VfGH vom 28.11.2005, B849/05
Sammlungsnummer
17701
Leitsatz
Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch die Streichung einer Arzneispezialität aus dem Grünen Bereich des Erstattungskodex; keine Bedenken gegen die gesetzlichen Grundlagen; aufschiebende Wirkung für Beschwerden gegen die beabsichtigte Streichung ex lege; keine verfassungsrechtlich relevanten Verfahrensmängel bzw Sanierung derselben
Spruch
Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger entschied am , die von der beschwerdeführenden Gesellschaft vertriebenen Arzneispezialitäten "Supressin 2 mg Tabl." und "Supressin 4 mg Tabl." mit Wirkung vom aus dem Grünen Bereich des Erstattungskodex zu streichen. Diese - der beschwerdeführenden Partei am zugestellten - Entscheidungen wurden jeweils damit begründet, dass nunmehr gleichwertige Produkte mit niedrigeren Fabriks-/Depotabgabepreisen vorlägen, weshalb der Verbleib beider Arzneispezialitäten im Grünen Bereich des Erstattungskodex aus wirtschaftlicher Sicht nicht mehr gerechtfertigt sei.
Mit Bescheid vom , der beschwerdeführenden Partei in schriftlicher Ausfertigung zugestellt am , wies die Unabhängige Heilmittelkommission die gegen diese Entscheidungen erhobenen Beschwerden ab.
Gegen diesen - keinem weiteren Rechtszug unterliegenden (vgl. § 351h Abs 5 ASVG) - Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde; darin behauptet die beschwerdeführende Partei, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein, und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.
Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift; darin verteidigt sie den angefochtenen Bescheid und beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
Der beteiligte Hauptverband erstattete eine schriftliche Äußerung, in welcher den Beschwerdevorwürfen ebenfalls entgegengetreten wird.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Gemäß § 31 Abs 3 Z 12 ASVG (in der im vorliegenden Fall maßgebenden Fassung der 61. Novelle, Art 1 des 2. Sozialversicherungs-Änderungsgesetzes 2003 - 2. SVÄG 2003, BGBl. I Nr. 145) obliegt dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger die Herausgabe eines Erstattungskodex für die Abgabe von Arzneispezialitäten für Rechnung eines Sozialversicherungsträgers. Der Erstattungskodex ist in drei Bereiche unterteilt ("rot", "gelb", "grün"). Arzneispezialitäten, deren Abgabe ohne ärztliche Bewilligung des chef- und kontrollärztlichen Dienstes der Sozialversicherungsträger auf Grund ärztlicher Verschreibung medizinisch und gesundheitsökonomisch sinnvoll und vertretbar ist, sind im Grünen Bereich anzuführen (§31 Abs 3 Z 12 litc ASVG).
1.2. Gemäß § 351f Abs 1 ASVG hat der Hauptverband eine Arzneispezialität aus dem Erstattungskodex zu streichen, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme nicht mehr erfüllt sind. Vor dieser Entscheidung ist dem vertriebsberechtigten Unternehmen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 30 Tagen zu geben.
Nähere Bestimmungen über das Verfahren zur Streichung von Arzneispezialitäten aus dem Erstattungskodex trifft die auf § 351g Abs 1 ASVG gestützte - von der Bundesministerin für Gesundheit und Frauen mit Bescheid vom genehmigte - Verfahrensordnung des Hauptverbandes zur Herausgabe des Erstattungskodex - VO-EKO (Amtliche Verlautbarung der österreichischen Sozialversicherung im Internet Nr. 47/2004). Diese Verordnung ist mit in Kraft getreten (§56 Abs 1 VO-EKO); soweit das Verfahren - wie hier - vor diesem Tag eingeleitet worden ist, ist die bisherige Verfahrensordnung zur Herausgabe des Heilmittelverzeichnisses - VO-HMV (Amtliche Verlautbarung der österreichischen Sozialversicherung im Internet Nr. 100/2002) weiterhin anzuwenden (§58 Abs 1 VO-EKO), allerdings mit der Maßgabe, dass mit - auch in allen laufenden Verfahren - an die Stelle des früheren Fachbeirates für Arzneimittelwesen die "Heilmittel-Evaluierungs-Kommission" tritt (§58 Abs 2 VO-EKO).
