OGH vom 30.07.2009, 8ObS11/09i
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Spenling, die Hofrätin Dr. Glawischnig und die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Mörk und Robert Maggale als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Harald K*****, vertreten durch Dr. Maximilian Hofmaninger, Rechtsanwalt in Vöcklabruck, gegen die beklagte Partei IEF Service GmbH, *****, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, 1011 Wien, Singerstraße 17-19, wegen 442 EUR Insolvenz-Ausfallgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 12 Rs 42/09x-11, mit dem das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 18 Cgs 193/08f-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit 225,07 EUR (darin 37,51 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war von bis als Kochlehrling bei einem Gastwirt beschäftigt. Im April 2006 verließ der Arbeitgeber unangekündigt und ohne Hinterlassung einer Nachricht den Gasthausbetrieb und ist seither unbekannten Aufenthalts. Trotz entsprechender Nachforschungen konnte sein Aufenthalt nicht ausgeforscht werden; der Arbeitgeber wird im Ausland vermutet. Mit Schriftsatz vom stellte der Kläger gemeinsam mit einer zweiten Arbeitnehmerin beim Bezirksgericht Vöcklabruck einen Antrag auf Bestellung eines Abwesenheitskurators gemäß § 276 ABGB. Er begründete den Antrag damit, dass er in Anbetracht des unbekannten Aufenthalts des Arbeitgebers beabsichtige, dem Abwesenheitskurator gegenüber den berechtigten Austritt aus dem Dienst- bzw Lehrverhältnis zu erklären und seine arbeitsrechtlichen Ansprüche gerichtlich geltend zu machen. Mit Beschluss vom bestellte das Bezirksgericht Vöcklabruck einen Rechtsanwalt zum Abwesenheitskurator. Dieser Beschluss wurde dem Klagevertreter am zugestellt. Am erklärte der Kläger gegenüber dem Abwesenheitskurator seinen berechtigten vorzeitigen Austritt aus dem Lehrverhältnis. Am brachte er beim Landesgericht Wels als Arbeits- und Sozialgericht eine Klage ein, die er in der Folge über gerichtlichen Auftrag verbesserte und mit der er unter anderem auch den hier verfahrensgegenständlichen Lohn für Jänner 2006 geltend machte. Nicht strittig ist, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers vor dem Stichtag (§ 3 Abs 1 IESG) erfolgte.
Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Partei den Anspruch des Klägers auf Insolvenz-Ausfallgeld für Jänner 2006 in dem der Höhe nach außer Streit stehenden Betrag von 442 EUR mit der Begründung ab, dieser Anspruch liege außerhalb des gesicherten Zeitraums nach § 3a Abs 1 IESG.
Mit der am beim Erstgericht eingebrachten Klage begehrte der Kläger Insolvenz-Ausfallgeld für Jänner 2006. Er habe zur Einbringung der arbeitsrechtlichen Klage sowie zum Ausspruch seines berechtigten vorzeitigen Austritts einen Abwesenheitskurator beantragen müssen. Die innerhalb der 6-Monatsfrist des § 3a Abs 1 IESG erfolgte Antragstellung sei als gerichtliche Geltendmachung seiner Ansprüche anzusehen.
