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OGH vom 30.07.2019, 10ObS53/19w

OGH vom 30.07.2019, 10ObS53/19w

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter KAD Dr. Lukas Stärker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*****, vertreten durch Mag. Andreas Wimmer, Rechtsanwalt in Hallein, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, FriedrichHillegeistStraße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 106/18i18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 11 Cgs 102/18h13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil lautet:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab bis zum ein Pflegegeld der Stufe 2 in Höhe von 290 EUR monatlich unter Anrechnung der aus dem Titel des Pflegegelds für diesen Zeitraum bereits bezahlten Beträge weiter zu gewähren.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger bezog aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs vom seit Pflegegeld der Stufe 2. Ab setzte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt das Pflegegeld auf Stufe 1 herab. In einem (weiteren) gerichtlichen Vergleich (Vorverfahren 11 Cgs 193/16p des Erstgerichts) vom verpflichtete sich die beklagte Partei, dem Kläger Pflegegeld der Stufe 1 vom bis zum und Pflegegeld der Stufe 2 ab dem zu gewähren. Dem lag ein funktionsbezogener Pflegebedarf des Klägers von 99 Stunden monatlich ab dem zugrunde.

Mit dem in diesem Verfahren angefochtenen Bescheid vom setzte die Beklagte das Pflegegeld ab dem (neuerlich) auf Stufe 1 herab.

Mit seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt der Kläger die Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 2 über den hinaus.

Die Beklagte wandte dagegen ein, dass sich der Pflegebedarf des Klägers von 99 auf 84 Stunden verringert hätte, sodass nach Ablauf des Monats April 2018 nur mehr Pflegegeld der Stufe 1 gebühre.

Während des vorliegenden Verfahrens stellte der Kläger am einen Erhöhungsantrag, den die Beklagte mit Bescheid vom ablehnte. Im Zuge des vom Kläger durch seine Klage auch gegen diesen Bescheid eingeleiteten Verfahrens 11 Cgs 223/18b des Erstgerichts schlossen die Streitteile am einen gerichtlichen Vergleich, in dem sich die Beklagte verpflichtete, dem Kläger ab dem Pflegegeld der Stufe 3 zu zahlen.

Strittig ist im vorliegenden Verfahren daher nur mehr der Zeitraum bis , für den der Kläger die Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 2 begehrt. Nicht strittig ist, dass der funktionsbezogene Pflegebedarf des Klägers zum Entziehungszeitpunkt nur mehr 84 Stunden monatlich betrug.

Das Erstgericht sprach – in Wiederherstellung des angefochtenen Bescheids – aus, dass dem Kläger ab Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von 157,30 EUR gebühre; das Mehrbegehren auf Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 2 wies es ab. Im Umfang der Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 1 erwuchs die Entscheidung des Erstgerichts unangefochten in Rechtskraft.

Da sich der funktionsbezogene Pflegebedarf des Klägers von 99 Stunden monatlich im Gewährungszeitpunkt auf nur mehr 84 Stunden monatlich im Zeitpunkt der Entziehung verringert habe, gebühre dem Kläger nur mehr Pflegegeld der Stufe 1. Daran ändere die diagnosebezogene Einstufung nichts, zu der das Erstgericht folgende Feststellungen traf:

Beim Kläger besteht ein Zustand nach Oberschenkelamputation links (02/2012) mit Nachresektion (04/2017) sowie ein Ausfall des rechten Beins. Der Kläger ist aufgrund der Minderdurchblutung nach Behandlung einer Gefäßverengung (Stent-PTA), der Gefühlsstörungen und Schmerzen mit Verdacht auf erneutem Verschluss des Gefäßes nicht in der Lage, das Bein zu belasten oder bestimmungsgemäß zu verwenden. Aus pflegerischer Sicht kommt dies einer vergleichbaren Ausfallserscheinung wie bei einer beidseitigen Vollamputation gleich. Der Kläger ist auf den selbstständigen Gebrauch des Rollstuhls zur eigenständigen Lebensführung angewiesen. „Ob der diagnosebezogene Pflegebedarf über 6 Monate andauert, kann zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht verifiziert werden.“ Ein Krankenhausaufenthalt bzw eine medizinische Behandlung der Ausfallserscheinungen am rechten Bein sind bereits eingeleitet.

