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OGH vom 30.01.2018, 11Os9/18k (11Os11/18d)

OGH vom 30.01.2018, 11Os9/18k (11Os11/18d)

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger, Mag. Michel und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Pichler als Schriftführerin in der Strafsache gegen Dmytro H***** wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 achter Fall, Abs 4 Z 1 SMG und einer weiteren strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur gegen einen Beschluss des Landesgerichts Leoben vom , GZ 35 Hv 21/17v-13, und einen Vorgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Staatsanwalt Dr. Hubmer, zu Recht erkannt:

Spruch

Im Strafverfahren gegen Dmytro H*****, AZ 35 Hv 21/17v des Landesgerichts Leoben, verletzen

1./ der in der Hauptverhandlung vom erfolgte Vortrag von Aktenstücken § 252 Abs 2a StPO, in Bezug auf das Protokoll über die Vernehmung des Eric S***** als Beschuldigter und den polizeilichen Aktenvermerk vom , soweit er Angaben des Zeugen Rene K***** enthielt, iVm Abs 1 leg cit;

2./ der gemeinsam mit dem Urteil vom , GZ 35 Hv 21/17v-13, verkündete Beschluss auf Widerruf der Dmytro H***** mit Urteil des Bezirksgerichts Leoben vom , AZ 3 U 265/12w, gewährten bedingten Strafnachsicht § 494a Abs 3 StPO.

Der zu 2./ genannte Beschluss wird aufgehoben. Die Entscheidung über den Widerruf der Dmytro H***** mit Urteil dieses Gerichts gewährten bedingten Strafnachsicht kommt dem Bezirksgericht Leoben zu AZ 3 U 265/12w zu.

Text

Gründe:

In der Strafsache des Landesgerichts Leoben gegen Dmytro H*****, AZ 35 Hv 21/17v, legte die Staatsanwaltschaft Leoben dem Genannten mit Strafantrag als mehrere Vergehen nach § 27 SMG beurteiltes Verhalten vom , darunter die entgeltliche Überlassung von THC-hältigem Marihuana an den abgesondert verfolgten (minderjährigen) Eric S*****, zur Last (ON 3).

In der Hauptverhandlung erschien der Angeklagte zum Termin am , nicht jedoch zu jenem am , weshalb der Einzelrichter den Beschluss auf Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit des bereits am gemäß § 245 StPO vernommenen Angeklagten fasste, weil dieser trotz Zustellung der Ladung durch Hinterlegung nicht erschienen war (ON 12 S 5).

In Abwesenheit des Angeklagten wurden im Einverständnis mit der öffentlichen Anklägerin gemäß „§ 252 Abs 1 Z 4, Abs 2 und 2a StPO … der gesamte Akteninhalt“ sowie die „Beiakten: 3 U 265/12w des Bezirksgerichts Leoben“ und „33 BE 122/15z“ (des Landesgerichts Leoben) „verlesen, wobei mit [deren] Zustimmung in einer wörtlichen Verlesung eine resümierende Darstellung in der Hauptverhandlung erfolgte“ (ON 12 S 7).

Mit – rechtskräftigem – Abwesenheitsurteil vom selben Tag, GZ 35 Hv 21/17v-13, wurde Dmytro H***** der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften „nach § 27 Abs 1 Z 1 erster, zweiter und achter Fall, teils in Verbindung mit Abs 4 Z 1 SMG“ schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten verurteilt. Gemäß § 43a Abs 3 iVm § 43 Abs 1 StGB wurde ein Teil dieser Strafe im Ausmaß von zwölf Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

Gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO iVm § 53 Abs 1 StGB wurde die mit Urteil des Bezirksgerichts Leoben vom , AZ 3 U 265/12w, gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen und gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO iVm § 53 Abs 1 und 3 StGB vom Widerruf der mit Urteil des Landesgerichts Leoben vom , AZ 14 Hv 109/15b, gewährten bedingten Strafnachsicht sowie der mit Beschluss des Landesgerichts Leoben vom , AZ 33 BE 122/15z, gewährten bedingten Entlassung abgesehen und gemäß § 494a Abs 6 StPO die Probezeit jeweils auf fünf Jahre verlängert.

Rechtliche Beurteilung

II./ Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen das Vorgehen des Landesgerichts Leoben in der Hauptverhandlung am und der gemeinsam mit dem Abwesenheitsurteil verkündete Beschluss auf Widerruf der mit Urteil des Bezirksgerichts Leoben vom , AZ 3 U 265/12w, gewährten bedingten Strafnachsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:

1./ Gemäß § 252 Abs 1 StPO (iVm § 488 Abs 1 StPO) dürfen – soweit hier wesentlich – Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen, Protokolle über die Aufnahme von Beweisen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen (gegenüber Sicherheitsorganen oder der Behörde getätigte) Aussagen von Zeugen oder Mitbeschuldigten (siehe dazu etwa Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 34, 36, 37, 49; § 151 Rz 4, 8; § 152 Rz 1, 4) festgehalten worden sind, bei sonstiger Nichtigkeit nur in den in Z 1 bis Z 4 vorgesehenen Fällen verlesen oder vorgeführt werden. Gemäß Z 4 ist dies zulässig, wenn Ankläger und Angeklagter mit der Verlesung einverstanden sind.

