VfGH vom 27.02.1989, B858/87
Sammlungsnummer
11945
Leitsatz
Denkunmögliche Anwendung des § 16 Abs 1 lite AlVG idF nach Aufhebung einer Wortfolge dieser Bestimmung mit Erk. VfSlg. 10936/1986 und vor Inkrafttreten der Novelle BGBl. 615/1987 auf einen Untersuchungshäftling; Verletzung des Gleichheitsrechtes
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) ist verpflichtet, dem Beschwerdeführer zu Handen des Beschwerdevertreters die mit 11.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Beschwerdeführer bezog ab 19. Feber 1987 einen Pensionsvorschuß gemäß § 23 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 (AlVG), BGBl. 609, auf der Grundlage von Notstandshilfe. Ab befand er sich in Untersuchungshaft. Daraufhin stellte das Arbeitsamt Versicherungsdienste mit Bescheid vom den Bezug ab "mangels Arbeitswilligkeit" ein.
Das Landesarbeitsamt Wien gab der dagegen vom Beschwerdeführer erhobenen Berufung mit Bescheid vom keine Folge, änderte jedoch den Spruch des erstinstanzlichen Bescheides dahin, daß "der Anspruch auf Notstandshilfe ab gemäß § 38 in Verbindung mit § 16 Abs 1 lite AlVG ruht".
Der Berufungsbescheid wird wie folgt begründet:
"Gemäß § 38 AlVG sind, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf die Notstandshilfe die Bestimmungen über das Arbeitslosengeld sinngemäß anzuwenden.
Gemäß § 16 Abs 1 AlVG ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld u. a. während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe (lite).
Der Bezug Ihrer Notstandshilfe war vom Arbeitsamt deshalb eingestellt worden, weil Sie sich seit in Untersuchungshaft befanden, deshalb eine Voraussetzung für den Anspruch auf Arbeitslosengeld (hier: Notstandshilfe) - nämlich die Arbeitswilligkeit - weggefallen war.
In Ihrer dagegen eingebrachten Berufung wandten Sie ein, daß Sie sehr wohl arbeitswillig wären, und im übrigen der Aufenthalt in der Untersuchungshaft keinen Einstellungsgrund im Sinne des Arbeitslosenversicherungsgesetzes darstelle.
Wie das aufgrund Ihrer Berufung durchgeführte Ermittlungsverfahren ergeben hat, wurden Sie am zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt, wobei die bereits in Untersuchungshaft verbrachte Zeit auf diese elfmonatige Freiheitsstrafe angerechnet wurde. Sie verbüßen daher seit eine Freiheitsstrafe, weshalb der Ruhenstatbestand des § 16 Abs 1 lite AlVG gegeben ist."
2. Gegen den Berufungsbescheid des Landesarbeitsamtes wendet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des in (nicht näher bezeichneten) verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§16 Abs 1 lite AlVG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.
3. Das Landesarbeitsamt Wien legte die bezughabenden Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der begehrt wird, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.a) Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom , G18/86 (= VfSlg. 10935/1986) in § 12 Abs 3 lite AlVG die Wortfolge "oder auf behördliche Anordnung in anderer Weise angehalten wird" und in § 16 Abs 1 lite dieses Gesetzes die Wortfolge "sowie während einer anderweitigen auf behördlicher Anordnung beruhenden Anhaltung" wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz als verfassungswidrig aufgehoben. Für das Inkrafttreten der Aufhebung wurde eine Frist bis gesetzt.
b) Durch die AlVG-Novelle 1987, BGBl. 615 wurden mit ArtI Z 3 lita und Z 6 lita die aufgehobenen Gesetzesstellen wieder eingeführt, jedoch - einer vom Verfassungsgerichtshof im zitierten Erkenntnis gegebenen Anregung folgend - mit ArtI Z 9 dem § 23 ein Abs 4 angefügt, wonach bestimmten Angehörigen bei Vorliegen der Voraussetzung des § 16 Abs 1 lite eine Leistung in der Höhe der halben ruhenden Bevorschussung gebührt.
Diese Novellenbestimmungen traten mit in Kraft.
c) In der Zeit zwischen und stand sohin § 16 Abs 1 lite AlVG mit folgendem Wortlaut in Geltung:
"§16. (1) Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruht während
a) ......
e) der Verbüßung einer Freiheitsstrafe,
f) ......".
Auf die Notstandshilfe waren dem § 38 AlVG zufolge u.a. diese Bestimmungen anzuwenden. Nach dem damals geltenden § 23 AlVG gebührte im Falle des Ruhens des Anspruches auf Arbeitslosengeld und auf Notstandshilfe keine Bevorschussung von Leistungen aus der Pensionsversicherung.
2.a) Der Verfassungsgerichtshof hat seinerzeit nicht auch die auf die Freiheitsstrafen bezughabenden Wendungen aufgehoben, sondern sich auf die Aufhebung der die anderweitigen Anhaltungen (etwa die Untersuchungshaft) betreffenden Wortfolgen beschränkt, weil damals nur diese präjudiziell waren. Er hat jedoch zu erkennen gegeben, daß die zur Aufhebungen führenden Erwägungen gleicherweise auch auf die die Freiheitsstrafen behandelnden Bestimmungen zutreffen.
Dennoch sieht sich der Verfassungsgerichtshof nicht veranlaßt, von amtswegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser im Jahre 1987 geltenden Gesetzesstellen einzuleiten.
b) Eine Gesetzesbestimmung ist nämlich nur dann präjudiziell in der Bedeutung des Art 140 Abs 1 B-VG, wenn sie der Verfassungsgerichtshof im Anlaßfall anzuwenden hätte. Das ist nicht allein schon deshalb der Fall, weil die Behörde den in Beschwerde gezogenen Bescheid auf diese Vorschrift gestützt hat, sondern nur dann, wenn sie ihn wenigstens denkmöglich darauf zu gründen hatte (vgl. zB VfSlg. 4625/1963, 5373/1966, 8999/1980, B841/85).
c) Hier hat nun die belangte Behörde den Sachverhalt dem § 16 Abs 1 lite AlVG in der maßgebenden Fassung (s.o. II.1.c) denkunmöglich subsumiert.
Dem klaren Wortlaut dieser Gesetzesstelle zufolge ruhte der Anspruch auf Arbeitslosengeld nämlich nur "während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe". Die Leistung nach dem AlVG wurde dem Beschwerdeführer mit eingestellt, obgleich er sich damals in Untersuchungshaft befand, also keine Freiheitsstrafe verbüßte. Der Umstand, daß in der Folge die Untersuchungshaft auf die verhängte elfmonatige Freiheitsstrafe angerechnet wurde, macht die Untersuchungshaft nicht (rückwirkend) zur Freiheitsstrafe. Es war daher ausgeschlossen, auf den Beschwerdeführer § 16 Abs 1 lite AlVG in der maßgebenden Fassung (II.1.c) anzuwenden.
3.a) Damit aber ist auch das Schicksal des angefochtenen Bescheides besiegelt. Auf § 16 Abs 1 lite kann er - wie dargetan - denkmöglich nicht gestützt werden. Eine andere ihn tragende Gesetzesstelle findet sich nicht. Letztlich läuft der bekämpfte Bescheid darauf hinaus, daß er eine Rechtslage fingiert, die vom Verfassungsgerichtshof als dem Gleichheitsgrundsatz widersprechend erkannt wurde.
b) Der Beschwerdeführer wurde also durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt. Der Bescheid war mithin aufzuheben.
4. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG.
In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000 S enthalten.