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VfGH vom 27.02.1995, B702/94

VfGH vom 27.02.1995, B702/94

Sammlungsnummer

14009

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ungültigerklärung eines Sichtvermerks mangels ausreichender Mittel zur Sicherung des Unterhalts und zu erwartender finanzieller Belastung einer Gebietskörperschaft aufgrund Unterlassung der gebotenen Interessenabwägung durch die belangte Behörde

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin, zuhanden ihres Rechtsvertreters, die mit 18.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Bezirkshauptmannschaft Steyr-Land erklärte mit Bescheid vom unter Bezugnahme auf §§11 Abs 1 iVm 10 Abs 1 Z 2 und 3 und Abs 2 FremdenG, BGBl. 838/1992, den der Beschwerdeführerin erteilten, bis zum gültigen Wiedereinreisesichtvermerk für ungültig. Der derzeitige Arbeitslosenbezug (175,30 S Taggeld) bedeute ein Monatseinkommen von 4.570,33 S, das die vom Gesetz vorgeschriebene Mindestgrenze von 5.460 S nicht erreiche. Der Sichtvermerk habe auch deswegen für ungültig erklärt werden müssen, weil der Ehegatte der Beschwerdeführerin über kein eigenes Einkommen verfüge, sondern vom Arbeitslosenbezug der Beschwerdeführerin leben müsse.

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

Die belangte Bezirkshauptmannschaft Steyr-Land legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in welcher sie den angefochtenen Bescheid verteidigt. Nach § 10 Abs 1 Z 2 und 3 FremdenG sei die Erteilung des Sichtvermerks zu versagen, wenn der Sichtvermerkswerber nicht über ausreichende eigene Mittel zu seinem Unterhalt verfüge bzw. der Aufenthalt eines Sichtvermerkswerbers zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Der Beschwerdeführerin stehe ein Arbeitslosengeld von S 175,30 täglich zu. Davon wolle sie auch noch den Unterhalt für ihren Gatten decken, der laut Auskunft des Arbeitsamtes Steyr nicht vermittelbar sei. Das Vorliegen eines Ausnahmefalles im Sinn des § 10 Abs 3 FremdenG sei im Verwaltungsverfahren weder behauptet noch in irgendeiner Weise glaubhaft gemacht worden. Der Eingriff sei daher gemäß Art 8 Abs 2 EMRK gesetzlich gedeckt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1. Der zufolge § 11 Abs 1 FremdenG auch für die Ungültigerklärung eines Sichtvermerks maßgebende § 10 Abs 1 bestimmt, daß die Erteilung eines Sichtvermerks (u.a.) zu versagen ist, wenn der Sichtvermerkswerber nicht über ausreichende eigene Mittel zu seinem Unterhalt verfügt (Z2) oder wenn sein Aufenthalt zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte (Z3).

Der angefochtene Bescheid greift in das der Beschwerdeführerin durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens bereits deshalb ein, weil sie - wie aus dem Verwaltungsakt hervorgeht - schon längere Zeit mit ihrem Ehegatten in Österreich lebt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ist ein Eingriff in das durch Art 8 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (zB VfSlg. 11638/1988). Wie der Gerichtshof ebenfalls schon in bezug auf einen auf § 10 Abs 1 Z 2 FremdenG gestützten Bescheid ausgesprochen hat, liegt eine Verletzung des in Rede stehenden verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes dann vor, wenn die Behörde die durch Art 8 EMRK verlangte Interessenabwägung unterlassen hat, ob der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährden würde, daß die im Abs 2 dieses Artikels umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in sein Privat- und Familienleben rechtfertigten (). Grundsätzlich das gleiche gilt für die in diesem Absatz erwähnten Maßnahmen für das öffentliche Wohl des Landes.

Ein derartiger Fehler ist der belangten Behörde im vorliegenden Fall anzulasten.

Die Beschwerdeführerin lebt - wie sie unwidersprochen vorbringt - seit ihrem 5. Lebensjahr durchgehend in Österreich und ist hier berufstätig; sie spricht - wie im Verwaltungsakt festgehalten ist - fließend deutsch. Sie lebt mit ihrem Ehegatten, der gleichfalls türkischer Staatsangehöriger ist, im gemeinsamen Haushalt. Infolge einer zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung bestehenden Schwangerschaft ist sie (nach ihrer Darstellung: vorübergehend) arbeitslos und bezieht daher Arbeitslosengeld.

Die belangte Behörde stützte ihre Erwägungen ausschließlich auf die derzeitige finanzielle Lage der Beschwerdeführerin unter Bedachtnahme auf die gemeinsame Wirtschaftsführung mit dem erwerbslosen Ehemann, unterließ aber die gebotene Interessenabwägung im dargelegten Sinn vollständig. Hiezu ist noch anzumerken, daß auch beim gegebenen Sachverhalt nicht davon auszugehen ist, eine Interessenabwägung dürfe etwa deshalb entfallen, weil von vornherein feststünde, daß sie jedenfalls zum Nachteil der Fremden ausgehe.

Da die Beschwerdeführerin sohin durch den angefochtenen Bescheid in ihrem durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt wurde, war diese Entscheidung aufzuheben.

2. Der Abspruch über die Prozeßkosten gründet sich auf § 88 VerfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 3.000 S enthalten.

III. Diese Entscheidung konnte

gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.