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OGH vom 26.03.2003, 13Os35/03

OGH vom 26.03.2003, 13Os35/03

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal, Dr. Ratz, Dr. Schroll und Dr. Kirchbacher als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Hietler als Schriftführer, in der Strafsache gegen Anton D***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse des Bezirksgerichtes Waidhofen an der Ybbs vom , GZ 4 U 123/99x-50 und des Landesgerichtes St. Pölten vom , AZ 22 Bl 86/02 (ON 53), sowie einen Vorgang, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Weiss, zu Recht erkannt:

Spruch

Es verletzen § 410 StPO:

1. der Beschluss des Bezirksgerichtes Waidhofen an der Ybbs vom , GZ 4 U 123/99x-50,

2. die Vorlage der Akten an die Rechtsmittelinstanz vor Bekanntmachung des zu 1. genannten Beschlusses durch das Bezirksgericht Waidhofen an der Ybbs,

3. der Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom , AZ 22 Bl 86/02.

Der Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom , AZ 22 Bl 86/02, wird aufgehoben, und es wird dem Bezirksgericht Waidhofen an der Ybbs aufgetragen, seinen Beschluss vom , GZ 4 U 123/99x-50, dem Verurteilten zuzustellen (§ 79 Abs 1 und 4 erster Satz StPO) sowie nach Ablauf der dem Verurteilten offenstehenden Beschwerdefrist die Akten gemäß § 179 Abs 1 Geo dem Landesgericht St. Pölten vorzulegen.

Text

Gründe:

Mit dem in Rechtskraft erwachsenen Urteil des Bezirksgerichtes Waidhofen an der Ybbs vom , GZ 4 U 123/99x-21, wurde Anton D***** (richtig:) der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer (unbedingten) Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Zugleich fasste dieses Gericht gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO den Beschluss, die Anton D***** mit Urteil des Landesgerichtes St. Pölten vom , AZ 15 E Vr 801/95, gewährte bedingte Nachsicht einer sechswöchigen Freiheitsstrafe (hinsichtlich welcher Verurteilung die Probezeit bereits auf fünf Jahre verlängert worden war) zu widerrufen. Mit Beschluss vom , GZ 4 U 123/99x-50, sah das Bezirksgericht Waidhofen an der Ybbs - das zwischenzeitig dem Verurteilten gemäß § 6 Abs 1 Z 2 lit a StVG einen Strafaufschub für die Dauer eines Jahres gewährt hatte (ON 41) - auf Antrag des Verurteilten (ON 42) die im Urteil vom verhängte Freiheitsstrafe von zwei Monaten für eine Probezeit von drei Jahren nachträglich bedingt nach (§ 31a StGB, ON 42). Weiters sprach es aus, dass auch die mit Urteil des Landesgerichtes St. Pölten vom verhängte Freiheitsstrafe von sechs Wochen (neuerlich) bedingt nachgesehen, die Probezeit (neuerlich) auf fünf Jahre verlängert und der Vollzug beider Strafen nach § 410 Abs 3 StPO bis zur Rechtskraft seiner Entscheidung vorläufig unterbrochen (richtig: gehemmt) werde. Gegen diesen nur dem Bezirksanwalt, nicht aber (im Sinn der Zustellverfügung S 324) auch dem Vertreter des Verurteilten zugestellten (vgl S 339) Beschluss erhob die Staatsanwaltschaft St. Pölten am Beschwerde (ON 51).

Der Verurteilte erhielt von diesen Vorgängen erst durch den - seinem Vertreter gemeinsam mit dem Beschluss des Bezirksgerichtes Waidhofen an der Ybbs, ON 50, und der Beschwerde der Staatsanwaltschaft St. Pölten, ON 51, zugestellten (vgl S 333) - Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom , AZ 22 Bl 86/02 (ON 53), Kenntnis, mit dem der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Folge gegeben und der Antrag auf nachträgliche Milderung der Strafe abgewiesen wurde.