Da beim Kläger funktionsbezogen ein Pflegebedarf in Höhe der Stufe 1 von mehr als sechs Monaten bestehe, schade der Umstand, dass Vergleichbares für den diagnosebezogenen Pflegebedarf nicht feststehe, nach der Rechtsprechung nicht. Auch schade der Umstand nicht, dass der Kläger keine Diagnose im Sinn des § 4a Abs 1 BPGG aufweise. Denn beim Kläger komme es zu medizinischen Ausfallerscheinungen, die einer beidseitigen Vollamputation vergleichbar seien, sodass § 4a Abs 1 BPGG analog anwendbar sei. Für eine Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 3 fehle es an der sukzessiven Kompetenz, da Gegenstand des Verfahrens vor der Beklagten nur die Herabsetzung von Pflegegeld der Stufe 2 auf Stufe 1 gewesen sei. Aber auch eine Zuerkennung der Stufe 2 komme nicht in Frage, denn die diagnosebezogene Einstufung sei ebenfalls nicht Gegenstand des vorangegangenen Verfahrens bei der Beklagten gewesen. Übersehe der Versicherungsträger im Herabsetzungsverfahren bezüglich der Pflegegeldstufen 1 und 2 einen diagnosebezogenen Mindestpflegebedarf, liege ein mangelhaftes Verwaltungsverfahren vor. Dieser Fehler sei gemäß § 27 Abs 5 BPGG zu korrigieren.

Das Berufungsgericht gab der vom Kläger gegen dieses Urteil im Umfang der Abweisung des Mehrbegehrens auf Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 2 über den hinaus erhobenen Berufung nicht Folge. Richtig sei zwar, dass § 4a Abs 1 BPGG im Fall des Klägers analog anwendbar sei. Es stehe allerdings nicht fest, dass diese Situation mindestens sechs Monate andauern werde, sodass bereits aus diesem Grund eine Einstufung nach dieser Bestimmung scheitere. Da der Kläger den sich aus der funktionsbezogenen Einstufung ergebenden Pflegebedarf von (nur mehr) 84 Stunden monatlich nicht beanstandet habe, sei die Herabsetzung des Pflegegelds zu Recht erfolgt. Mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von der in § 502 Abs 1 geforderten Qualität sei die Revision nicht zulässig.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er
– inhaltlich – die Weitergewährung von Pflegegeld der Stufe 2 über den hinaus anstrebt.

Von der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Möglichkeit, eine Revisionsbeantwortung zu erstatten, machte die Beklagte keinen Gebrauch.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

1.1 Es trifft zwar zu, dass nach § 4 Abs 1 BPGG beim Pflegebedürftigen ein ständiger Pflegebedarf für voraussichtlich mindestens sechs Monate gegeben sein muss. Dieses zeitliche Mindesterfordernis bezieht sich jedoch nur auf das Vorhandensein von Pflegebedarf in einem zumindest der Stufe 1 entsprechenden Ausmaß (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 [2017] Rz 5.16). Für höhere Einstufungen ist diese Mindestdauer nicht erforderlich. Pflegegeld der Stufen 2 bis 7 gebührt daher auch dann, wenn die jeweiligen Voraussetzungen für einen Zeitraum von weniger als sechs Monate gegeben sind (10 ObS 10/08f SSV-NF 22/10 mwH; 10 ObS 30/95 SSV-NF 9/14; RS0053124).

1.2 Im vorliegenden Fall sind die Anspruchsvoraussetzungen der Stufe 1 beim Kläger unstrittig (weiterhin) mehr als sechs Monate gegeben. Darauf, dass eine höhere Einstufung begründende diagnosebezogene Mindesteinstufung ebenfalls voraussichtlich mindestens sechs Monate bestehen müsste, kommt es daher, worauf Erstgericht und Revisionswerber hinweisen, nicht an.

