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OGH vom 06.08.2003, 13Os41/03

OGH vom 06.08.2003, 13Os41/03

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Danek, Hon. Prof. Dr. Schroll, Dr. Kirchbacher und Dr. Schwab als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Weber als Schriftführer, in der Strafsache gegen Robin M***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluss des Jugendgerichtshofes Wien als Beschwerdegericht vom , AZ 1 Bl 11/02, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Tiegs, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

In der Strafsache des Jugendgerichtshofes Wien gegen den am geborenen Robin M***** wegen § 127 StGB, AZ 13 U 78/02y, fasste die erkennende Richterin - in Anwesenheit einer Vertreterin der Staatsanwaltschaft - in der Hauptverhandlung vom den Beschluss auf vorläufige Einstellung des Strafverfahrens gemäß § 90f Abs 1 und 2 StPO iVm § 90b StPO für eine Probezeit von zwei Jahren unter Auferlegung der Pflicht, zum nächstmöglichen Termin an Informationsabenden der Wiener Jugendgerichtshilfe für jugendliche Ladendiebe teilzunehmen (S 91 f). Eine (verfehlt) mit datierte Beschlussausfertigung (ON 7) wurde der Staatsanwaltschaft am zugestellt (AS 1c). Die am von der Anklagebehörde eingebrachte Beschwerde (ON 8) gegen diesen Beschluss wurde vom Jugendgerichtshof Wien als Beschwerdegericht mit Beschluss vom , AZ 1 Bl 11/02, als verspätet zurückgewiesen, weil die 14-tägige Beschwerdefrist bereits mit der mündlichen Verkündung des Beschlusses (in der Hauptverhandlung vom ) und nicht erst mit der Zustellung der Ausfertigung an die Staatsanwaltschaft zu laufen begonnen habe. Nach Ansicht des Generalprokurators verletzt der Zurückweisungsbeschluss das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 90l Abs 3 (iVm §§ 90f Abs 1 sowie 90b) und 77 Abs 1 StPO. In der deswegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes wird ausgeführt:

Die Beschwerdeentscheidung des Jugendgerichtshofes Wien ist - wenigstens bei wörtlicher Auslegung der §§ 90l Abs 3 und 77 Abs 1 StPO - mit dem Gesetz nicht in Einklang zu bringen:

Gemäß § 77 Abs 1 StPO (idF BGBl I 2000/26) erfolgt die Bekanntmachung gerichtlicher Erledigungen "durch mündliche Verkündung, durch Zustellung einer Ausfertigung (§ 79 GOG), durch Telefax oder im elektronischen Rechtsverkehr nach Maßgabe des § 89a GOG". Rechtsmittelfristen beginnen grundsätzlich (schon) mit der mündlichen Verkündung der Entscheidung zu laufen; dies allerdings nur, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt (Foregger/Fabrizy StPO8 Rz 1; Mayerhofer StPO4 E 2a, jeweils zu § 77).

Die Bestimmung des § 90l Abs 3 StPO, wonach der Staatsanwaltschaft ua gegen einen Beschluss, mit dem ein Strafverfahren nach § 90f Abs 1 StPO iVm § 90b StPO vorläufig eingestellt wird, die binnen 14 Tagen "nach Zustellung" einzubringende Beschwerde an den übergeordneten Gerichtshof zusteht, kann als solche (abweichende) Regelung verstanden werden, wonach in diesem Fall der Lauf der Rechtsmittelfrist (nicht schon mit einer allfälligen Verkündung, sondern) erst mit der tatsächlichen Ausfolgung der Beschlussausfertigung an die Staatsanwaltschaft (bzw deren Einsichtnahme in die Urschrift [§ 78 StPO]) beginnen kann. Die Generalprokuratur verkennt allerdings nicht, dass ein eindeutiger Hinweis auf einen diesem Verständnis entsprechenden gesetzgeberischen Willen den Materialien zur Strafprozessnovelle 1999 nicht zu entnehmen ist (s insbes EBRV 1581 BlgNR 20. GP, 30 ganz oben) und ein Beginn des Fristenlaufes für die Beschwerde mit der Verkündung des Beschlusses in der Hauptverhandlung per analogiam aus § 90l Abs 3 StPO ableitbar wäre.