Die im vorliegenden Fall maßgebende Bestimmung des § 12 Abs 1 VO-HMV sieht vor, dass der Hauptverband, soweit er aus pharmakologischer, medizinisch-therapeutischer und/oder ökonomischer Sicht Bedenken gegen den Verbleib einer Arzneispezialität im Erstattungskodex hegt, dies dem betroffenen vertriebsberechtigten Unternehmen unverzüglich schriftlich mitzuteilen hat. Dem Unternehmen steht es frei, dazu binnen 30 Tagen schriftlich Stellung nehmen (§12 Abs 3 VO-HMV). Soweit diese schriftliche Stellungnahme nicht ausreicht, die Bedenken des Hauptverbandes auszuräumen, ist die Angelegenheit einem "Vorprüfungsverfahren" zu unterziehen und der Heilmittel-Evaluierungs-Kommission vorzulegen (§12 Abs 5 VO-HMV). Im Vorprüfungsverfahren erstellt der Hauptverband einen Vorschlag für eine (von der Heilmittel-Evaluierungskommission zu beschließende) Empfehlung. Die zu diesem Vorschlag erstattete schriftliche Stellungnahme des vertriebsberechtigten Unternehmens muss spätestens 16 Tage vor der Sitzung der Heilmittel-Evaluierungs-Kommission beim Hauptverband einlangen (§4 Abs 1 VO-HMV). Der Hauptverband trifft seine Entscheidung auf Grund der Empfehlung der Heilmittel-Evaluierungs-Kommission (§5 Abs 1 VO-HMV); die Entscheidung ist dem vertriebsberechtigten Unternehmen schriftlich mitzuteilen (§5 Abs 2 VO-HMV).
1.3. Über Beschwerden des vertriebsberechtigten Unternehmens, dessen Arzneispezialität aus dem Erstattungskodex gestrichen werden soll, entscheidet die Unabhängige Heilmittelkommission (§351i Abs 1 Z 2 ASVG). Die Beschwerde hat aufschiebende Wirkung (§351i Abs 3 ASVG).
Gemäß § 351i Abs 3 ASVG können sich Beschwerden an diese Behörde "nur auf Sachverhalte und Umstände beziehen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Hauptverbandes vom vertriebsberechtigten Unternehmen sowie vom Hauptverband bereits eingebracht worden sind. Die Unabhängige Heilmittelkommission darf sich bei ihrer Entscheidungsfindung nicht auf Sachverhalte und Umstände stützen, die nach der Entscheidung des Hauptverbandes vom vertriebsberechtigten Unternehmen sowie vom Hauptverband eingebracht werden."
Gemäß § 351i Abs 4 ASVG hat die Unabhängige Heilmittelkommission die Entscheidung des Hauptverbandes aufzuheben, "wenn der Hauptverband im Verfahren sein Ermessen überschritten oder nicht nachvollziehbar ausgeübt hat; dabei sind alle in der Beschwerde vorgebrachten Argumente zu würdigen."
2.1. Entgegen der Beschwerde ist aus der Sicht des Art 6 Abs 1 EMRK nichts dagegen einzuwenden, dass die Unabhängige Heilmittelkommission auf eine bloß nachprüfende Kontrolle der Entscheidungen des Hauptverbandes beschränkt ist; die in der Beschwerde ob der Verfassungsmäßigkeit des § 351i Abs 3 und 4 ASVG geäußerten Bedenken sind daher nicht begründet (vgl. jüngst B446,447/05).
2.2. Die beschwerdeführende Partei kritisiert überdies - unter Hinweis auf die mit VfSlg. 11.196/1986 beginnende, ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes - die "mangelnde faktische Effizienz" der durch § 351i ASVG eingeräumten Beschwerde an die Unabhängige Heilmittelkommission; in diesem Zusammenhang regt sie die amtswegige Prüfung jener gesetzlichen Bestimmungen an, die es dem Hauptverband erlauben, "eine Arzneispezialität durch Änderung des Erstattungskodex aus diesem zu streichen, bevor die dem vertriebsberechtigten Unternehmen zur Verfügung stehenden Rechtsmittelfristen abgelaufen sind".
2.2.1. Diesem Vorbringen ist zunächst entgegenzuhalten, dass der Beschwerde des vertriebsberechtigten Unternehmens gegen die beabsichtigte Streichung einer Arzneispezialität ex lege aufschiebende Wirkung zukommt (§351i Abs 3 dritter Satz ASVG). Dieser Bestimmung ist im gegebenen Zusammenhang dieselbe Bedeutung beizumessen wie jener des § 64 Abs 1 AVG (dazu etwa Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht8 [2003] Rz 473): Demnach darf die auf Streichung lautende Entscheidung des Hauptverbandes erst mit Eintritt ihrer Unanfechtbarkeit (dh. - abgesehen von den Fällen des Beschwerdeverzichts oder der Zurückziehung der Beschwerde - mit Ablauf der Beschwerdefrist des § 351i Abs 3 erster Satz ASVG bzw. mit Erlassung des die Beschwerde abweisenden Bescheides der Unabhängigen Heilmittelkommission) durch entsprechende Änderung des Erstattungskodex vollzogen werden (vgl. ). Eine Änderung des Erstattungskodex hat überdies (vorläufig) dann zu unterbleiben, wenn der Verfassungsgerichtshof der Beschwerde gegen den Bescheid der Unabhängigen Heilmittelkommission aufschiebende Wirkung zuerkannt hat (vgl. ).
Soweit daher der Hauptverband - wie hier - in seiner Entscheidung festgelegt hat, an welchem Tag die Streichung wirksam werden soll, so erweist sich dieser Ausspruch nur für den Fall als beachtlich, dass die Entscheidung des Hauptverbandes vor diesem Termin unanfechtbar und vollstreckbar geworden ist. Die in Rede stehenden Arzneispezialitäten sind auch erst mit Wirkung vom aus dem Grünen Bereich des Erstattungskodex gestrichen worden (vgl. Pkt. A3 der 7. Änderung des Erstattungskodex, Amtliche Verlautbarung der österreichischen Sozialversicherung im Internet Nr. 71/2005).
