OGH vom 20.03.1986, 13Os3/86
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Müller als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schneider, Dr. Felzmann, Dr. Brustbauer und Dr. Massauer als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Jagschitz als Schriftführerin in der Strafsache gegen Erwin S*** wegen des Verbrechens der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs. 1 StGB. und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Schöffengerichts vom , GZ 27 Vr 2859/84-34, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Über die Berufung wird bei einem Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung entschieden werden.
Text
Gründe:
Der am (im erstgerichtlichen Urteilskopf unrichtig: 1956) geborene Erwin S*** wurde des an seiner am geborenen Tochter Anita S*** begangenen Verbrechens (unrichtig: Vergehens) der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs. 1 StGB. (I 2) sowie der Vergehen der Nötigung zur Unzucht nach § 204 Abs. 1 StGB. (I 1), des Mißbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs. 1 (erster Fall) StGB. (I 3) und der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB. (II) schuldig erkannt. Diese Schuldsprüche bekämpft der Angeklagte mit einer auf § 281 Abs. 1 Z. 3 und 4 StPO. gestützten Nichtigkeitsbeschwerde. Er erblickt diese Nichtigkeitsgründe in der gegen seinen Widerspruch (S. 186) vorgenommenen Verlesung der Angaben der Anita S*** bei der Bundespolizeidirektion Linz (S. 15 bis 18) als Bestandteil der Anzeige (ON. 2). Dieses Beweismittel war - neben anderen - für die Widerlegung der in der Hauptverhandlung leugnenden Verantwortung des Angeklagten und damit für die Schuldsprüche von Bedeutung (S. 195 ff.). Anita S*** hat in der Hauptverhandlung von dem ihr gemäß § 152 Abs. 1 Z. 1 StPO. zustehenden Entschlagungsrecht Gebrauch gemacht (S. 170).
In Ablehnung der Entscheidungen SSt. 1/23 und SSt. 5/66, die dem Rechtsmittel zufolge in SSt. 21/102, 23/62, SSt. 32/82 u.a. "ohne weitere Überlegungen wiederholt" werden (S. 213), gelangt der - verschiedene Lehrmeinungen zitierende - Nichtigkeitswerber zur Meinung, das aus § 252 Abs. 1 Z. 3 StPO. hervorgehende Verlesungsverbot beziehe sich unter dem Gesichtspunkt der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit nicht nur auf gerichtliche, sondern auch auf polizeiliche Vernehmungsprotokolle.
Rechtliche Beurteilung
Der Nichtigkeitsbeschwerde kommt indes keine Berechtigung zu. Gemäß § 252 Abs. 2 StPO. müssen - neben hier nicht interessierenden Beweismitteln - Schriftstücke, die für die Sache von Bedeutung sind, vorgelesen werden, wenn nicht beide Teile darauf verzichten. Zu diesen Schriftstücken zählt auch die (hier: polizeiliche) Anzeige. Eines Einverständnisses zur Verlesung (u.a.) der Anzeige bedarf es demnach nicht.
Die in der Beschwerde gerügte, vom Erstgericht vorgenommene (S. 186) Verlesung der auch die Angaben der Anita S*** vom (S. 15 bis 18) enthaltenden polizeilichen Anzeige (ON. 2) vermochte die vom Angeklagten geltend gemachte Urteilsnichtigkeit nach § 281 Abs. 1 Z. 3 und 4 StPO., aber auch eine solche nach Z. 2 dieser Gesetzesstelle nicht zu verwirklichen. Den zuletzt zitierten Nichtigkeitsgrund macht der Beschwerdeführer - wie nur der Vollständigkeit halber zur umfassenden Betrachtung der aufgeworfenen prozessualen Rechtsfrage erwähnt sei - zutreffend nicht geltend; handelt es sich doch bei der von einer Sicherheitsbehörde mit einer Auskunftsperson aufgenommenen Niederschrift um keinen nichtigen Vorerhebungsakt im Sinn des § 281 Abs. 1 Z. 2 StPO. (vgl. dazu die einhellige, bei Mayerhofer-Rieder 2 unter Nr. 4 bis 6 zu § 281 Abs. 1 Z. 2 StPO. zitierte Judikatur, zuletzt auch 11 Os 141/85 und 11 Os 14/86). Die taxative Aufzählung jener Vorschriften im § 281 Abs. 1 Z. 3 StPO., deren Beobachtung das Gesetz bei sonstiger Nichtigkeit vorschreibt, enthält ebenfalls kein Verbot der Verlesung derartiger Niederschriften (jüngst wieder ausgesprochen in 11 Os 14/86). Nach der (vom Beschwerdeführer ohnehin teilweise zitierten) einhelligen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, von der abzugehen auch der vorliegende Fall keinen Anlaß bietet, stellt insbesondere auch die Verlesung (gemäß § 252 Abs. 2 StPO.) der vor der Polizei (Gendarmerie etc.) abgelegten Aussagen von Zeugen, die (wie hier Anita S***) in der Hauptverhandlung von ihrem Entschlagungsrecht nach § 152 Abs. 1 Z. 1 StPO. Gebrauch gemacht haben (S. 170), und deren Verwertung im Urteil nicht den Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs. 1 Z. 3 StPO. her (vgl. dazu die bei Mayerhofer-Rieder 2 unter Nr. 17 zu § 281 Abs. 1 Z. 3 StPO. zitierte Judikatur).