Gegen diese vom Jugendgerichtshof Wien (der Sache nach) vertretene Ansicht spricht jedoch der (in der Aushändigung eines Schriftstückes oder sonstigen Gegenstandes bestehende) Bedeutungsinhalt des Wortes "Zustellung", welches der Gesetzgeber allgemein keineswegs als Synonym für "Verkündung" oder für (den Oberbegriff) "Bekanntmachung" verwendet hat (auf die Vermeidung der Vermengung mit dem Überbegriff bedacht zeigte er sich auch hinsichtlich der durch das Budgetbegleitgesetz 2000, BGBl I/26, neu eingeführten Bekanntmachungsformen - vgl insbes § 79 Abs 2 StPO nF); darüber hinaus sollte die Erwägung, dass die Ausführung eines Rechtsmittels durch Zustellung einer die vollständige Begründung enthaltenden Ausfertigung wesentlich erleichtert wird, (anders als in Fällen besonderer Dringlichkeit zB bei einem im Zuge einer Haftverhandlung gefassten Beschluss gemäß § 182 Abs 4 StPO) in Regelfällen wie dem vorliegenden den Ausschlag geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Die in § 90l StPO getroffenen Regelungen gelten für unterschiedliche Verfahrensabschnitte.

Während in § 90l StPO der erste Satz des Abs 1, wonach der Staatsanwalt nach dem IXa. Hauptstück der StPO von der Verfolgung zurücktreten kann, ausdrücklich Fälle zum Gegenstand hat, in denen noch nicht Anklage erhoben wurde, der zweite Satz, wonach der Staatsanwalt danach gegebenenfalls bei Gericht beantragen muss, das Verfahren einzustellen, den Abschnitt von der Anklageerhebung bis zum Schluss der Hauptverhandlung betrifft (wie der Bezug auf § 90b StPO zeigt) und der erste Satz in Abs 2 die funktionelle Zuständigkeit für alle Verfahrensstadien regelt, in denen das Gericht in erster Instanz Beschlüsse nach dem genannten Hauptstück zu fassen hat, somit für das Verfahren nach Einleitung der Voruntersuchung oder Erhebung der Anklage bis zum Schluss der Hauptverhandlung (§ 90b StPO), beziehen sich § 90l Abs 2 zweiter und dritter Satz, Abs 3 und Abs 4 StPO nur auf das Verfahren vor der Hauptverhandlung, nicht auf diese selbst. Für die Annahme derart begrenzter Geltung des § 90l Abs 2 zweiter und dritter Satz, Abs 3 und Abs 4 StPO spricht zunächst, dass diese Bestimmungen ausdrücklich von einer „Zustellung" und damit nicht von jeder Form der Bekanntmachung (vgl §§ 77 Abs 1, 78 StPO), sondern nur von einer solchen ausgehen, die dem Gesetz für Fälle der Bekanntmachung an in der Hauptverhandlung Anwesende fremd ist. Zudem kommt in § 90l Abs 3 letzter Satz StPO zum Ausdruck, dass sich § 90l Abs 2 zweiter und dritter Satz und Abs 3 StPO nur auf Beschlüsse beziehen, die vor der Hauptverhandlung ergehen. Demnach hat eine Beschwerde gegen Beschlüsse, mit denen ein Strafverfahren nach dem IXa. Hauptstück der StPO eingestellt oder dessen Einleitung abgelehnt oder ein Antrag auf Einstellung des Strafverfahrens abgewiesen wird (um solche Beschlüsse geht es abgesehen von Mitteilungen über beabsichtigtes diversionelles Vorgehen in § 90l Abs 2 zweiter und dritter Satz und Abs 3 StPO), die Wirkung, dass „die Durchführung" einer Hauptverhandlung nicht zulässig ist, solange über die Beschwerde noch nicht entschieden wurde. Damit ist § 90l Abs 3 letzter Satz StPO gezielt auf das Verfahren vor Beginn der Hauptverhandlung bezogen (RV 1581 BlgNR 20. GP 30 Punkt 3.3.4.). Die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gemäß § 90l Abs 4 StPO gegen die nachträgliche Einleitung oder Fortsetzung des Strafverfahrens zeigt, dass auch diese Bestimmung nicht die Hauptverhandlung meint.

Weil sich (auch) § 90l Abs 2 zweiter Satz und Abs 3 erster Satz StPO nicht auf die Hauptverhandlung beziehen, aber hinsichtlich des Gebotes der Anhörung des Staatsanwaltes vor diversionellem Vorgehen des Gerichtes (vgl § 90l Abs 2 zweiter Satz StPO) und der Befugnis des Staatsanwaltes zur Anfechtung eines Beschlusses auf Einstellung des Verfahrens nach dem IXa. Hauptstück der StPO sowie der hiefür offenstehenden Frist (vgl § 90l Abs 3 erster Satz StPO) ein nach Verfahrensstadien – vor und in der Hauptverhandlung – differenzierender Regelungsplan nicht erkennbar ist, liegt insoweit für das Stadium der Hauptverhandlung eine planwidrige Gesetzeslücke vor.

