OGH vom 26.03.1996, 10ObS47/96

OGH vom 26.03.1996, 10ObS47/96

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Steinbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Wolfgang Adametz und Dr.Manfred Lang (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Erika H*****, vertreten durch Dr.Reinhard Tögl und Dr.Nicoletta Wabitsch, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, Wiedner Hauptstraße 84 - 86, 1051 Wien, vertreten durch Dr.Karl Leitner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 66/95-29, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 31 Cgs 53/94i-21, bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die in ihrem, dem Begehren der Klägerin auf Leistung der Erwerbsunfähigkeitspension für die Zeit ab stattgebenden Teil unberührt bleiben, werden im übrigen (Entscheidung über das Begehren auf Gewährung der Erwerbsunfähigkeitspension für die Zeit vom bis ) aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die am geborene Klägerin hat den Beruf einer Einzelhandelskauffrau in der Lebensmittelbranche erlernt und führte bis 1988 selbständig eine Gemischtwarenhandlung. Neben der Klägerin waren in dem Geschäft eine Verkäuferin und ein Lehrling tätig. 1988 legte die Klägerin die Gewerbeberechtigung zurück und war in der Folge bis 1992 halbtägig als Verkäuferin im Einzelhandel beschäftigt; seither geht sie keiner Beschäftigung nach.

Die Klägerin leidet an einer Magensenkung mit Neigung zu Gastritis, beginnenden Aufbrauchs- und Abnützungserscheinungen am Achsenskelett, gelegentlichen Lumbalgien mit fallweiser Schmerzausstrahlung in das linke Bein, wobei ein Bandscheibenschaden L5/S1 besteht, einer geringen Beinlängendifferenz, Schwellneigung nach einem Knöchelbruch, oberflächlichen Krampfadern, einem larviert verlaufenden somatisierenden Verstimmungszustand mit erhöhter Neigung zu psychosomatischen Reaktionen, einer passageren cerebralen Durchblutungsstörung ohne manifeste Funktionsstörung des Gehirns sowie einem descensus vagniae et uteri mit Streßinkontinenz II.

Der Klägerin können aus gynäkologischer Sicht keine Hebearbeiten zugemutet werden. Aus interner Sicht ist mit leidensbedingten Krankenständen von einer Woche pro Jahr zu rechnen, aus orthopädischer Sicht mit einem zusätzlichen Krankenstand von einer Woche pro Jahr. Die Krankenstandsprognose aus neurologischer Sicht beträgt 2 Wochen jährlich, wobei keine Überschneidung mit anderen Fachbereichen vorliegt. Aus gynäkologischer Sicht ist mit vermehrten Krankenständen von 3 bis 4 Wochen pro Jahr zu rechnen, wobei diese Krankenstände zu den aus anderen Fachgebieten prognostizierten Krankenständen hinzukommen.

Mit Bescheid vom wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom auf Gewährung der Erwerbsunfähigkeitspension ab.

Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin, die beklagte Partei zur Gewährung der begehrten Leistung zu verpflichten; die Voraussetzungen dafür seien im Hinblick auf ihren angegriffenen Gesundheitszustand erfüllt.

Die beklagte Partei begehrt die Abweisung der Klage.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Da im Hinblick auf die bestehenden Leidenszustände Krankenstände von zumindest 7 Wochen jährlich zu erwarten seien, sei die Klägerin im Sinne der ständigen Judikatur vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es erachtete die gegen die Richtigkeit der Tatsachengrundlage vorgetragenen Bedenken nicht für berechtigt, übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und billigte auch dessen rechtliche Beurteilung. Aus den von der Rechtsprechung zur Mitwirkungspflicht entwickelten Grundsätzen könne für den Standpunkt der beklagten Partei nichts abgeleitet werden, weil das Verfahren keinen Anhaltspunkt dafür biete, daß die bei der Klägerin bestehende Inkontinenz operativ behoben werden könne.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus den Revisionsgründen der Aktenwidrigkeit, der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Begehren der Klägerin abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrages berechtigt.

Wesentlicher Punkt der Berufung der beklagten Partei war die Bekämpfung der Feststellungen des Erstgerichtes betreffend die Dauer der Krankenstände der Klägerin. Das Berufungsgericht hat sich mit diesen Ausführungen auseinandergesetzt und ist zum Ergebnis gelangt, daß gegen diese Feststellungen keine Bedenken bestehen. Unter den Revisionsgründen der Aktenwidrigkeit und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens wendet sich die Revisionswerberin gegen dieses Ergebnis. Sie legt dar, daß die Gründe, die das Berufungsgericht für die Richtigkeit der Feststellungen des Erstgerichtes ins Treffen führte, einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhielten; das Berufungsgericht habe ärztliche Fachausdrücke unzutreffend ausgelegt und sei daher zu einem unrichtigen Ergebnis gelangt. Tatsächlich wird mit diesen Ausführungen jedoch in unzulässiger Weise die Beweiswürdigung der Vorinstanzen bekämpft. Mag auch die dazu gegebene Begründung der Vorinstanzen nicht in allen Punkten überzeugend sein, ist doch die Tatsachenfrage der Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof entzogen. Eine Aktenwidrigkeit oder ein Verstoß gegen die Denkgesetze liegt jedoch nicht vor.

