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OGH vom 03.05.2012, 10ObS50/12v

OGH vom 03.05.2012, 10ObS50/12v

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Monika Lanz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Thomas Kollab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Mag. Gerhard Eigner, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 1/12i 34, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 30 Cgs 19/11k 29, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die Klägerin hat ihre Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am geborene Klägerin lebt seit 1989 in Österreich. Sie hat in Österreich seit Juli 1990 insgesamt 164 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit und 52 Monate einer Ersatzzeit erworben. Sie war von Juli 1990 bis April 1992 und von März 1995 bis Februar 1996 als Geschirrabräumerin und Salatanrichterin und ab Juni 1998 als Küchengehilfin im Betrieb einer Autobahnraststation beschäftigt. Im Juni 2005 legte sie die Lehrabschlussprüfung als Köchin mit Erfolg ab. Anschließend war sie bei ihrem Arbeitgeber bis Juni 2010 durchgehend als Köchin beschäftigt. Sie kann aufgrund ihrer näher festgestellten medizinischen Einschränkungen ihren erlernten Beruf als Köchin jedenfalls bis Jahresende 2011 nicht ausüben.

Die beklagte Partei lehnte mit Bescheid vom den Antrag der Klägerin vom auf Gewährung einer Invaliditätspension mit der Begründung ab, die Klägerin sei nicht invalide iSd § 255 Abs 3 ASVG.

Das Erstgericht wies das von der Klägerin dagegen erhobene und zuletzt auf die Gewährung einer Invaliditätspension ab gerichtete Klagebegehren ab. Es beurteilte den bereits eingangs wiedergegebenen wesentlichen Sachverhalt dahin, dass die Frage der Invalidität der Klägerin nach der Bestimmung des § 255 ASVG idF vor der Änderung durch das BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) zu beurteilen sei. Danach habe die Klägerin in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend unqualifizierte Tätigkeiten (vor der Ablegung der Lehrabschlussprüfung im Juni 2005) ausgeübt, weshalb sie keinen Berufsschutz nach § 255 Abs 2 ASVG idF vor der Änderung durch das BudgetbegleitG 2011 genieße. Die Klägerin könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch verschiedene Verweisungstätigkeiten wie etwa Büroaufräumerin, Verpackerin oder einfache Tätigkeiten in Kantinen und Firmenküchen verrichten und sei daher nicht invalide iSd § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und sprach aus, dass das auf Gewährung der Invaliditätspension gerichtete Klagebegehren dem Grunde nach für den Zeitraum vom bis zu Recht bestehe und die beklagte Partei der Klägerin bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheids eine vorläufige Zahlung von 300 EUR monatlich zu erbringen habe. Das auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß über den hinaus gerichtete Mehrbegehren wies es unbekämpft ab. Nach seinen wesentlichen Rechtsausführungen sei durch das BudgetbegleitG 2011 mit Wirksamkeit ab eine Änderung der Rechtslage eingetreten, welche im vorliegenden Fall bereits zu berücksichtigen sei. Nach § 255 Abs 2 ASVG idF BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) liege eine überwiegende (erlernte) Tätigkeit iSd Abs 1 vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellter ausgeübt wurde. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (Abs 2a) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so müsse zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellter vorliegen. Nach § 255 Abs 2a ASVG gelte als Ende der Ausbildung der Abschluss eines Lehrberufs, der Abschluss einer mittleren oder höheren Schulausbildung oder Hochschulausbildung sowie der Abschluss einer dem Schul oder Lehrabschluss vergleichbaren Ausbildung, jedenfalls aber der Beginn einer Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellter.