2.1 Der Versicherte darf in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG eine Klage nur erheben, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden hat. „Darüber“ bedeutet, dass der Bescheid über den der betreffenden Leistungssache zugrundeliegenden Anspruch ergangen sein muss. Der mögliche Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist durch den Antrag, den Bescheid und das Klagebegehren dreifach eingegrenzt (10 ObS 117/17d SSV-NF 31/51 ua; RS0105139 [T1]). Der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens muss demnach mit jenem des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens ident sein (10 ObS 125/18g uva).

2.2 Die „Anspruchsvoraussetzungen“ für das Pflegegeld normiert – unter dieser Überschrift – § 4 BPGG. Insbesondere regelt § 4 Abs 2 BPGG die Höhe des Anspruchs auf Pflegegeld abhängig vom monatlichen Pflegebedarf und weiteren Voraussetzungen. § 4 Abs 2 BPGG wird (neben den hier nicht relevanten § 43, 44 BPGG, und anders als § 4a BPGG) ausdrücklich in § 65 Abs 1 Z 1 ASGG zitiert.

2.3 Gegenstand des Verfahrens vor der Beklagten und deren Entscheidung war die Herabsetzung des ursprünglich in Höhe der Stufe 2 gewährten Anspruchs auf Pflegegeld auf die Stufe 1 ab . Für die auf Weitergewährung des Pflegegelds in Höhe der Stufe 2 über den Ablauf des hinaus gerichtete Klage ist daher die Zulässigkeit des Rechtswegs eröffnet.

2.4 Daran ändert der Umstand, dass die diagnosebezogene Einstufung gemäß § 4a BPGG im Verfahren vor der Beklagten nicht beurteilt worden sein mag, nichts. § 4a BPGG regelt – anders als § 4 BPGG – nicht Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegegeld, sondern sieht
– entsprechend den in dieser Bestimmung genannten Diagnosen und Mindestaltersgrenzen – lediglich bestimmte Mindesteinstufungen entsprechend den in § 4 BPGG geregelten Pflegegeldstufen vor. Dies ergibt sich historisch daraus, dass im Zug der BPGG-Novelle 1998, BGBl I 1998/111, die zuvor in § 8 EinstV enthaltenen Mindesteinstufungen in § 4a BPGG neu geregelt wurden (RS0113912; RS0111678).

2.5 Bei der funktionsbezogenen Einstufung und der diagnosebezogenen Mindesteinstufung handelt es sich daher lediglich um zwei unterschiedliche Einstufungsvarianten, nach denen der allein den Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens bildende Anspruch auf Pflegegeld entsprechend den Voraussetzungen des § 4 BPGG zu beurteilen ist. § 4a BPGG schafft keine (neue) Anspruchsgrundlage neben § 4 BPGG, sondern verweist zur nach dieser Bestimmung vorzunehmenden Mindesteinstufung auf die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 4 Abs 2 BPGG, nämlich die dort geregelten Pflegegeldstufen. Die Möglichkeit einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung schließt nach § 4a Abs 7 BPGG auch nicht aus, dass ein höheres Pflegegeld zu leisten ist, wenn nach der funktionsbezogenen Einstufung die Voraussetzungen für eine höhere Einstufung vorliegen (10 ObS 7/06m, SSV-NF 20/5 mwH, insbesondere auch auf ErläutRV 1186 BlgNr 20. GP 12 f).

2.6Zwischenergebnis: Ist der Rechtsweg für ein Klagebegehren auf Zuerkennung von Pflegegeld unter Beachtung des Antrags, des Bescheids des Versicherungsträgers und des Klagebegehrens zulässig, so hat innerhalb der dadurch gezogenen Grenzen der Rechtswegzulässigkeit die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen im gerichtlichen Verfahren auch dann unter allfälliger Berücksichtigung einer diagnosebezogenen Einstufung zu erfolgen, wenn eine solche nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger war.