Hingegen kommt der Rechtsrüge Berechtigung zu.

Die Vorinstanzen haben das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit deshalb bejaht, weil zu erwarten sei, daß die Klägerin pro Jahr mindestens 7 Wochen leidensbedingte Krankenstände in Anspruch nehmen müsse; ausgehend hievon sei nach der Judikatur ein Ausschluß vom Arbeitsmarkt anzunehmen. Dabei ergibt sich aus dem Inhalt des Aktes (ausdrückliche Ausführungen hiezu im Urteil fehlen), daß die Vorinstanzen bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten nur von unselbständigen Tätigkeiten ausgingen. Darauf weist auch der Begriff "Krankenstände" hin; Krankenstände im technischen Sinne sind im allgemeinen ein Spezifikum der unselbständigen Beschäftigung. Zu Recht macht die beklagte Partei jedoch geltend, daß das Verweisungsfeld des § 133 Abs 1 GSVG nicht auf unselbständige Tätigkeiten beschränkt ist.

Die dauernde Erwerbsunfähigkeit ist die Erscheinungsform des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit im Bereich der Pensionsversicherung der Selbständigen (GSVG und BSVG). Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit an sich ist strenger als der Begriff der Invalidität in der Pensionsversicherung der Arbeiter oder der Berufsunfähigkeit in der Pensionsversicherung der Angestellten, weil bei der Erwerbsunfähigkeit die gänzliche Unfähigkeit, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen, nachgewiesen werden muß, während bei der Invalidität bzw der Berufsunfähigkeit der Nachweis, daß der Versicherte nicht imstande ist, die Hälfte des Normalverdienstes zu erwerben bzw die Hälfte seiner Berufsfähigkeit eingebüßt zu haben, genügt (GSVG MGA 47.ErgLfg 370/10 unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien; SSV-NF 4/81). Die Verweisbarkeit erstreckt sich bei Prüfung der Erwerbsunfähigkeit grundsätzlich auf den gesamten Arbeitsmarkt, auf alle selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeiten (SSV-NF 8/83). Maßgebend ist nur, ob es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Berufe gibt, die der Versicherte aufgrund der noch vorhandenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zumutbarerweise ausüben kann (Teschner in Tomandl, System des österr Sozialversicherungsrechtes 7.ErgLfg 378 f). Erst ab Vollendung des 50. Lebensjahres ist das Verweisungsfeld auch für Selbständige eingeschränkt (§ 133 Abs 2,§ 131 c GSVG).

In der Entscheidung SSV-NF 6/70 wurde bei Prüfung der Erwerbsunfähigkeit (dort nach dem BSVG) nur auf unselbständige Tätigkeiten abgestellt. Dies steht aber mit den obigen Ausführungen nicht in Widerspruch. In dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Fall war der zuvor als selbständiger Landwirt tätig gewesene Kläger zufolge von gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr in der Lage, neue Kenntnisse mit bisher nicht geleisteten Inhalten zu erwerben und konnte auch nicht mehr als selbständiger Landwirt tätig sein. Es kamen für ihn daher aus gesundheitlichen Gründen nur mehr unselbständige Tätigkeiten in der Landwirtschaft in Frage; das Verweisungsfeld war eingeschränkt, weil die Verrichtung selbständiger Tätigkeiten aus gesundheitlichen Gründen ausgeschlossen war.

Da der im Revisionsverfahren noch strittige Fragenkomplex die Zeit betrifft, die zwischen dem durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag und der Vollendung des 50.Lebensjahres der Klägerin liegt, hat die Prüfung des Anspruches auf der Grundlage des strengen Erwerbsunfähigkeitsbegriffes des § 133 Abs 1 GSVG zu erfolgen.