Gegen den Angeklagten früher ergangene Straferkenntnisse, Amtsvermerke über einen Augenschein, Befunde sowie Urkunden und Schriftstücke anderer Art, die für die Sache von Bedeutung sind (zB Anzeigen und Berichte der Polizei über ihre Erhebungen; RIS-Justiz RS0098456; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 124), müssen hingegen gemäß § 252 Abs 2 StPO in der Hauptverhandlung verlesen werden.

Anstelle der Verlesung kann der Vorsitzende gemäß § 252 Abs 2a StPO den erheblichen Inhalt der Aktenstücke vortragen, soweit die Beteiligten des Verfahrens zustimmen.

Aus dem Nichterscheinen des (selbst gesetzeskonform geladenen) Angeklagten zur Hauptverhandlung kann dessen Einverständnis mit einer Verlesung oder einem Vortrag nicht abgeleitet werden (RIS-Justiz RS0117012; Bauer, WK-StPO § 427 Rz 13; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103, 134).

Demnach entsprach es nicht dem Gesetz, die Aussage des vor der Polizei als Beschuldigter vernommenen Eric S***** (ON 2 S 11 ff) sowie den die Angaben des Zeugen Rene K***** enthaltenden kriminalpolizeilichen Aktenvermerk vom (ON 2 S 15 f) vorzutragen (§ 252 Abs 2a iVm Abs 1 StPO) und von der Verlesung des „erheblichen Inhalts“ (siehe dazu allerdings RIS-Justiz RS0110681) sämtlicher Aktenstücke und der beigeschafften Akten zugunsten einer resümierenden Darstellung abzusehen (§ 252 Abs 2a iVm Abs 2 StPO).

2./ Gemäß § 494a Abs 3 StPO hat das Gericht vor der Entscheidung über den Widerruf einer bedingten Nachsicht den Ankläger, den Angeklagten und den Bewährungshelfer zu hören und Einsicht in die Akten über frühere Verurteilungen zu nehmen. Von der Anhörung des Angeklagten kann abgesehen werden, wenn das Urteil in seiner Abwesenheit gefällt wird und ein Ausspruch nach Abs 1 Z 1 oder 2 leg cit erfolgt. Anstelle der Einsicht in die Akten kann sich das Gericht mit einer Einsicht in eine Abschrift des früheren Urteils begnügen, wenn dieses eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung nach Abs 1 leg cit darzustellen vermag.

§ 494a Abs 6 StPO zufolge kann das erkennende Gericht in einem Beschluss, mit dem vom Widerruf einer bedingten Nachsicht oder bedingten Entlassung abgesehen wird, auch die Probezeit verlängern.

Die im gegenständlichen Fall zwar nicht den Kriterien des § 252 Abs 2a StPO, wohl aber einer Einsichtnahme in die Vorstrafakten (§ 494a Abs 3 StPO) entsprechende Vorgangsweise des Landesgerichts ermöglicht zwar die mit einem Absehen vom Widerruf gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO verbundene Verlängerung der Probezeit (§ 494a Abs 6 StPO). Mangels Anhörung des Angeklagten (ON 9, 12, 20) verstößt aber der gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO ausgesprochene Widerruf der bedingten Strafnachsicht der mit Urteil des Bezirksgerichts Leoben vom , AZ 3 U 265/12w, gewährten bedingten Strafnachsicht gegen § 494a Abs 3 StPO (RIS-Justiz RS0111829). Denn nicht einmal die Ladung des Angeklagten zur Hauptverhandlung enthielt einen Hinweis, dass diese auch als Ladung zur Äußerung zum (im Strafantrag nicht beantragten) Widerruf anzusehen wäre (Jerabek, WK-StPO § 494a Rz 8).

Die zu 2./ aufgezeigte Gesetzesverletzung ist geeignet, sich zum Nachteil des Verurteilten auszuwirken, weshalb deren Feststellung in Ausübung des dem Obersten Gerichtshof gemäß § 292 letzter Satz StPO zustehenden Ermessens mit konkreter Wirkung zu verknüpfen war. Damit kommt dem Bezirksgericht Leoben im Stammverfahren die entsprechende Entscheidungskompetenz zu (§ 495 Abs 1 StPO).

Die weiteren Gesetzesverletzungen gereichen dem Verurteilten nicht zum Nachteil, weil der Vortrag von Aktenstücken zwar mit den aufgezeigten Rechtsfehlern behaftet ist, Eric S***** und Rene K***** jedoch ohnedies unmittelbar (§ 13 Abs 1 StPO) vor dem erkennenden Gericht als Zeugen vernommen wurden (ON 9, 12) und deren Angaben inhaltlich mit den verlesenen Aktenstücken korrespondieren. Hinsichtlich der Verlesung weiterer Strafakten und Aktenteile ist – vom beanstandeten Widerruf abgesehen – kein aus dem Gesetzesverstoß entstandener Nachteil zu erkennen. Die diesbezüglichen Gesetzesverletzungen waren demnach (bloß) festzustellen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2018:0110OS00009.18K.0130.000
Schlagworte:
Strafrecht;

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