Im vorliegenden Fall führe die Anwendung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG idF BudgetbegleitG 2011 zu einer Verkürzung des maßgeblichen Beobachtungszeitraums von 15 Jahren auf 5 ½ Jahre bzw 66 Monate, da die Klägerin ihre erste berufsschutzbegründende (inländische) Ausbildung durch erfolgreiche Ablegung der Lehrabschlussprüfung als Köchin im Juni 2005 abgeschlossen habe und vorher nur als ungelernte Arbeiterin ohne abgeschlossene Berufsausbildung erwerbstätig gewesen sei. Da zwischen dem Ende der Ausbildung der Klägerin und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen, komme die „Hälfteregelung“ zur Anwendung, welche die Klägerin ebenso wie die Mindestdauer von 12 Monaten qualifizierter Tätigkeit erfülle. Die Klägerin habe nämlich nach Ablegung der Lehrabschlussprüfung als Köchin ihren erworbenen Berufsschutz erhaltende qualifizierte Teiltätigkeiten dieses Lehrberufs ausgeübt. Sie erfülle damit aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlauts die Anspruchsvoraussetzung nach § 255 Abs 2 ASVG idF BudgetbegleitG 2011, auch wenn die Gesetzesänderung entgegen der erklärten Absicht des Gesetzgebers im vorliegenden Fall zu einer Erleichterung bei der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für eine Invaliditätspension nach dieser Gesetzesstelle gegenüber der früheren Rechtslage führe. Da die Klägerin ihren erlernten Beruf als Köchin jedenfalls bis Jahresende 2011 nicht ausüben könne, sei sie invalide iSd § 255 Abs 1 ASVG. Da eine eindeutige Aussage darüber fehle, wann sich der Zustand der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit soweit gebessert haben werde, dass sie ihren erlernten Beruf wieder ausüben könne, sei ihr eine auf den Zeitraum von zwei Jahren befristete Invaliditätspension zu gewähren.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zu der über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Rechtsfrage der Auslegung des § 255 Abs 2 iVm Abs 2a ASVG idF BudgetbegleitG 2011 noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

Gegen den stattgebenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die rechtzeitige Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinn einer Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.

Die beklagte Partei macht in ihrem Rechtsmittel im Wesentlichen geltend, im Rahmen der Gesetzesauslegung dürfe sich der Rechtsanwender bei der Erforschung des Wortsinns einer Norm nicht auf die isolierte Betrachtung einzelner Worte beschränken, sondern müsse diese Worte in ihrem Zusammenhang beurteilen. Der Gesetzgeber habe durch die mit dem BudgetbegleitG 2011 erfolgte Änderung unmissverständlich einen Mindestbeobachtungszeitraum einrichten wollen, in welchem eine Mindestanzahl von qualifizierten Beitragsmonaten der Pflichtversicherung erworben worden sein müsse, um von einem Berufsschutz ausgehen zu können. Dieser Mindestbeobachtungszeitraum von 15 Jahren vor dem Stichtag und die Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungs-monaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit stellten die „Grundnorm“ und den Beurteilungsmaßstab dar, von dem (aus nachvollziehbaren Gründen) dann abgegangen werden könne, wenn die Möglichkeit diese Zeiten zu erwerben, aufgrund eines jungen Jahrgangs gar nicht bestanden habe. Der Abschluss der Schulausbildung oder Hochschulausbildung gelte wie der Abschluss eines Lehrberufs sowie der Abschluss einer dem Schul oder Lehrabschluss vergleichbaren Ausbildung gemäß der Legaldefinition des § 255 Abs 2a ASVG als Ende der Ausbildung nach Abs 2. Durch diese Formulierung sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass die Annahme einer qualifizierten Tätigkeit frühestens ab Schul oder Lehrabschluss in Betracht kommen könne und nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass bei späterem, erst im Laufe des Berufslebens erfolgten Abschluss von der „Regel“ des erforderlichen Beobachtungszeitraums abzusehen sei und gleichsam die vor dem Abschluss liegenden Beitragsmonate „neutralisiert“ werden. Konkret bedeutet dies, dass bei nachträglichem Abschluss einer Lehre bei bereits vorhandenen unqualifizierten Versicherungszeiten diese nach der Ansicht des Gesetzgebers nicht ausgeblendet werden können, um damit eine sachlich nicht gerechtfertigte Verkürzung des Beobachtungszeitraums zu erzielen.

Rechtliche Beurteilung

Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:

1. Nach § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG idF vor der Änderung durch das BudgetbegleitG 2011 gelten als überwiegend iSd Abs 1 solche erlernte (angelernte) Berufstätigkeiten, wenn sie in mehr als der Hälfte der Beitragszeiten nach diesem Bundesgesetz während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübt wurden. Der Gesetzgeber stellte somit auf das relative Überwiegen der Ausübung der qualifizierten Tätigkeit hinsichtlich der Zahl der Beitragsmonate in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag ab. Es reichten daher auch sehr wenige Monate dieser Beschäftigung zur Erlangung des Berufsschutzes aus, wenn in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag generell sehr wenige Beitragsmonate (zB bei langdauernder Arbeitslosigkeit) vorlagen.