Die beklagte Partei beantragte Klageabweisung. Dem Kläger wäre es möglich gewesen, die Klage ohne Bestellung eines Kurators einzubringen bzw die Kuratorbestellung erst nach Einbringung der Klage zu beantragen. Überdies habe der Kläger ab dem Zeitpunkt der Bestellung des Kurators noch rund zwei Monate mit der Klagseinbringung zugewartet.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren zur Gänze statt. Gemäß § 3a Abs 1 IESG gebühre Insolvenz-Ausfallgeld, wenn das Arbeitsverhältnis vor dem Stichtag (§ 3 Abs 1 IESG) geendet habe, für das dem Arbeitnehmer gebührende Entgelt einschließlich der gebührenden Sonderzahlungen, das in den letzten sechs Monaten vor dessen arbeitsrechtlichem Ende fällig geworden sei. Diese Frist von sechs Monaten gelte unter anderem nicht, soweit Ansprüche auf Entgelt binnen sechs Monaten nach ihrem Entstehen gerichtlich geltend gemacht und das diesbezügliche Verfahren gehörig fortgesetzt werde. In Lehre und Rechtsprechung sei unstrittig, dass § 3a Abs 1 IESG der Vermeidung von Missbrauchsfällen dienen solle, um zu verhindern, dass Arbeitnehmer über lange Zeit ohne Entgeltzahlungen in einem Unternehmen tätig sind und auch keine wie immer gearteten Bemühungen treffen, die offenen Entgeltforderungen mit Nachdruck gegenüber dem Arbeitgeber geltend zu machen. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt von einer „gerichtlichen Geltendmachung“ auszugehen sei, sei an diesem Normzweck zu messen.
Der Arbeitgeber und Lehrherr des Klägers sei über Nacht nicht mehr im Betrieb erschienen, Nachforschungen seien erfolglos geblieben. Der minderjährige Kläger sei zur Vermeidung einer missbräuchlichen Überwälzung des Finanzierungsrisikos auf den Insolvenz-Ausfallgeldfonds verhalten gewesen, zusätzlich zur gerichtlichen Geltendmachung bereits entstandener Entgeltsansprüche auch den vorzeitigen Austritt aus dem Lehrverhältnis zu erklären, um das Entstehen weiterer gesicherter Entgeltsansprüche hintanzuhalten. Auch diese Pflicht des Klägers sei bei der Beurteilung der Situation zu berücksichtigen.
Die Bestellung eines Kurators nach § 116 ZPO sei ein Spezialfall der allgemeinen Abwesenheitskuratel nach dem hier noch maßgeblichen § 276 ABGB idF vor dem Sachwalterschaftsrechts-Änderungsgesetz BGBl I 92/2006. Während der Prozesskurator nach § 116 ZPO den Betroffenen nur in einem konkreten Rechtsstreit vertrete, vertrete der Abwesenheitskurator nach § 276 ABGB die Person des Abwesenden uneingeschränkt. Sei der Aufenthalt eines Arbeitgebers längere Zeit unbekannt und daher die Zustellung einer Kündigungs- bzw Austrittserklärung nicht möglich, sei die Bestellung eines Abwesenheitskurators nach § 276 ABGB (nunmehr § 270 ABGB) notwendig, um eine wirksame Kündigung bzw einen wirksamen Austritt erklären zu können.
Entsprechend den Vorgaben des IESG, ein Fortfressen der Ansprüche durch Austritt aus dem Dienstverhältnis zu vermeiden, offene Ansprüche innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend zu machen und dabei möglichst ökonomisch vorzugehen, habe der Kläger zutreffend die Bestellung eines Abwesenheitskurators beantragt, weil von dessen weiterer Vertretungsbefugnis sowohl die Empfangnahme einer Willenserklärung zur Beendigung des Dienstverhältnisses als auch die Zustellung einer Klage umfasst sei. Unter Bedachtnahme auf den Zweck des § 3a Abs 1 IESG sei in diesem Schritt bereits eine gerichtliche Geltendmachung dann zu erblicken, wenn nach der Bestellung eines Abwesenheitskurators auch tatsächlich in zeitlichem Zusammenhang die arbeitsrechtliche Klage eingebracht werde. Ein gegenteiliges Vorgehen, nämlich die parallele Einbringung einer Klage samt Antrag auf Bestellung eines Zustellkurators nach § 116 ZPO bei einem anderen Gericht, hätte die Gefahr der Bestellung zweier verschiedener Kuratoren mit sich gebracht und damit entgegen dem ausdrücklichem Zweck des IESG zusätzliche (gesicherte) Kosten verursacht.
