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VfGH vom 29.11.1994, B785/94

VfGH vom 29.11.1994, B785/94

Sammlungsnummer

13947

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Verkennen der Rechtslage in einem entscheidenden Punkt bei Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Ziviltechniker wegen Verstoß gegen die Standesregeln; Anwendung des zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Bescheides statt des bei Erlassung des Berufungsbescheides geltenden Rechts nach Änderung der Rechtslage

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Die Bundes-Architekten- und Ingenieurkonsulentenkammer ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Vertreters die mit S 18.000,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist Mitglied der Ingenieurkammer (nunmehr: der Architekten- und Ingenieurkonsulentenkammer) für Steiermark und Kärnten. Mit dem mit datierten und am zugestellten Erkenntnis des Disziplinarsenates der genannten Kammer wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, gegen die Bestimmungen der Punkte 4.1. und 5.1. der Standesregeln der Österreichischen Ziviltechniker verstoßen und ein Disziplinarvergehen nach § 48 Abs 1 des Ingenieurkammergesetzes, BGBl. 71/1969 (IKG), begangen zu haben.

Der gegen diesen Bescheid vom Beschwerdeführer erhobenen Berufung hat die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten bei der Bundes-Ingenieurkammer mit Erkenntnis vom nicht Folge gegeben.

2. Gegen diesen Berufungsbescheid richtet sich die auf Art 144 Abs 1 B-VG gestützte Beschwerde, in welcher die Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, in der Sache aber keine Äußerung erstattet.

II. Der Beschwerde kommt im Ergebnis Berechtigung zu, ohne daß auf ihr Vorbringen im einzelnen einzugehen ist:

1. Die belangte Berufungskommission hat sich im angefochtenen Bescheid auf das - in der Berufung herangezogene - Erkenntnis VfSlg. 12481/1990 gestützt. Mit diesem Erkenntnis hat der Verfassungsgerichtshof Teile der §§6 und 31 IKG wegen Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Erwerbsausübungsfreiheit durch die Ermächtigung zur generellen Festlegung verbindlicher Mindestgebühren für jede Ziviltechnikerleistung aufgehoben; zugleich sprach der Gerichtshof aus, daß die Aufhebung mit Ablauf des in Kraft tritt.

In diesem Zusammenhang führte die belangte Behörde aus:

"Der Berufungswerber kann sich auch nicht mit Erfolg auf das Grundrecht der Erwerbsausübungsfreiheit berufen, da dieses Grundrecht unter Gesetzesvorbehalt steht (Artikel 6, Staatsgrundgesetz) und die gesetzlichen normierten Ausnahmen Grundlagen für die Verurteilung bildeten. Maßgeblich für die Überprüfung einer Entscheidung im Berufungsverfahren ist die Rechtslage zum Zeitpunkt des Urteils I. Instanz. Am , an diesem Tag wurde das Erkenntnis I. Instanz gefällt, waren ebenso wie im Tatzeitpunkt die mehrfach zitierten Bestimmungen des § 31 IKG geltendes Recht."

Sodann gelangte die belangte Berufungskommission zu folgenden für sie entscheidungsrelevanten Schlußfolgerungen:

"Anders stellt sich die Rechtslage nach dem dar, da mit diesem Tag die hier in Frage kommenden Ausnahmen vom Grundsatz der Erwerbsausübungsfreiheit aufgehoben wurden. Nach diesem Zeitpunkt hätte ein Schuldspruch wegen der Verletzung der Verpflichtung zur Kollegialität und der Verpflichtung zur Unterstützung der Ingenieurkammer im Ergebnis zur Folge, daß das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom umgangen würde. Ab diesem Zeitpunkt könnte die Unterschreitung von Gebührenauskünften nicht mehr als Verstoß gegen die Punkte 4.1 oder 5.1. der Standesregeln geahndet werden.

Aus den angeführten Erwägungen war der Berufung ein Erfolg zu versagen."

2. Nach § 64 Abs 6 IKG ist die Berufungskommission - abgesehen von einer hier nicht relevanten Verhängung einer strengeren Strafe - berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener des Disziplinarausschusses zu setzen und das angefochtene Erkenntnis nach jeder Richtung abzuändern. Diese - im Wortlaut dem zweiten Satz des § 66 Abs 4 AVG entsprechende - Vorschrift bedeutet, daß es nicht Aufgabe der Berufungsbehörde ist zu überprüfen, ob der angefochtene erstinstanzliche Bescheid der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Erlassung entsprochen hat. Die Berufungsbehörde hat vielmehr das im Zeitpunkt der Erlassung des Berufungsbescheides geltende Recht anzuwenden (siehe die zahlreichen, bei Ringhofer, Verwaltungsverfahrensgesetze I (1987), zu § 66 AVG unter Nr. 157 bis 161 zitierten Erkenntnisse beider Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts). Im Fall der Änderung der Rechtslage während der Dauer des Berufungsverfahrens sind für die Berufungsbehörde andere Entscheidungsgrundlagen maßgeblich als für die Unterinstanz (Ringhofer, aaO, Anm. 12 zu § 66 AVG).

Dies hat die belangte Berufungskommission verkannt, wenn sie - begründungslos - der Meinung anhing, maßgeblich für die Überprüfung einer Entscheidung im Berufungsverfahren sei die Rechtslage "zum Zeitpunkt des Urteils erster Instanz". Dieses Verkennen der Rechtslage im hier entscheidenden Punkt belastet im vorliegenden Fall den angefochtenen Bescheid mit Gleichheitswidrigkeit (s. die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, zB VfSlg. 10337/1985, 11436/1987).

3. Der bekämpfte Bescheid ist daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist USt. in der Höhe von S 3.000,-- enthalten.

Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 Z 2 VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.