Keine solche Lücke besteht übrigens, wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, in Hinsicht auf Fälle, in denen ein Antrag auf Einstellung des Verfahrens nach dem IXa. Hauptstück der StPO in der Hauptverhandlung abgelehnt wird. Eine Beschwerde steht dagegen nicht zu (RV aaO). Ergeht ein Schuldspruch, obwohl die Voraussetzungen einer diversionellen Erledigung vorliegen, so ist der Nichtigkeitsgrund nach § 281 Abs 1 Z 10a StPO (§§ 468 Abs 1 Z 4, 489 Abs 1 StPO) oder § 345 Abs 1 Z 12a StPO gegeben.

Die aufgezeigte Lücke betreffend den Fall eines Beschlusses auf Einstellung nach dem IXa. Hauptstück der StPO in der Hauptverhandlung lässt sich durch analoge Heranziehung der in § 90l Abs 2 zweiter Satz und Abs 3 erster Satz StPO getroffenen Regelungen schließen. Dabei ist, weil die für die Hauptverhandlung vorgesehene Form der Bekanntmachung von Entscheidungen die mündliche Verkündung ist (vgl Bertel/Venier StPO7 Rz 183), an diese und nicht an die Zustellung anzuknüpfen. Daraus ergibt sich:

Auch in der Hauptverhandlung hat das Gericht, wenn es diversionell vorgehen will, vor einer Mitteilung an den Verdächtigen, dass ein solches Vorgehen beabsichtigt sei (§§ 90c Abs 4, 90d Abs 4, 90f Abs 3, jeweils iVm § 90b StPO), und vor einem Beschluss, mit dem das Verfahren nach den Bestimmungen des IXa. Hauptstückes der StPO eingestellt wird, den Staatsanwalt zu hören.

Ergeht in der Hauptverhandlung ein Beschluss auf Einstellung des Verfahrens nach dem IXa. Hauptstück der StPO, ist diese Entscheidung mündlich zu verkünden. Dagegen steht dem Staatsanwalt die binnen 14 Tagen nach Verkündung einzubringende Beschwerde an den übergeordneten Gerichtshof zu.

Demnach war der angefochtene Beschluss des Jugendgerichtshofes Wien als Beschwerdegericht nicht als gesetzwidrig zu beurteilen und die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zu verwerfen. Im Zusammenhang mit der Lückenschließung ist noch Folgendes zu erwähnen:

1. Gemäß § 3 StPO hat das Gericht den Beschuldigten über sein Recht zu belehren, eine schriftliche Ausfertigung der Entscheidung zu erhalten (§ 77 Abs 2 zweiter Satz StPO).

2. Das Beschwerderecht des Staatsanwaltes hängt nicht vom Inhalt seiner Stellungnahme zu einem vom Gericht in Aussicht genommenen diversionellen Vorgehen ab (15 Os 126/02 = EvBl 2003/72).

3. Das Gesetz verlangt im Fall einer Beschwerde nur die Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung und die Erklärung, diese anzufechten, aber keine Begründung des solcherart ergriffenen Rechtsmittels. Zu einer Begründung ist der Beschwerdeführer berechtigt, nicht aber verpflichtet (13 Os 122/02 = RZ 2003/EÜ 175).

4. Weil bei der Beschwerde – anders als bei der Nichtigkeitsbeschwerde (§§ 285 Abs 1 zweiter Satz, 285a Z 2 StPO) – keine Pflicht zur Begründung besteht, kennt das Gesetz bei diesem Rechtsmittel keine "Einmaligkeit" in dem Sinn, dass Beschwerdevorbringen nur in einer einzigen Schrift erstattet werden dürfte.

Hat etwa der Staatsanwalt die Beschwerde im Hinblick auf die bei Verkündung des Beschlusses gegebene Begründung schon schriftlich ausgeführt und stellt sich für ihn nach Kenntnisnahme von der (im Hinblick auf die Anfechtung gebotenen) Entscheidungsausfertigung heraus, dass diese weitere Argumente enthält, auf die es zu erwidern gilt, so kann er in einer zusätzlichen Schrift darauf eingehen. Als Beschwerdevorbringen sind diese weiteren Einwände zwar nur dann anzusehen, wenn sie innerhalb der Beschwerdefrist von 14 Tagen ab Verkündung erstattet werden.

Sowohl das Oberlandesgericht als auch – da ein gesetzgeberischer Wille zu unterschiedlicher Gestaltung des Beschwerdeverfahrens in dieser Hinsicht nicht erkennbar ist – das Landesgericht als Beschwerdegericht haben aber bei der Entscheidung über die Beschwerde gemäß § 114 Abs 2 zweiter Satz StPO auch auf Umstände Rücksicht zu nehmen, die nach dem angefochtenen Beschluss eingetreten oder bekanntgeworden sind, daher auch auf Umstände, die durch ein Vorbringen nach der 14-tägigen Beschwerdefrist (aber vor Entscheidung über das Rechtsmittel) aufgezeigt werden.