Wenn der Beschwerdeführer die Unhaltbarkeit dieser auch in der Literatur verschiedentlich abgelehnten Rechtsprechung (vgl. z.B. Bertel, Grundriß 2 , Rz. 618 ff.) zu verdeutlichen und ihre die Verteidigungsrechte des Angeklagten benachteiligende Wirkung mit dem Beispiel darzulegen trachtet, daß die vor den Sicherheitsbehörden abgelegte belastende Aussage eines Zeugen auch dann verlesen werden dürfe, wenn zufolge seiner Entschlagung in der Hauptverhandlung eine von diesem Zeugen vor dem Untersuchungsrichter abgelegte entlastende Aussage nicht verlesen werden dürfe, wird damit ein Verstoß gegen Grundrechte nicht aufgezeigt. Das von der Beschwerde wiederholt angesprochene Prinzip der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit des Verfahrens wird nämlich nicht nur - wie hier - durch prozessuale, sondern viel häufiger durch tatsächliche, der Wiederholung der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung entgegenstehende Schranken (z.B. bei seinerzeit festgestellten Spuren, optischen und akustischen Wahrnehmungen von Erhebungsbeamten, Befundaufnahmen durch Sachverständige oder auch bei nicht mehr verfügbaren Zeugen) eingeengt. Zu verfassungskonformer, auch die Grundsätze des (von der Beschwerde nicht genannten) Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. d MRK. beachtender Interpretation der die Verlesung von Anzeigen und Erhebungsergebnissen anordnenden prozessualen Norm (§ 252 Abs. 2 StPO.) muß daher nur sichergestellt werden, daß für den Fall der Zeugnisentschlagung im gerichtlichen Verfahren dieser Entschlagung vorangegangene, in einem gerichtsförmlichen Verfahren abgelegte Aussagen nicht mehr Gegenstand der Beweiswürdigung sein dürfen, während die außerhalb des gerichtlichen Verfahrens abgelegten Aussagen, ebenso wie andere die Anzeige stützende Verdachtsmomente und Beweisergebnisse, zu verlesen oder anderweitig darzutun (vgl. § 253 StPO.) und so zum Gegenstand der Hauptverhandlung und damit der Überprüfung durch das erkennende Gericht zu machen sind (§ 258 Abs. 1 StPO.). Dem Angeklagten muß somit die Möglichkeit offenstehen, durch seine Verantwortung und entsprechende, (faktisch und rechtlich) durchführbare Beweisanträge die Beweiskraft aller Anzeigegrundlagen, also auch einer verlesenen Aussage, abzuschwächen oder gar zu widerlegen (11 Os 64/75, 9 Os 95/82).
Diesem einer fairen Prozeßführung dienenden Erfordernis kam der Schöffensenat im vorliegenden Fall durch die Vernehmung der Zeugen Veronika S*** (S. 170 bis 176) und Dr. Gertrude J*** (S. 176 bis 182) sowie des Sachverständigen Dr. J*** (S. 183 bis 186) und durch den Versuch der Vernehmung des Zeugen Markus S*** (S. 187) auch nach. Darüber hinausgehende Anträge hat der Verteidiger nicht gestellt. Seiner ohne nähere Begründung vorgebrachten Verwahrung gegen die Verlesung der polizeilichen Angaben des Tatopfers folgte keine Senatsentscheidung (§ 238 StPO.), sodaß es für die Geltendmachung des Nichtigkeitsgrunds nach § 281 Abs. 1 Z. 4 StPO. schon an den formellen Voraussetzungen mangelt. Aus den aufgezeigten Gründen war die Nichtigkeitsbeschwerde als offenbar unbegründet (§ 285 d Abs. 1 Z. 2 StPO.) schon bei einer nichtöffentlichen Beratung zurückzuweisen.
Für die Berufung wird mittels abgesonderter Verfügung ein Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung anberaumt werden (§ 296 Abs. 3 StPO.).