3.1 Es ist im vorliegenden Fall zwischen den Parteien nicht strittig, dass die beim Kläger vorliegende Diagnose ihrem Inhalt und ihren Auswirkungen nach mit einer beidseitigen Beinamputation im Sinn des § 4a Abs 1 BPGG gleichzusetzen ist, sodass diese Bestimmung analog anzuwenden ist (10 ObS 110/00z SSV-NF 14/55 ua; RS0111678 [T2, T 4)). Ebenso wenig strittig ist allerdings der bereits vom Erstgericht herausgearbeitete Umstand, dass die sich aus der analogen Anwendung des § 4a Abs 1 BPGG ergebende Mindesteinstufung in Höhe der Stufe 3 im vorliegenden Fall nicht möglich ist, weil die beklagte Partei nur über eine Herabsetzung des Pflegegelds von der Stufe 2 auf die Stufe 1 ab dem entschieden hat, sodass für die Zuerkennung eines höheren Pflegegelds als jenem der Stufe 2 der Rechtsweg nach den vorher dargestellten Grundsätzen nicht zulässig ist. Der Kläger hat konsequenterweise auch gar kein Begehren auf Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 3 gestellt.

3.2 Eine Addition der bei der funktionellen Betrachtung ermittelten Stundenwerte mit den der Mindesteinstufung zugrundeliegenden Zeitwerten ist nach der Rechtsprechung nicht zulässig (10 ObS 7/06m SSV-NF 20/5). Eine Prüfung der Einstufung erfolgt vielmehr sowohl funktionsbezogen als auch diagnosebezogen (also „nebeneinander“, vgl 10 ObS 184/99b; 10 ObS 292/97g SSV-NF 11/103 ua). Funktionsbezogen wäre der Kläger ab in der Stufe 1 einzustufen, weil ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 95 Stunden monatlich, wie er von § 4 Abs 2 Stufe 2 BPGG verlangt wird, nicht besteht. Dessen ungeachtet ist der Kläger diagnosebezogen infolge analoger Anwendung des § 4a Abs 1 BPGG nach Stufe 3 einzustufen. Schon nach dem Wortlaut von § 4a Abs 1 BPGG ist daher eine Herabsetzung des Pflegegelds nicht gerechtfertigt: Denn bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 4a Abs 1 BPGG (hier in analoger Anwendung) ist „mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen“, daher ein Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden pro Monat (§ 4 Abs 2 Stufe 3 BPGG). Es fehlt daher an einer wesentlichen Änderung des Pflegebedarfs im Sinn dessen Herabsinkens unter die bisher gewährte Stufe.

3.3 Dieses Ergebnis ist auch zur Vermeidung von sonst unüberbrückbaren Wertungswidersprüchen erforderlich: Hätte etwa ein Pflegebedürftiger vor einer Herabsetzung Pflegegeld der Stufe 3 oder einer höheren Stufe gemäß § 4 Abs 2 BPGG bezogen und wäre er funktionsbezogen nach einer Besserung seines Zustands nur mehr in Stufe 1 (oder 2) einzustufen, so könnte er in einer vergleichbaren Situation wie jener des Klägers weiterhin in analoger Anwendung des § 4a Abs 1 BPGG zumindest Pflegegeld der Stufe 3 beziehen, weil diesfalls der Rechtsweg zulässig wäre. Es würde eine sachlich nicht rechtfertigbare Ungleichbehandlung darstellen, dass ein Pflegebedürftiger in der Situation des Klägers eine Herabsetzung von Stufe 2 auf Stufe 1 hinnehmen müsste, weil in diesem Bereich nur mehr die funktionsbezogene Einstufung greift, während Pflegegeldbezieher höherer Stufen als der Stufe 2 bei einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung vor einer solchen Herabsetzung des Pflegegelds „geschützt“ wären.

