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VfGH vom 01.12.2009, B727/09

VfGH vom 01.12.2009, B727/09

Sammlungsnummer

18925

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch willkürliche Einstellung des Bezugs von Notstandshilfe mangels Arbeitsfähigkeit angesichts einer Bescheidbegründung ohne Begründungswert; insbesondere fehlende Auseinandersetzung mit der Frage der gegenseitigen Anerkennung von medizinischen Sachverständigengutachten

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.400,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Am stellte der Beschwerdeführer, der an

einer chronischen Lebererkrankung sowie eingeschränkter Bewegungsfähigkeit leidet, einen Antrag auf Invaliditätspension, welcher am abgelehnt wurde. Gegen die Ablehnung erhob der Beschwerdeführer Klage, zog diese am jedoch wieder zurück. Die vom Landesgericht als Arbeits- und Sozialgericht Linz eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten hatten dem Beschwerdeführer Arbeitsfähigkeit, wenn auch eingeschränkt auf leichte Arbeiten, attestiert. Angesichts dieser "eindeutigen Sachlage" habe sich der Beschwerdeführer "gezwungen" gefühlt, die Klage vor Urteilsfällung zurückzuziehen.

Infolge der Erschöpfung des Anspruchs auf Krankengeld mit erhielt der Beschwerdeführer einen Pensionsvorschuss ab .

Am stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf Invaliditätspension, der mit Bescheid vom abgelehnt wurde. Die gegen diese Ablehnung eingereichte Klage wurde am vom Beschwerdeführer - aus dem gleichen Grund wie bei der ersten Zurückziehung der Klage - zurückgezogen.

Der am gestellte, nächste Antrag auf Invaliditätspension wurde mit Bescheid vom abgelehnt. Die dagegen eingebrachte Klage wurde am - aus dem gleichen Grund wie bei der ersten und zweiten Zurückziehung der Klage - zurückgezogen.

Am stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Weiterbezug der Notstandshilfe, welche er bis dahin bereits bezogen hatte und welche ihm nach Antragstellung weiterhin ausbezahlt wurde. Das durch die erstinstanzliche Behörde eingeholte ärztliche Gutachten vom ergab allerdings, dass der Beschwerdeführer weder im erlernten noch im zuletzt ausgeübten Beruf arbeitsfähig sei. Die erstinstanzliche Behörde stellte daraufhin den Bezug der Notstandshilfe gemäß § 38 iVm §§7, 8 Abs 1 und § 24 Abs 1 AlVG mit Wirkung ab ein. Dagegen wurde durch den Beschwerdeführer am Berufung eingebracht.

Mit dem angefochtenen Berufungsbescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Oberösterreich (Ausschuss für Leistungsangelegenheiten) vom wurde die Einstellung des Bezugs der Notstandshilfe mangels Arbeitsfähigkeit gemäß § 38 iVm §§7, 8 und 24 AlVG bestätigt.

2.1. Gegen diesen - letztinstanzlichen - Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art 144 Abs 1 B-VG. Darin behauptet der Beschwerdeführer, durch den bekämpften Bescheid in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt zu sein, und beantragt, den Bescheid kostenpflichtig aufzuheben.

2.2. Der Beschwerdeführer bringt insbesondere vor, dass die Behörde der in § 8 Abs 3 AlVG vorgesehenen Verpflichtung zur Anerkennung der Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt, welche (zuletzt im Jahre 2007) ergeben hätten, dass der Beschwerdeführer arbeitsfähig wäre, nicht nachgekommen sei. Darauf habe der Beschwerdeführer in seiner Berufung ausdrücklich hingewiesen, die belangte Behörde habe dieses Vorbringen im angefochtenen Bescheid jedoch lediglich wiedergegeben, aber keine Stellung dazu genommen.

Der Beschwerdeführer erhalte derzeit keine Notstandshilfe, könne aber auch keinen Antrag auf Invaliditätspension stellen, da gemäß § 362 Abs 1 und 2 ASVG ein vor Ablauf eines Jahres nach Rechtskraft der letzten Entscheidung neuerlich eingebrachter Antrag zurückzuweisen sei, sofern nicht eine wesentliche Änderung der zuletzt festgestellten Beschwerden eingetreten sei. Dies führe dazu, dass der Beschwerdeführer mangels gegenseitiger Anerkennung der Gutachten weder Notstandshilfe beziehe, noch einen weiteren Antrag auf Invaliditätspension stellen könne. Die Bestimmung des § 8 Abs 3 AlVG diene jedoch eben dazu, solche Fälle zu verhindern.

3. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen, und insbesondere ausführt:

"Der belangten Behörde liegt auszugsweise das Gutachten der PVA aus dem Jahre 2007 vor.

Aufgrund der mehrmaligen Pensionsbeantragung und des laufenden Krankenstands vermittelt der Beschwerdeführer jedenfalls, dass er sich nicht arbeitsfähig fühle. Bei der belangten Behörde entstand[en] anlässlich der bekannt gegebenen neuerlichen Zurückziehung der Klage und neuerlich beantragten Notstandshilfe starke Zweifel an der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers, weshalb ein Verfahren zur Abklärung beim Vertragsarzt eingeleitet wurde.

Zur ärztlichen Untersuchung waren alle bisherigen Befunde vom Beschwerdeführer mitzubringen. Der Vertragsarzt erstellte am das Gutachten, wonach der Beschwerdeführer im erlernten Beruf, zuletzt ausgeübten Beruf und in der vorgesehenen Tätigkeit (Anmerkung: Pizzakoch, Hilfsarbeiter) arbeitsunfähig ist.