Die Bestellung eines Abwesenheitskurators sei mit Beschluss vom erfolgt, der dem Klagevertreter am zugestellt worden sei. Da dem Abwesenheitskurator ein Rekursrecht gegen diesen Beschluss zugestanden sei, habe dieser nicht vor Anfang September 2006 in Rechtskraft erwachsen können. Bereits am habe der Kläger die Klage eingebracht, von der der nunmehr verfahrensgegenständliche Anspruch umfasst sei. Es sei daher von einer „gerichtlichen Geltendmachung des Anspruchs“ bereits durch Stellung des Antrags auf Bestellung eines Abwesenheitskurators unter Angabe des Grundes, eine Klage beim Arbeits- und Sozialgericht einbringen zu wollen, auszugehen.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und ließ die ordentliche Revision zu. Es billigte die vom Erstgericht vertretene Rechtsansicht und führte ergänzend aus, dass der Oberste Gerichtshof die Geltendmachung von Ansprüchen einer Dienstnehmerin im Verlassenschaftsverfahren nach ihrem Arbeitgeber als „gerichtliche Geltendmachung“ im Sinn des § 3a IESG beurteilt habe. Unter diesem Gesichtspunkt müsse auch die Vorgangsweise des Klägers als gerichtliche Geltendmachung im Sinn des § 3a Abs 1 IESG gewertet werden. Die von der Berufungswerberin behauptete Entbehrlichkeit der Bestellung eines Abwesenheitskurators könne mit der von ihr zitierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach etwa Gesellschafter einer GmbH nach dem Tod des einzigen Geschäftsführers Vorsorge dafür treffen müssten, dass die Arbeitnehmer der GmbH dem Arbeitgeber gegenüber rechtsgeschäftliche Erklärungen abgeben können, widrigenfalls der Zugang dieser Erklärungen fingiert werde, nicht gestützt werden. Abgesehen davon, dass von einem (in der Regel zunächst unvertretenen) Arbeitnehmer nicht verlangt werden könne, dass er diese Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kenne und deshalb die an sich zweckmäßige und kostengünstige Bestellung eines Abwesenheits- bzw Zustellkurators unterlasse, sei der konkrete Fall insoweit anders gelagert, als es nicht nur an einem empfangsberechtigten Organ fehle, sondern der Arbeitgeber selbst nicht mehr greifbar sei.
Die ordentliche Revision sei zuzulassen, weil der Oberste Gerichtshof zur Frage, ob die Bestellung eines Zustell- bzw Abwesenheitskurators zum Zwecke der Durchsetzung gerichtlicher Ansprüche des Arbeitnehmers als gerichtliche Geltendmachung im Sinn des § 3a Abs 1 IESG fristwahrend sei, noch nicht Stellung genommen habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im gänzlich klageabweisenden Sinn abzuändern. Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht angeführten Gründen zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.
Der erkennende Senat billigt die Rechtsansicht der Vorinstanzen, sodass es grundsätzlich ausreicht, auf deren zutreffende rechtliche Beurteilung zu verweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).
Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
Nach § 3a Abs 1 IESG idF BGBl 1997/107 war Entgelt, das vor mehr als sechs Monaten vor dem Stichtag fällig geworden ist, nur dann gesichert, wenn es bis zum Stichtag „im Verfahren in Arbeitsrechtssachen nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz“ oder in einem in Normen der kollektiven Rechtsgestaltung vorgesehenen Schlichtungsverfahren oder in einem Verfahren vor der Gleichbehandlungskommission geltend gemacht und das diesbezügliche Verfahren gehörig fortgesetzt wurde. Seit der Novellierung des § 3a Abs 1 IESG durch BGBl I 2000/142 wird nicht mehr auf die Geltendmachung in einem „Verfahren in Arbeitsrechtssachen nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz“, sondern - soweit hier von Interesse - nur mehr auf die „gerichtliche“ Geltendmachung abgestellt.