Nach ständiger Rechtsprechung können häufige oder lang andauernde Krankenstände bewirken, daß der einem Versicherten verbliebene Rest an Arbeitsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt unverwertbar wird. Diese Judikatur wurde zu unselbständigen Erwerbstätigkeiten entwickelt, und im wesentlichen damit begründet, daß dann, wenn die Krankenstände das Maß, mit dem der Arbeitgeber bei jedem Arbeitnehmer rechnen muß, bedeutend übersteigen, sich der Arbeitgeber zumeist zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses entschließen werde, weil ihm der Arbeitnehmer unter diesen Umständen nicht regelmäßig zur Arbeitsleistung zur Verfügung steht; der Arbeitnehmer sei unter diesen Umständen bei der Ausübung einer Beschäftigung auf das Entgegenkommen des Arbeitgebers angewiesen und könne unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes keinem Beruf nachgehen (idS SSV-NF 4/40). Krankenständen im technischen Sinne kommen, wie erwähnt, aber einerseits bei selbständig Erwerbstätigen, abgesehen vom ausnahmsweisen Fall einer Zusatzversicherung (§§ 105 ff GSVG), nicht in Frage, andererseits können die Gründe, die zur Invalidität bzw Berufsunfähigkeit unselbständig Erwerbstätiger beim Auftreten von vermehrten Krankenständen ins Treffen geführt werden, nicht ohne weiters auf selbständig Erwerbstätige übertragen werden. Dort fällt das Argument, daß der Versicherte nur mit besonderem Entgegenkommen eines anderen seiner Tätigkeit nachgehen könne, weg, weil ein abhängiges Arbeitsverhältnis nicht vorliegt. Überdies kann ein Selbständiger, insbesondere, wenn er Mitarbeiter beschäftigt, eigene krankheitsbedingte Verhinderungen durch organisatorische Maßnahmen weitgehend auffangen. Im übrigen sind durchaus selbständige Tätigkeiten denkbar, bei denen im Hinblick auf eine saisonale Bindung (Eissalon, Saisonbetriebe im Fremdverkehr) ein gesundheitsbedingter Ausfall der Arbeitskraft des Unternehmers außerhalb der Saison auf die Fähigkeit zur Ausübung des Berufes bzw auf das Betriebsergebnis kaum von Einfluß ist. Ein Ausschluß von einer selbständigen Tätigkeit wird nur dann angenommen werden können, wenn krankheitsbedingte Arbeitsausfälle so weit gehen, daß aus diesem Grund die Erzielung eines die Existenz sichernden Einkommens aus der selbständigen Tätigkeit nicht mehr gewährleistet ist. In dem Sinne sind auch die Ausführungen in der Begründung der Entscheidung SSV-NF 3/152 zu verstehen. Der dort gebrauchte Begriff der Krankenstände ist im Sinne des krankheitsbedingten Arbeitsausfalles bei Verrichtung der selbständigen Tätigkeit zu verstehen; die Bezugnahme auf die Tätigkeit einer Handstrickerin ist damit zu erklären, daß es sich dabei um die verbliebene Verweisungstätigkeit handelte.

Die Frage, in welchem Ausmaß die Klägerin in Hinkunft Krankenstände in Anspruch nehmen bzw in welchem Ausmaß mit krankheitsbedingten Arbeitsausfällen bei Verrichtung der selbständigen Tätigkeit gerechnet werden muß, kann aufgrund der vorliegenden Feststellungen nicht abschließend geklärt werden. Die Inanspruchnahme eines Krankenstandes hat das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit zur Voraussetzung. Diese besteht dann, wenn der unselbständig beschäftigte Versicherte nicht in der Lage ist, seine arbeitsvertraglich vereinbarte Tätigkeit wieder aufzunehmen (SSV-NF 5/19). Ob ein bestehender oder zu erwartender Leidenszustand die Inanspruchnahme eines Krankenstandes erforderlich macht, kann daher nur aufgrund der Anforderungen im konkreten (Verweisungs)Beruf entschieden werden (SSV-NF 6/70); in gleicher Weise kann auch die Frage, ob und für welche Zeit gesundheitliche Gründe die Verrichtung einer selbständigen Tätigkeit ausschließen, nur aufgrund der Anforderungen der konkreten Tätigkeit beurteilt werden. Das Erstgericht hat über die Dauer zu erwartender Krankenstände nur abstrakt Feststellungen getroffen und dabei offenbar nur unselbständige Tätigkeiten als Verweisungsberufe in Betracht gezogen. Diese Sachverhaltsgrundlage ist jedoch nicht ausreichend.

Im fortgesetzten Verfahren wird daher zu prüfen sein, welche Verweisungstätigkeiten (selbständige und unselbständige) für die Klägerin im strittigen Zeitraum in Frage kamen, sowie für welche Zeiträume die Klägerin unter Berücksichtigung der Anforderungen, die diese Tätigkeiten stellen, aus gesundheitlichen Gründen von der Verrichtung dieser Berufe ausgeschlossen gwesen wäre. Bezüglich der selbständigen Tätigkeiten wird zu prüfen sein, welche einkommensmäßige Auswirkungen diese Arbeitsausfälle bedingt hätten bzw wie weit diese durch organisatorische Maßnahmen hätten kompensiert werden können, um eine Beurteilung der Frage zu ermöglichen, ob die Klägerin durch die selbständige Tätigkeit auch unter Berücksichtigung ihrer gesundheitsbedingten Arbeitsausfälle in der Lage gewesen wäre, ein die Existenz sicherndes Einkommen zu erzielen.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 2 ZPO.