Die belangte Behörde gelangte daher zu dem Schluss, dass Arbeitsunfähigkeit - im Sinne einer Invalidität - vorliegt.

Der Beschwerdeführer verweist auf die gegenseitige Anerkennung der Gutachten sowie darauf, dass er - sofern keine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes eintritt - er keinen Antrag auf Invaliditätspension stellen kann.

Die belangte Behörde vertritt die Meinung, dass das jüngere ärztliche Gutachten im Hinblick auf die im § 8 Abs 3 AlVG normierte gegenseitige Anerkennung der Gutachten zumindest ausreichend ist, einen neuen Antrag auf Invaliditätspension zu stellen."

II. Die - zulässige - Beschwerde ist im Ergebnis begründet.

1. Gemäß § 38 iVm § 7 Abs 1 und 2, § 8 Abs 1 AlVG besteht Anspruch auf Notstandshilfe unter anderem unter der Voraussetzung, dass Arbeitsfähigkeit vorliegt.

§ 7 Abs 1 und 2 und § 8 Abs 1 und 3 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977, BGBl. 609/1977 idF BGBl. I 90/2009, lauten:

"§7. Voraussetzungen des Anspruchs

(1) Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, wer


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1.
der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht,
2.
die Anwartschaft erfüllt und
3.
die Bezugsdauer noch nicht erschöpft hat.

(2) Der Arbeitsvermittlung steht zur Verfügung, wer eine

Beschäftigung aufnehmen kann und darf (Abs3) und arbeitsfähig (§8),

arbeitswillig (§9) und arbeitslos (§12) ist.

(3) - (8) [...]

§ 8. Arbeitsfähigkeit

(1) Arbeitsfähig ist, wer nicht invalid beziehungsweise

nicht berufsunfähig im Sinne der für ihn in Betracht kommenden

Vorschriften der §§255, 273 beziehungsweise 280 des Allgemeinen

Sozialversicherungsgesetzes ist.

(2) [...]

(3) Die ärztlichen Gutachten der regionalen Geschäftsstellen einerseits und der Sozialversicherungsträger andererseits sind, soweit es sich um die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit handelt, gegenseitig anzuerkennen. Die erforderlichen Maßnahmen trifft der Bundesminister für soziale Verwaltung nach Anhören des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger."

2.1. Bedenken gegen die angewendeten Rechtsvorschriften wurden nicht vorgebracht und sind aus Anlass des vorliegenden Falles auch nicht entstanden.

2.2. Angesichts der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsvorschriften und des Umstandes, dass kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass die Behörde diesen Vorschriften fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt hat, könnte der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nur verletzt worden sein, wenn die Behörde Willkür geübt hätte.

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).

Einer Behörde kann auch dann, wenn sie unrichtig entschieden hat, nicht Willkür zur Last gelegt werden, sofern sie nur bemüht war, richtig zu entscheiden, indem sie Gründe und Gegengründe gegeneinander abgewogen hat. Dies bedeutet, dass es in der Regel nicht ausreichen würde, wenn die Behörde nur die für die Abweisung eines Anspruches maßgeblichen Gründe aufzählt, es jedoch unterlässt, sich mit den Gründen auseinanderzusetzen, die für die Bejahung der Anspruchsberechtigung zu sprechen scheinen, sodass sie gar nicht in die Lage kommen könnte, Gründe und Gegengründe einander gegenüberzustellen und dem größeren Gewicht der Argumente den Ausschlag geben zu lassen (zB VfSlg. 12.477/1990, 15.696/1999, 15.698/1999 und 15.826/2000).

Ein willkürliches Verhalten liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (s. etwa VfSlg. 13.302/1992 mit weiteren Judikaturhinweisen, 14.421/1996, 15.743/2000).

2.3. Die belangte Behörde hat den angefochtenen Bescheid mit Ausführungen ohne jeglichen Begründungswert begründet:

Im angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde der Sache nach lediglich die Begründung der erstinstanzlichen Behörde für zutreffend erklärt und es unterlassen, eigene nachvollziehbare Ausführungen vorzunehmen oder die Argumente der erstinstanzlichen Behörde konkret aufzuzeigen. Insbesondere lässt der angefochtene Bescheid jegliche Auseinandersetzung mit der Frage der gegenseitigen Anerkennung von Gutachten nach § 8 Abs 3 AlVG vermissen. Das Vorbringen des Beschwerdeführers wird von der belangten Behörde insoweit völlig außer Acht gelassen. Lediglich in der Gegenschrift wird ausgeführt, dass das zeitlich nach Vorliegen des Gutachtens der Pensionsversicherungsanstalt durch die erstinstanzliche Behörde eingeholte Gutachten wohl ausreichen könnte, um einen neuen Antrag auf Invaliditätspension zu stellen. Diese Feststellung genügt nicht der Pflicht der belangten Behörde, sich mit den Argumenten des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen, und hat keinerlei Begründungswert.

Die weitgehend lediglich formelhafte Begründung ist insgesamt nicht in einer Weise nachvollziehbar, dass dem Willkürverbot des Gleichheitssatzes entsprochen würde.

2.4. Eine Behörde, die sich derartig leichtfertig über das Vorbringen einer Partei hinwegsetzt und für ihre Entscheidung wesentliche Fragen gar nicht untersucht, belastet den von ihr erlassenen Bescheid nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes mit Willkür (vgl. etwa VfSlg. 8808/1980). Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Bescheid wegen Willkür der belangten Behörde im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid ist daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.