OGH vom 27.02.1990, 10ObS51/90
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr. Elmar Peterlunger (Arbeitgeber) und Karl Klein (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Martin E***, Bäckermeister, 6250 Kundl,
Dorfstraße 15, vertreten durch Dr. Hansjörg Zink, Dr. Georg Petzer und Dr. Herbert Marschitz, Rechtsanwälte in Kufstein, wider die beklagte Partei P*** DER A***
(Landesstelle Salzburg), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 5 Rs 171/89-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , GZ 43 Cgs 1182/87-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichtes wird aufgehoben.
Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an
das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Berufungs- und Revisionskosten sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der am geborene Kläger hat während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag () 63 Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach dem ASVG erworben, davon 36 als Bäckerlehrling und 27 als Bäckergeselle.
Seine Klage gegen den Bescheid der beklagten Partei vom , mit der er wegen der Abtrennung des linken Oberarmes eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß vom an begehrte, wurde von den Vorinstanzen abgewiesen. Nach ihrer Rechtsansicht sei der Kläger nur als Geselle und daher im Sinne des § 255 Abs 1 und 2 ASVG nicht überwiegend im erlernten Bäckerberuf tätig gewesen. Deshalb würde er nur unter den verneinten Voraussetzungen des Abs 3 leg cit als invalid gelten. Dagegen richtet sich die nicht beantwortete Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinne abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Rechtliche Beurteilung
Das nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Rechtsmittel ist berechtigt. (Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des ASVG.)
Der Revisionswerber meint, er sei - abgesehen von der ordentlichen Präsenzdienstzeit - ausschließlich im erlernten Bäckerberuf tätig gewesen, weil es sich bei der Lehrzeit - wie bei einer Schulzeit - noch nicht um eine Berufstätigkeit, sondern um eine Berufsausbildung handle. Ein Lehrling erhalte auch keinen Lohn, sondern eine Lehrlingsentschädigung, von der ihm keine Pensionsbeiträge abgezogen würden. Die im ersten Satz wiedergegebene Rechtsansicht des Klägers ist richtig.
War ein Versicherter, auf den die Voraussetzungen des § 255 Abs 4 nicht zutreffen, überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig, dann ist seine Invalidität nach Abs 1, sonst nach Abs 3 zu beurteilen.
Da eine Tätigkeit in einem erlernten Beruf erst nach abgeschlossener Ausbildung ausgeübt werden kann, ist ein Lehrling nicht im (noch nicht) erlernten Beruf tätig (so zB Teschner in Tomandl, SV-System 4. ErgLfg 364 Tomandl, Grundriß des österr. Sozialrechts4 Rz 69; 10 Ob S 299/89; OLG Wien SVSlg. 20.230; SVSlg 20.231; SVSlg 21.881; SVSlg 27.594; SVSlg 29.596; und SVSlg 29.597 uva). Als überwiegend im Sinne des Abs 1 gelten nach Abs 2 Satz 2 in der seit geltenden Fassung der 32. ASVGNov solche erlernte (angelernte) Berufstätigkeiten, wenn sie in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach diesem Bundesgesetz während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) ausgeübt wurden.
Da eine Berufstätigkeit beurteilt werden soll, dürfen in die Beurteilung, ob ein erlernter Beruf überwiegend ausgeübt wurde, nur Beitragsmonate einbezogen werden, die auf Grund einer solchen Tätigkeit erworben wurden.
Von der Ausübung einer Berufstätigkeit im Sinne des § 255 Abs 2 Satz 2 kann daher bei in einem Lehrverhältnis stehenden Personen (Lehrlingen) nicht gesprochen werden.