Schon zu § 3a Abs 1 IESG idF BGBl I Nr 107/1999, nach der die Bestimmung noch nicht auf die „gerichtliche“ Geltendmachung, sondern auf die Geltendmachung der Ansprüche im Verfahren in Arbeitsrechtssachen nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz abstellte, hat der Oberste Gerichtshof eine erweiternde Auslegung der Norm als zulässig erachtet: Er wertete die Geltendmachung von nur wegen des Todes des Arbeitgebers aufgelaufener Lohnrückstände im Verlassenschaftsverfahren als rechtlich und wirtschaftlich sinnvoll und ging davon aus, dass in einem solchen Fall ein Missbrauchsverdacht regelmäßig nicht bestehe (8 ObS 245/00p). Umso mehr muss dies nach dem derzeitigen Wortlaut der Bestimmung gelten, der nicht mehr explizit auf die Geltendmachung im Verfahren nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz abstellt, sondern - weiter gefasst - die „gerichtliche“ Geltendmachung fordert. Da auch in der hier zu beurteilenden Konstellation der Verdacht des Missbrauchs nicht besteht, teilt daher der Oberste Gerichtshof die Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass ein innerhalb der 6-Monatsfrist gestellter Antrag auf Bestellung eines Abwesenheitskurators für einen „untergetauchten“ Arbeitgeber mit der im Antrag bereits ausdrücklich erklärten Absicht, gegen den Kurator Ansprüche auf rückständiges Entgelt klageweise geltend machen und ihm gegenüber die Beendigung des Dienstverhältnisses zu erklären, eine Form der „gerichtlichen“ Geltendmachung ist, die den Anforderungen des § 3a Abs 1 IESG entspricht. Die Wahrung der Frist des § 3a Abs 1 IESG hat allerdings zur Voraussetzung, dass ein Abwesenheitskurator auch tatsächlich bestellt wird und dass nach Rechtskraft des Bestellungsbeschlusses in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang - den die Vorinstanzen hier zu Recht als (noch) gegeben angenommen haben - die Klage auf das rückständige Entgelt eingebracht wird.
Dass die (arbeitsgerichtliche) Klage erst am eingebracht worden sei, trifft nicht zu. Tatsächlich wurde die Klage bereits am eingebracht; die neuerliche Einbringung erfolgte in Entsprechung eines gerichtlichen Verbesserungsauftrags und ist daher unschädlich.
Richtig ist, dass nach der Rechtsprechung jeder Empfänger gewisse Obliegenheiten zur Vorsorge treffen muss, dass ihm ihn betreffende Erklärungen auch zugehen können, und zwar um so mehr, je eher er mit der Möglichkeit des Einlangens solcher Erklärungen rechnen muss. Verhindert der Empfänger absichtlich den Zugang, so ist die Zustellung in dem Zeitpunkt wirksam, in dem sie dem Empfänger unter gewöhnlichen Umständen zugegangen wäre (RIS-Justiz RS0117134; RS0108226; RS0028552; 8 ObA 192/97m; 8 ObA 263/97b ua). Aus dieser „Zugangsfiktion“ ist allerdings für den Standpunkt der Rechtsmittelwerberin nichts zu gewinnen, zumal sie zwar - wenn auch wegen der damit verbundenen Beweisschwierigkeiten nicht ohne Risiko für den Arbeitnehmer - die Abgabe einer Austrittserklärung ermöglichen könnte, an der Notwendigkeit der gerichtlichen Geltendmachung der ausstehenden Ansprüche aber nichts ändert.
Auch auf die Möglichkeit, die Ansprüche einzuklagen und im Verfahren die Bestellung eines „prozessualen Abwesenheitskurators“ zu beantragen, braucht sich der Kläger nicht verweisen lassen. Dieser Weg ist für die Geltendmachung der rückständigen Ansprüche tauglich, ermöglicht es aber nicht, den Austritt aus dem Arbeitsverhältnis zu erklären. Die vom Kläger gewählte Vorgangsweise erweist sich daher als ein insgesamt zweckmäßiger und erfolgversprechender gerichtlicher Schritt, der die Voraussetzungen der „gerichtlichen Geltendmachung“ des § 3a Abs 1 IESG erfüllt.
Die Revision erweist sich daher als nicht berechtigt.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm § 50 ZPO.