkung widerspricht. Ist aber wie im vorliegenden Fall eine Unvollständigkeit nicht erkennbar, vermag die bloße Meinung des Rechtsanwenders, eine Regelung sei rechtspolitisch wünschenswert, einer ergänzenden Rechtsfindung durch Analogiebildung nicht als ausreichende Grundlage dienen (F. Bydlinski in Rummel , ABGB 3 Rz 2 zu § 7; Posch in Schwimann , ABGB 3 Rz 2 und 3 zu § 7). Es steht den Gerichten nicht zu, in einem solchen Fall gleichsam an die Stelle des Gesetzgebers zu treten und einen Regelungsinhalt rechtsfortbildend zu schaffen, dessen Herbeiführung ausschließlich dem Gesetzgeber obläge (10 ObS 312/98z mwN).

5. Der erkennende Senat teilt auch nicht die Ansicht des Revisionswerbers, dass ein solches Ergebnis der Auslegung der Bestimmung des § 64 ASGG im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz verfassungsrechtlich bedenklich wäre:

§ 357 ASVG zählt jene Bestimmungen des AVG auf, die im Verwaltungsverfahren vor dem Sozialversicherungsgsträger Anwendung finden sollen. Wesentliche Bestimmungen des AVG, insbesondere jene über die Gestaltung des Ermittlungsverfahrens gelten im Sozialversicherungsrecht jedoch nicht. Stellt sich aber nachträglich bei bescheidmäßigem Abspruch über eine Geldleistung ein zum Nachteil des Versicherten unterlaufener wesentlicher Irrtum oder ein offenkundiges Versehen heraus, soll die Herstellung des gesetzlichen Zustands auch ohne die strengen Voraussetzungen des Wiederaufnahmeverfahrens nach § 69 AVG jederzeit und ungehemmt durch formelle Bedenken möglich sein ().

In Leistungssachen wird hingegen Rechtsschutz durch die ordentlichen Gerichte als Sozialgerichte gewährt. Im sozialgerichtlichen Verfahren tritt mit Erhebung der Klage der Bescheid des Versicherungsträgers im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft (§ 71 Abs 1 ASGG). Die Entscheidungsbefugnis geht auf das Gericht über, das den durch die Klage geltend gemachten Anspruch selbstständig und unabhängig vom Verfahren vor dem Versicherungsträger auf Basis der Sach und Rechtslage bei Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz zu prüfen hat. Es gelten grundsätzlich die Vorschriften des allgemeinen Zivilprozesses, unter anderem über das Beweisverfahren. Für dieses normiert § 87 Abs 1 ASGG aus Motiven der Rechtsfürsorge die Amtswegigkeit der Beweisaufnahme. Das Gericht hat die Aufnahme aller notwendig erscheinenden Beweise von Amts wegen anzuordnen und darf sich nicht auf die angebotenen Beweise beschränken. Es soll das für die Entscheidung erforderliche Tatsachenmaterial von Amts wegen vollständig und richtig sowie unter Beachtung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes erhoben werden ( Neumayr in Neumayr/Reissner in ZellKomm § 87 ASGG Rz 2). Weiters gelten grundsätzlich die Vorschriften der ZPO über das Rechtsmittelverfahren und die Wiederaufnahmsklage.

Bei dem Verwaltungsverfahren vor dem Versicherungsträger und dem sozialgerichtlichen Verfahren handelt es sich demnach um unterschiedliche Verfahrensarten mit deutlich unterschiedlicher Ausgestaltung. Mit Rücksicht auf den öffentlich rechtlichen Charakter der Versicherungsleistung soll bei Vorliegen eines offenkundigen Versehens oder eines wesentlichen Irrtums durch § 101 ASVG doch der den wirklichen Verhältnissen entsprechende Zustand hergestellt werden (). Erging hingegen ein gerichtliches Urteil nach einem vom Amtswegigkeitsgrundsatz geprägten gerichtlichen Beweisverfahren, steht dem Versicherten nur die Wiederaufnahmsklage nach Maßgabe der ZPO zu, welche den „wesentlichen Irrtum über den Sachverhalt“ oder „das offenkundige Versehen“ iSd § 101 ASVG nicht als Wiederaufnahmsgrund vorsieht. Selbst wenn man den Verweis auf die Möglichkeit der Erhebung der Wiederaufnahmsklage nach den §§ 530 f ZPO nicht als einen dem § 101 ASVG gleichwertigen Ersatz ansieht (so Oberndorfer/Muzak in Tomandl , System des Sozialversicherungsrechts 22. ErgLfg 660), liegt die sachliche Rechtfertigung für diese Differenzierung in der unterschiedlichen Ausgestaltung der beiden Verfahrenssysteme und der höheren Richtigkeitsgewähr von gerichtlichen Entscheidungen (vgl Fink , Die sukzessive Zuständigkeit 552). Eine Verschiedenheit der Regeln, nach denen Entscheidungen zustandekommen, rechtfertigt wohl im Allgemeinen auch einen unterschiedlichen Bestandschutz ( R. Müller , Die Abgrenzung von Leistungs und Verwaltungsverfahren im Leistungsrecht der Sozialversicherung, DRdA 1986, 369 [373]). Der im Art 7 B VG verankerte Gleichheitsgrundsatz verpflichtet den Gesetzgeber aber bloß, an gleiche Tatbestände die gleichen Rechtsfolgen zu knüpfen. Wenngleich dieser Grundsatz willkürliche Differenzierungen verbietet, lässt er unterschiedliche Regelungen dort zu, wo sie durch entsprechende Unterschiede im Tatsächlichen sachlich gerechtfertigt sind (VfSlg 11.641). Von einer willkürlichen Differenzierung kann im vorliegenden Fall aufgrund der dargestellten Unterschiedlichkeiten nicht ausgegangen werden.

Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).