In seiner zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde führt der Generalprokurator Folgendes aus:

Gemäß § 410 Abs 2 StPO steht gegen einen gemäß § 31a StGB gefassten Beschluss über die nachträgliche Strafmilderung neben dem Ankläger auch dem Verurteilten die binnen 14 Tagen einzubringende Beschwerde an den übergeordneten Gerichtshof zu. Zur Absicherung (ua) dieses Rechtes bestimmt einerseits § 77 Abs 1 StPO, dass gerichtliche Erledigungen (entweder durch mündliche Verkündung oder) durch Zustellung einer Ausfertigung (sowie durch Telefax oder im elektronischen Rechtsverkehr nach Maßgabe des § 89a GOG) bekannt zu machen sind, andererseits legt § 79 Abs 1 und Abs 4 StPO (in der Fassung BGBl I 2000/26) fest, dass alle Erledigungen und andere Schriftstücke, deren Zustellung die Frist zur Ergreifung eines Rechtsmittels oder eines Rechtsbehelfs auslöst, dem Empfänger zu eigenen Handen (§ 21 des Zustellgesetzes) zuzustellen sind. Wird eine Partei aber - wie hier - durch einen Verteidiger vertreten, ist dem Verteidiger (mit Zustellnachweis gemäß §§ 13 bis 20 des Zustellgesetzes) zuzustellen.

Dadurch, dass das Bezirksgericht Waidhofen an der Ybbs vor der Aktenvorlage an das Rechtsmittelgericht seinen Beschluss vom dem Vertreter des Verurteilten, Rechtsanwalt Mag. Dr. Helmut Blum, nicht zustellte, obwohl dem Verurteilten das Rechtsmittel der Beschwerde (etwa wegen unterbliebener - vom Antrag ON 42 konkludent umfasster - Herabsetzung des Ausmaßes der über ihn verhängten Freiheitsstrafe) zustand, verletzte es sowohl die erwähnten Vorschriften der Strafprozessordnung als auch jene des § 170 Abs 1 Geo, wonach die Aktenvorlage an das Rechtsmittelgericht (erst) nach Einlangen sämtlicher Rechtsmittelschriften oder nach Ablauf der allen Beteiligten offenstehenden Rechtsmittelfristen zu erfolgen hat. Eine gesetzliche Verpflichtung, dem Verurteilten auch die gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde der Staatsanwaltschaft St. Pölten zur Kenntnis zu bringen, traf das Bezirksgericht allerdings nicht; ist doch die Beschwerde - von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen - ein (lediglich) einseitiges Rechtsmittel, zu dem der Gegner keine Gelegenheit zu einer Gegenausführung erhält (15 Os 173/95).

Aber auch die Vorgangsweise des Landesgerichtes St. Pölten verletzte das Gesetz, weil es als Rechtsmittelgericht seine - nicht weiter bekämpfbare (Foregger/Fabrizy, StPO8 § 481 Rz 2) - Entscheidung vor Ablauf der - überhaupt erst mit der eigenhändigen Zustellung eines erstinstanzlichen Beschlusses beginnenden - Rechtsmittelfrist eines Beteiligten gefällt und diesem sohin die ihm gemäß § 410 Abs 2 StPO zustehende Anfechtungsmöglichkeit genommen hat (vgl 15 Os 173, 174/95).

Festzuhalten ist ferner, dass das Bezirksgericht Waidhofen an der Ybbs bei Fassung seines Beschlusses vom verfehlt auch die Kompetenz zur nachträglichen Strafmilderung gemäß § 31a StGB betreffend das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten vom in Anspruch genommen hat, da § 410 Abs 1 StPO diesbezüglich die ausschließliche Zuständigkeit des in erster Instanz erkennenden Gerichtes festlegt (vgl 14 Os 129 - 131/99).

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Da nach § 410 Abs 1 StPO über die nachträgliche Strafmilderung jenes Gericht entscheidet, das - durch Strafurteil - in erster Instanz erkannt hat, kam dem Bezirksgericht Waidhofen an der Ybbs die Befugnis zur nachträglichen Milderung der vom Landesgericht St. Pölten verhängten Freiheitsstrafe ungeachtet seiner (zuvor wahrgenommenen) Kompetenz zum Widerruf der bedingten Strafnachsicht nach § 494a Abs 1 StPO nicht zu.