2. Die beklagte Partei zieht zu Recht die Richtigkeit der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, durch die Gesetzesänderung des § 255 Abs 2 ASVG durch das BudgetbegleitG 2011 sei ein neuer Stichtag () ausgelöst worden und das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen sei zu diesem Stichtag zu prüfen (vgl 10 ObS 302/01m, SSV NF 15/119 mwN; RIS Justiz RS0084533), nicht in Zweifel.

2.1 Nach § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG idF BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) liegt eine überwiegende Tätigkeit iSd Abs 1 vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r ausgeübt wurde. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (Abs 2a) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r vorliegen. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (Abs 2a) und dem Stichtag mehr als 15 Jahre, so verlängert sich der im zweiten Satz genannte Rahmenzeitraum um Versicherungsmonate nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a, d, e und g.

2.2 Nach § 255 Abs 2a ASVG gelten als Ende der Ausbildung nach Abs 2 der Abschluss eines Lehrberufs, der Abschluss einer mittleren oder höheren Schulausbildung oder Hochschulausbildung sowie der Abschluss einer dem Schul oder Lehrabschluss vergleichbaren Ausbildung, jedenfalls aber der Beginn einer Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r.

2.3 Nach den Gesetzesmaterialien (RV 981 BlgNR 24. GP 205) soll künftig nur eine längere tatsächliche Ausübung des erlernten (angelernten) Berufs geschützt werden und daher zur Erlangung des Berufsschutzes erforderlich sein. Als Erfordernis für das Bestehen eines Berufsschutzes wird die Ausübung von mindestens 7,5 Jahren einer solchen qualifizierten Tätigkeit innerhalb von 15 Jahren vor dem Stichtag vorgeschlagen. Liegen weniger als 15 Kalenderjahre vor, so muss (für die Erlangung des Berufsschutzes) zumindest in der Hälfte der vorliegenden Monate eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt worden sein („Hälfteregelung“), wobei für die Erlangung des Berufsschutzes als absolute Untergrenze zwölf Monate einer qualifizierten Tätigkeit normiert sind. Die „Beobachtungsjahre“ (15 Kalenderjahre oder „Hälfteregelung“) werden bei ArbeiterInnentätigkeiten vom Stichtag zurück bis zum Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung (Anlernzeit), nach der die versicherte Person ins Berufsleben eintritt, gerechnet. Liegen mehr als 15 Beobachtungsjahre vor und fallen in den Beobachtungszeitraum Zeiten der Kindererziehung (höchstens vier Jahre pro Kind), Wochengeld, Präsenz oder Zivildienst, so erfolgt eine Ausdehnung der Rahmenfrist um diese Zeiten („Rahmenfristerstreckung“). Liegen weniger als 15 Beobachtungsjahre vor, so ist eine Ausdehnung des Beobachtungszeitraums nicht möglich. Für diese Personengruppe gilt die „Hälfteregelung“ bezogen auf den Berufsschutz unbeschränkt.