Diese sind zwar nach § 4 Abs 1 Z 2 regelmäßig in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung auf Grund des ASVG versichert (vollversichert), sie üben jedoch noch keinen Beruf aus, sondern werden auf Grund eines Lehrvertrages zur Erlernung eines in der Lehrberufsliste angeführten Lehrberufes bei einem Lehrberechtigten erst für die (spätere) Ausübung eines Berufes fachlich ausgebildet und im Rahmen dieser Ausbildung verwendet (insbesondere §§ 1 und 9 BerufsausbildungsG BGBl 1969/142 idgF). Dieser zum Wesen des Lehrverhältnisses gehörende Ausbildungszweck (vgl MSA, BAG2 11 FN 2, 3) rechtfertigt es, das Lehrverhältnis, das arbeitsrechtlich im Prinzip als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist (MSA BAG2 11, FN 2), im Sinne des § 255 wie eine schulmäßige Berufsausbildung zu behandeln. In beiden Ausbildungsgängen geht es um die fachliche Ausbildung zur Erlernung eines oder mehrerer Berufe und um eine Verwendung im Rahmen dieser Ausbildung, wobei die Ausbildung des Lehrlings vorwiegend durch Lehrberechtigte in einem Betrieb oder in einer Werkstätte, die von Schülern vorwiegend durch Lehrer in einer Schule vorgenommen wird. Lehrlinge werden jedoch auch teilweise in der Berufsschule, Schüler berufsbildender Schulen während der Praxis auch in Betrieben und außerschulischen Werkstätten ausgebildet. Daher unterscheiden zB § 10 Abs 1 und § 11 Abs 1 Beschäftigungs- und Lehr- oder Ausbildungsverhältnis. § 14 Abs 1 Z 3 bestimmt, daß die in der Pensionsversicherung pflichtversicherten Personen, die in einem Lehr- oder Ausbildungsverhältnis stehen, das auf ein Beschäftigungsverhältnis nach Z 1 oder Abs 3 vorbereitet, zur Pensionsversicherung der Angestellten gehören. § 175 Abs 2 unterscheidet in mehreren Ziffern Arbeits- oder Ausbildungsstätte.
§ 180 Abs 1 regelt die besondere Bemessungsgrundlage für Personen unter 30 Jahren, die sich zur Zeit des Eintrittes des Versicherungsfalles noch in einer Berufs- oder Schulausbildung befanden. § 252 Abs 1 spricht von Kindern, die sich wegen schulmäßiger (beruflicher) Ausbildung außerhalb der Hausgemeinschaft aufhalten; nach Abs 2 Z 1 dieser Gesetzesstelle besteht die Kindeseigenschaft auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres höchstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, wenn und solange das Kind sich in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht. Nach § 292 Abs 4 lit h hat bei der Ermittlung des zuzüglichen Nettoeinkommens für den Anspruch auf Ausgleichszulage von Lehrlingsentschädigungen ein seit 1987 mit der jeweiligen Aufwertungszahl zu vervielfachender Betrag von 1.140 S monatlich außer Betracht zu bleiben.
Die zitierten Bestimmungen stützen die Rechtsansicht, daß Lehrlinge noch keine Berufstätigkeit im Sinne des § 255 Abs 2 Satz 2 ausüben.
Daß auch für vollversicherte Lehrlinge auf der Grundlage des Entgelts in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung Beiträge zu entrichten (§§ 44 ff) und Zeiten einer Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach § 225 Abs 1 Z 1 unter den dort genannten Voraussetzungen auch bei einem Lehrling als Beitragszeiten anzusehen sind, während Zeiten, in denen nach Vollendung des 15. Lebensjahres bestimmte Schulen besucht wurden, nach § 227 Z 1 als Ersatzzeiten gelten, spricht nicht gegen diese Auslegung. Die gegenteilige Auslegung der Vorinstanzen würde zu dem im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz verfassungsrechtlich bedenklichen und daher auch deshalb abzulehnenden Ergebnis führen, daß die Invalidität eines Versicherten, der in den zwischen der bestandenen Lehrabschlußprüfung und dem Stichtag gelegenen Beitragsmonaten nach dem ASVG ausschließlich im erlernten Beruf tätig war, nach § 255 Abs 3 zu beurteilen wäre, wenn die während des Lehrverhältnisses erworbenen Beitragsmonate überwiegen, die Invalidität eines Versicherten, der nach schulmäßiger Ausbildung (§ 28 BAG), gleichgültig, wie lange diese dauerte in den vor dem Stichtag gelegenen Beitragsmonaten überwiegend in dem schulmäßig erlernten Beruf tätig war, hingegen nach Abs 1 leg cit. Zusammenfassend ergibt sich daher, daß die Invalidität des Klägers nach § 255 Abs 1 zu beurteilen ist.
Da die Vorinstanzen davon ausgingen, daß der Kläger nicht überwiegend im erlernten Beruf als Bäcker tätig gewesen sei und daher nach Abs 3 leg cit auf andere Berufe des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden könne, wurde die nach der Rechtsansicht des Revisionsgerichtes erhebliche Frage, ob die Arbeitsfähigkeit des Klägers infolge seines körperlichen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten im Bäckerberuf herabgesunken ist, bisher gar nicht erörtert (siehe den dem Sachverständigen für Berufskunde erteilten Auftrag und das mündliche Gutachten dieses Sachverständigen). Deshalb war das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sozialrechtssache zur Ergänzung der in erster Instanz gepflogenen Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 510 Abs 1 ZPO).
Der Vorbehalt der Entscheidung über die Verpflichtung zum Ersatz der Berufungs- und Revisionskosten beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.