2.2.2. Nach Ansicht der beschwerdeführenden Partei werde durch das Fehlen eines "Systems", "das eine vorschnelle Änderung des Erstattungskodex verhindert", überdies der durch das Recht der Beschwerde gemäß Art 144 B-VG vermittelte Rechtsschutz "substantiell entwertet": Da es dem Hauptverband möglich sei, die betreffende Arzneispezialität gleich nach Erlassung des abweisenden Bescheides der Unabhängigen Heilmittelkommission - dh. noch vor Ablauf der Beschwerdefrist des § 82 Abs 1 VfGG - aus dem Erstattungskodex zu streichen, stehe das vertriebsberechtigte Unternehmen vor der Entscheidung, entweder "innerhalb kürzester Zeit" eine (übereilt und daher möglicherweise nicht zweckentsprechend verfasste) Bescheidbeschwerde, verbunden mit einem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung (§85 Abs 2 VfGG), einzubringen oder aber die "verheerenden wirtschaftlichen Folgen" der Streichung der Arzneispezialität bis zum Abschluss des verfassungsgerichtlichen Verfahrens in Kauf zu nehmen.
Den mit diesen Ausführungen angedeuteten - der Sache nach offenbar gegen § 85 VfGG gerichteten - Bedenken ist schon deshalb nicht nachzugehen, weil die beschwerdeführende Partei gar nicht beantragt hat, ihrer Beschwerde gemäß § 85 Abs 2 VfGG aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
3. Die beschwerdeführende Partei rügt schließlich, dass ihr im Streichungsverfahren - entgegen § 12 VO-HMV - nicht erst das Bedenken des Hauptverbandes, sondern gleich das Ergebnis der Vorprüfung iS des § 4 Abs 1 VO-HMV zur Stellungnahme mitgeteilt worden sei. Auch habe sich der Hauptverband geweigert, der beschwerdeführenden Partei Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gewähren. Diese - dem Verfahren vor dem Hauptverband anhaftenden - Mängel seien in der an die Unabhängige Heilmittelkommission gerichteten Beschwerde geltend gemacht, von dieser aber nicht wahrgenommen worden. Die belangte Behörde habe daher bei Erlassung des angefochtenen Bescheides Willkür geübt und die Bestimmungen des § 12 VO-HMV denkunmöglich angewendet; deshalb sei die beschwerdeführende Partei in ihren verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art7 Abs 1 B-VG, Art 2 StGG) und auf Freiheit der Erwerbsausübung (Art6 StGG) verletzt worden.
Mit diesem Vorbringen lässt die beschwerdeführende Partei außer Acht, dass Mängel des Verfahrens vor dem Hauptverband im (Beschwerde-)Verfahren vor der belangten Behörde, aber auch schon durch die Kenntnisnahme von der Entscheidung des Hauptverbandes, geheilt werden können (vgl. allgemein zur Sanierbarkeit von Mängeln des Verfahrens erster Instanz zB ; , 2001/05/0024; jeweils mwN). Im vorliegenden Fall sind der beschwerdeführenden Partei (spätestens) mit den Entscheidungen des Hauptverbandes vom alle für die beabsichtigte Streichung der Arzneispezialitäten aus dem Erstattungskodex relevanten Umstände bekanntgegeben worden. Die beschwerdeführende Partei ist in ihrer an die belangte Behörde gerichteten Beschwerde auf die vom Hauptverband herangezogene Studie (kritisch) eingegangen, und die belangte Behörde hat die gegen diese Studie (bzw. die vom Hauptverband daraus gezogenen Schlüsse) vorgetragenen Argumente im angefochtenen Bescheid behandelt. Die dem Hauptverband nach den Beschwerdebehauptungen unterlaufenen Verfahrensfehler wären damit aber als saniert anzusehen.
Es kann daher offenbleiben, ob der Hauptverband bei seiner Entscheidung nach dem AVG vorzugehen und somit auch die Vorschriften des § 17 AVG über die Akteneinsicht zu beachten hatte und ob der angefochtene Bescheid überhaupt in das von der beschwerdeführenden Partei geltend gemachte Recht auf Freiheit der Erwerbsausübung eingreift.
4. Die behaupteten Rechtsverletzungen liegen sohin nicht vor. Das Beschwerdeverfahren hat auch nicht ergeben, dass der angefochtene Bescheid die beschwerdeführende Partei in einem anderen, von ihr nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt hätte.
Die beschwerdeführende Partei ist somit durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.
Ob der angefochtene Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie hier - gegen den Bescheid einer Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag richtet, der gemäß Art 133 Z 4 B-VG nicht mit Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof bekämpft werden kann (zB VfSlg. 3975/1961, 7121/1973, 7654/1975, 9541/1982 mwN).
Die Beschwerde war daher abzuweisen.
5. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.