3. Die Gesetzesauslegung hat mit der Erforschung des Wortsinns der Norm zu beginnen. Eine darüber hinausgehende Auslegung ist erforderlich, wenn die Formulierung mehrdeutig, missverständlich oder unvollständig ist, wobei der äußerste Wortsinn die Grenze jeglicher Auslegung bildet. Bleiben im Rahmen des möglichen Wortsinns Unklarheiten über die konkrete Bedeutung eines Wortes oder Rechtssatzes bestehen, muss der Rechtsanwender versuchen, aus dem Bedeutungszusammenhang ein eindeutiges Auslegungsergebnis zu erzielen (systematisch logische Auslegung). Diese Auslegung zieht zum besseren Verständnis einer Norm andere damit im Kontext stehende Normen heran, um Wertungswidersprüche innerhalb eines Gesetzes bzw der Rechtsordnung zu vermeiden. Bleibt die Ausdrucksweise des Gesetzes zweifelhaft und unklar, soll auf die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes und die Absicht des Gesetzgebers zurückgegriffen werden. Anhaltspunkte für den Willen des Gesetzgebers finden sich etwa in Regierungsvorlagen oder Ausschussberichten. Erläuternde Bemerkungen können das Verständnis einer unklaren Gesetzesstelle fördern, weshalb sie zur Auslegung heranzuziehen sind, sofern sie nicht eindeutig im Widerspruch zum Gesetz stehen. Ein Rechtssatz, der im Gesetz nicht einmal angedeutet ist, kann aber auch nicht durch Auslegung Geltung erlangen. Wenn die Auslegung einer Norm mit Hilfe des Wortlauts, des Bedeutungszusammenhangs und nach der Absicht des Gesetzgebers zu widersprechenden Ergebnissen führt, kommt letztlich der teleologischen Auslegung, die den Sinn einer Bestimmung unter Bedachtnahme auf den Zweck der Regelung zu erfassen sucht, das entscheidende Gewicht zu (10 ObS 105/11f mwN). Wenn aber die unzweifelhafte „Ausdrucksweise“ des Gesetzes in seinem wörtlichen (nächstliegenden) Verständnis keine offenbaren Wertungswidersprüche in der Rechtsordnung provoziert, mit bestehendem Wertungskonsens innerhalb der Rechtsgemeinschaft nicht unvereinbar ist und auch der „Natur der Sache“ nicht zuwiderläuft, ist es nicht Aufgabe der Gerichte, durch weitherzige Interpretation rechtspolitische oder wirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen, die den Gesetzgeber (bewusst oder unbewusst) nicht veranlasst haben, Gesetzesänderungen vorzunehmen; allenfalls als unbefriedigend erachtete Gesetzesbestimmungen zu ändern oder zu beseitigen, ist nicht Sache der Rechtsprechung (RIS Justiz RS0009099).

4. Der Gesetzgeber stellt in § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG für die Erlangung eines Berufsschutzes weiterhin auf die überwiegende Ausübung einer qualifizierten Tätigkeit in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag („Rahmenzeitraum“) ab. Während der Gesetzgeber bisher auf das relative Überwiegen der qualifizierten Tätigkeit hinsichtlich der Zahl der Beitragsmonate in diesem Zeitraum abstellte, soll nunmehr nur noch eine längere tatsächliche Ausübung des erlernten (angelernten) Berufs geschützt werden und einen Berufsschutz begründen. Der Gesetzgeber sieht als Erfordernis für die Erlangung eines Berufsschutzes für den Regelfall, bei dem zwischen dem Ende der Ausbildung bzw dem Eintritt in das Berufsleben und dem Stichtag für die aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit begehrte Pensionsleistung mehr als 15 Jahre liegen, die Ausübung von mindestens 7,5 Jahren einer solchen qualifizierten Tätigkeit innerhalb von 15 Jahren vor dem Stichtag („Rahmenzeitraum“) vor. Der Gesetzgeber geht somit für den Regelfall davon aus, dass erst bei Vorliegen einer Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungs-monaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit im Rahmenzeitraum von einer „überwiegenden“ Ausübung der qualifizierten Tätigkeit im Rahmenzeitraum ausgegangen werden kann.

4.1 Die „Beobachtungsjahre“ sind bei ArbeiterInnentätigkeiten vom Stichtag zurück bis zum Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung (Anlernzeit), nach der die versicherte Person ins Berufsleben eintritt, zu rechnen. Der Gesetzgeber hat in § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG idF des BudgetbegleitG 2011 für Fälle, in denen der maßgebende Rahmenzeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag als Beobachtungszeitraum nicht in Betracht kommt, weil zwischen dem Ende der Ausbildung (= Abschluss der ersten berufsschutzbegründenden Ausbildung, nach der die versicherte Person ins Berufsleben eintritt) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen, eine spezielle Regelung dahingehend geschaffen, dass für die Erlangung des Berufsschutzes zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine (qualifizierte) Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r vorliegen muss („Hälfteregelung“).

4.2 Das Berufungsgericht hat diese „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG auch auf den Fall der Klägerin angewendet und dies damit begründet, dass auch dieser Fall vom Wortlaut der Norm umfasst sei, weil zwischen dem Ende der Berufsausbildung der Klägerin im Juni 2005 und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen. Das Berufungsgericht hat allerdings selbst eingeräumt, dass durch diese Auslegung der mit der Novellierung des § 255 Abs 2 ASVG durch das BudgetbegleitG 2011 verbundene Zweck einer Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen für die Erlangung eines Berufsschutzes im vorliegenden Fall in das Gegenteil verkehrt werde.