3.4 Dem steht auch nicht der Umstand entgegen, dass dem Kläger vor der Herabsetzung nur Pflegegeld der Stufe 2 gewährt wurde, während die Mindesteinstufung analog zu § 4a Abs 1 BPGG nach der – hier gar nicht im Verfahren zu behandelnden – Stufe 3 zu erfolgen hätte. Der Oberste Gerichtshof hat erst jüngst zu den Übergangsbestimmungen der § 48b und 48f BPGG entschieden, dass ein vor einer gesetzlichen Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen erworbener Pflegegeldanspruch auch als geschützter Teil eines allenfalls höheren Anspruchs erhalten bleibt. Denn die § 48b und 48f BPGG zielen nur auf eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs ab. Ihr Anwendungsbereich ist jedoch nicht am Bezug einzelner Pflegegeldstufen festzumachen, sodass sich ihre Schutzwirkung nicht nur auf die Pflegegeldstufen 1 und 2 bezieht (10 ObS 85/18z mwH). Diese Wertungen lassen sich auf den vorliegenden Fall übertragen. Der Revisionswerber führt daher im Ergebnis im konkreten Fall zutreffend aus, dass die vor der Herabsetzung zuerkannte Stufe 2 gewissermaßen in der Stufe 3 „enthalten“ sei. Dies findet
– wie bereits ausgeführt – Deckung auch im Wortlaut des § 4a Abs 1 BPGG („ist ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen“), der auf § 4 Abs 2 BPGG verweist.

3.5 Letztlich ergibt sich das hier erzielte Ergebnis vor allem aus dem in § 1 BPGG normierten Zweck des Pflegegelds, in Form eines Beitrags pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten (RS0106555) und pflegebedürftigen Personen soweit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern (RS0106398). § 1 BPGG ist nicht nur als programmatische Erklärung zu verstehen, sondern bildet gegebenenfalls auch eine – vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgegebene – Leitlinie für die Anwendung des BPGG. Daraus folgt insbesondere, dass im Zweifelsfall, das heißt bei sonstiger „Gleichwertigkeit“, grundsätzlich jener Interpretation der Vorzug gegeben werden muss, die dem Zweck des Pflegegelds am ehesten gerecht wird (RS0106237). Das Pflegegeld muss diesem Zweck unabhängig davon dienen, ob sich der Pflegebedarf im Einzelfall aus einer funktionsbezogenen oder einer diagnosebezogenen Einstufung ergibt (zur diagnosebezogenen Einstufung vgl RS0106389).

3.6 : In einem Verfahren über die Neubemessung von Pflegegeld durch Herabsetzung ist auch dann, wenn sich der funktionsbezogen ermittelte Pflegebedarf in rechtlich relevantem Ausmaß im Sinn des § 9 Abs 4 BPGG verbessert hat, eine unabhängig davon vorliegende diagnosebezogene Mindesteinstufung im Sinn des § 4a BPGG für die Beurteilung der Frage, ob eine wesentliche Veränderung im Sinn des § 9 Abs 4 BPGG eintritt, zu beachten.

4. Ausgehend davon war der Revision Folge zu geben. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinn des § 9 Abs 4 BPGG liegt ab nicht vor, weil beim Kläger analog § 4a Abs 1 BPGG ein Pflegebedarf von durchschnittlich mindestens 120 Stunden pro Monat entsprechend der Stufe 3 anzunehmen ist. Es fehlt daher an der wesentlichen Voraussetzung der (relevanten) Verringerung des Pflegebedarfs für eine Herabsetzung des dem Kläger bis dahin gewährten Pflegegelds der Stufe 2 (RS0123144). Dem Klagebegehren war daher stattzugeben und dem Kläger auch für den – im Revisionsverfahren allein noch relevanten –Zeitraum von bis weiter Pflegegeld der Stufe 2 unter Einrechnung der bereits aus dem Titel des Pflegegelds geleisteten Beträge infolge des rechtskräftigen Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 1 zuzuerkennen. Da feststeht, dass der Kläger ab Pflegegeld der Stufe 3 bezieht, war dem Klagebegehren nur mehr für den hier noch strittigen Zeitraum bis stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm § 77 Abs 2 ASGG.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00053.19W.0730.000

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