Aus der von § 410 Abs 1 StPO den Gerichten auferlegten Pflicht, gegebenenfalls, und zwar ungeachtet allfälliger Anträge des Verurteilten, von Amts wegen nach § 31a StGB vorzugehen, folgt - von nachträglichem Absehen von einer Zusatzstrafe nach § 40 zweiter Satz StGB abgesehen - zwingend, dass dem Verurteilten auch dann das von § 410 Abs 2 StPO eingeräumte Anfechtungsrecht zukommt, wenn seinem Vorbringen im Antrag auf nachträgliche Strafmilderung entsprochen wurde (vgl 15 Os 126/02).

War er aber zur Anfechtung berechtigt, so war ihm der Beschluss des Bezirksgerichtes - durch die vom Gesetz vorgesehene Zustellung an seinen Verteidiger (§ 79 Abs 4 erster Satz StPO) - schon deshalb vor der Entscheidung des Gerichtshofes erster Instanz über die Beschwerde des Staatsanwaltes bekanntzumachen, weil die StPO eine mehrmalige Entscheidung des Rechtsmittelgerichtes über denselben Prozessgegenstand nicht kennt. Just zu dieser gesetzwidrigen Konsequenz aber müsste eine vor Ablauf der - mangels Zustellung des erstinstanzlichen Beschlusses noch gar nicht in Gang gekommenen - Beschwerdefrist für den Verurteilten erfolgte Entscheidung des Beschwerdegerichtes bei nachträglicher Beschwerde führen, womit die Aktenvorlage vor Zustellung des angefochtenen Beschlusses (auch) an den Verteidiger durch das Bezirksgericht Waidhofen an der Ybbs und die Entscheidung des Landesgerichtes St. Pölten innerhalb - für den Verurteilten - offener Beschwerdefrist § 410 Abs 2 StPO verletzen. Angesichts der bereits im Zeitpunkt der Aktenvorlage durch den Bezirksrichter (§ 37 Abs 1 Z 7 und Abs 2 GOG) aktenkundigen Fehlleistung der zuständigen Geschäftsabteilung des Bezirksgerichtes Waidhofen an der Ybbs beim Vollzug der Zustellverfügung liegt nämlich nicht bloß ein trotz Einhaltung der Verfahrensvorschriften unterlaufener Irrtum im Tatsachenbereich vor (vgl Ratz, WK-StPO § 292 Rz 15 ff [auch § 281 Rz 44 aE], 14 Os 159/02, 12 Os 4/03). Nach § 292 letzter Satz StPO war der dem Verurteilten nachteilige Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom , AZ 22 Bl 86/02, aufzuheben und dem Bezirksgericht Waidhofen an der Ybbs das rechtsrichtige Vorgehen aufzutragen.

Ob die Meinung des Generalprokurators, wonach das Gesetz es verbiete, dem Verurteilten Gelegenheit zur Stellungnahme zum Rechtsmittel des Staatsanwaltes zu geben, grundrechtskonformer Auslegung mit Blick auf das Fairnessgebot des Art 6 Abs 1 EMRK stand hielte, hat vorliegend offen zu bleiben, weil die Nichtigkeitsbeschwerde - von ihrem Standpunkt aus folgerichtig - unter dem Gesichtspunkt fehlender Gelegenheit zu einer solchen Stellungnahme keine Gesetzesverletzung rügt (WK-StPO § 292 Rz 40).

Bleibt anzumerken, dass angesichts mangelnder Begründungspflicht für Beschwerden das Rechtsmittelgericht in Hinsicht auf die aufgezeigte Unzuständigkeit des Bezirksgerichtes Waidhofen an der Ybbs (bezüglich der vom Landesgericht St. Pölten verhängten sechswöchigen Freiheitsstrafe) nicht auf das Vorbringen des Staatsanwaltes beschränkt ist, den Beschluss also (auch) insoweit aufheben und die Sache an den zuständigen Einzelrichter des Landesgerichtes St. Pölten zur Entscheidung verweisen kann (vgl 13 Os 122/02; § 13 Abs 3 StPO).