4.3 Nach Ansicht des erkennenden Senats ist bei der Auslegung der Bestimmung des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG jedoch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber, wie sich aus den zitierten Gesetzesmaterialien und den dort angeführten Beispielen ergibt, auch bei dieser Bestimmung vom Regelfall des Abschlusses einer Lehrausbildung mit ca 18 Jahren und dem anschließenden Eintritt des Versicherten in das Berufsleben ausgegangen ist, wobei zwischen diesem Zeitpunkt und dem Stichtag für die begehrte Pensionsleistung ein Zeitraum von weniger als 15 Beobachtungsjahren liegt. Der Gesetzgeber hat somit nach Ansicht des erkennenden Senats mit der Bestimmung des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG eine spezielle Regelung für jene Versicherten getroffen, bei denen zwischen dem Ende der Ausbildung bzw dem Eintritt in das Berufsleben und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen und denen daher der Erwerb der Mindestversicherungszeit von 90 Pflichversicherungsmonaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit von vornherein nicht möglich war. In diesem Fall genügt es für die Erlangung des Berufsschutzes ausnahmsweise, dass zumindest in der Hälfte der Kalendermonate eine qualifizierte Erwerbstätigkeit vorliegt, wobei als absolute Untergrenze zwölf Pflichtversicherungmonate einer qualifizierten Erwerbstätigkeit vorliegen müssen.

4.4 Ein solcher Fall des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG liegt jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber des BudgetbegleitG 2011 mit der Neuregelung des Berufsschutzes in § 255 Abs 2 ASVG bezweckten Verschärfung der Anforderungen an die Erlangung des Berufsschutzes hier nicht vor, weil bei der Klägerin im Hinblick auf ihren erstmaligen Eintritt in das Berufsleben im Juli 1990 ein Zeitraum von mehr als 15 Beobachtungsjahren vorliegt und ihr damit auch ein für die Erfüllung der Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungs-monaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit nach der Wertung der Gesetzgebers ausreichender Rahmenzeitraum von 15 Jahren vor dem Stichtag zur Verfügung stand. Es besteht daher nach Ansicht des erkennenden Senats im Fall der Klägerin kein Anlass für eine sachlich nicht gerechtfertigte Verkürzung des gesetzlich vorgesehenen 15jährigen Rahmenzeitraums für die Beurteilung des Vorliegens eines Berufsschutzes.

4.5 Die Frage, ob die Klägerin Berufsschutz als gelernte Köchin genießt, ist daher nach der allgemeinen Regelung des § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG idF des BudgetbegleitG 2011 zu beurteilen. Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen unbestritten nicht, weil sie nach den Feststellungen im maßgebenden Rahmenzeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag nicht in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine qualifizierte Erwerbstätigkeit als (gelernte) Köchin ausgeübt hat.

4.6 Gegen dieses Ergebnis bestehen entgegen der Rechtsansicht der Klägerin auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Es erscheint keineswegs unsachlich, dass der Gesetzgeber für die Erlangung des Berufsschutzes grundsätzlich auf das Vorliegen einer bestimmten Mindestversicherungszeit einer qualifizierten Erwerbstätigkeit in einem bestimmten Rahmenzeitraum und bei jenen Versicherten, bei denen nur ein kürzerer Beobachtungszeitraum vorliegt, auf das Erfordernis der sogenannten „Halbdeckung“ mit einer absoluten Untergrenze von zwölf Monaten einer qualifizierten Tätigkeit abstellt.

4.7 Da sich schließlich auch aus der in § 255 Abs 2 letzter Satz ASVG vorgesehenen Verlängerung des Rahmenzeitraums von 15 Jahren um die in § 8 Abs 1 Z 2 ASVG genannten Zeiten der Kindererziehung, des Wochengeldbezugs sowie der Präsenz und Zivildienstleistung für den Prozessstandpunkt der Klägerin kein günstigeres Ergebnis ableiten lässt, kommt ihr entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts kein Berufsschutz nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG idF des BudgetbegleitG 2011 zu.

5. Die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Klägerin kann nach den Feststellungen noch eine Reihe von Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten und ist daher nicht invalide iSd § 255 Abs 3 ASVG.

Es war somit in Stattgebung der Revision der beklagten Partei das zur Gänze klagsabweisende Ersturteil im Ergebnis wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens und Vermögensverhältnisse, die einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht bescheinigt und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.