OGH vom 18.07.2017, 10ObS44/17v
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer als weitere Richter (Senat gemäß § 11a Abs 3 Z 1 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. J*****, Rechtsanwalt, *****, gegen die beklagte Partei Vorarlberger Gebietskrankenkasse, 6850 Dornbirn, Jahngasse 4, vertreten durch Thurnher Wittwer Pfefferkorn & Partner Rechtsanwälte GmbH in Dornbirn, wegen Kostenerstattung, infolge der Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 25 Rs 87/16d-46, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 33 Cgs 105/14i, 33 Cgs 157/14m und 34 Cgs 301/14w-41, in der Hauptsache mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Aus Anlass der Revision wird das angefochtene Urteil als nichtig aufgehoben und dem Berufungsgericht eine neuerliche Entscheidung in einem Senat aufgetragen, dem jeweils ein fachkundiger Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber und aus dem Kreis der Arbeitnehmer angehört.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Rechtsmittelverfahrens.
Text
Begründung:
Der Kläger ist Rechtsanwalt und gemäß § 16 ASVG bei der beklagten Vorarlberger Gebietskrankenkasse selbstversichert. Er litt an einer Entzündung des Zahnfleischs und insbesondere des Zahnhalteapparats im Zahnhalsbereich in allen vier Quadranten und primär an den Zähnen im Ober- und Unterkiefer. Der Kläger suchte zur Behandlung einen Wahlzahnarzt auf und begehrt von der Beklagten die Erstattung der Kosten einer zweckmäßigen und notwendigen Heilbehandlung.
Die Beklagte wandte dagegen zusammengefasst ein, dass sie zur Kostenerstattung nur nach Maßgabe ihrer Satzung verpflichtet sei. Der danach dem Kläger zustehende Kostenersatz sei ihm bereits überwiesen worden.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit (weiteren) 54 EUR statt und wies das Mehrbegehren von 713,16 EUR ab. Dem Senat des Erstgerichts gehörten neben der Vorsitzenden ein fachkundiger Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber und ein fachkundiger Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitnehmer an.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers in der Hauptsache im Rahmen einer Maßgabebestätigung nicht Folge. Es sprach weiters aus, dass die Revision an den Obersten Gerichtshof zulässig sei. Das Berufungsgericht entschied über die Berufung des Klägers in nichtöffentlicher Sitzung. Dem Senat gehörten neben dem vorsitzenden Senatspräsidenten, einem Berufsrichter und einer Berufsrichterin zwei fachkundige Laienrichter jeweils aus dem Kreis der Arbeitgeber an.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision des Klägers, mit der er den Zuspruch eines weiteren Betrags von 655,66 EUR anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
Aus Anlass des zulässigen Rechtsmittels der beklagten Partei war von Amts wegen die Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung wahrzunehmen.
1. Gemäß § 12 Abs 1 zweiter Halbsatz ASGG haben die fachkundigen Laienrichter vorbehaltlich des § 12 Abs 3 zweiter Halbsatz ASGG je zur Hälfte dem Kreis der Arbeitgeber und dem der Arbeitnehmer anzugehören. Aus dieser Bestimmung ergibt sich deutlich, dass die fachkundigen Laienrichter in Sozialrechtssachen grundsätzlich dem Kreis der Versicherten und ihrer Arbeitgeber anzugehören haben.
2. Im zweiten Halbsatz des § 12 Abs 3 ASGG werden jene Sozialrechtssachen angeführt, in denen ausnahmsweise alle fachkundigen Laienrichter dem Kreis der Arbeitgeber anzugehören haben. Es handelt sich dabei um die Sozialrechtssachen jener selbständig Erwerbstätigen, die in den persönlichen Geltungsbereich des GSVG, des BSVG, des FSVG, des Bundesgesetzes über die Gewährung der Leistung der Betriebshilfe (des Wochengeldes) an Mütter, die in der gewerblichen Wirtschaft oder in der Land- und Forstwirtschaft selbständig erwerbstätig sind, fallen, sowie um die Sozialrechtssachen nach dem NVG 1972, in denen der Kläger ein Notar ist. Unter diese Ausnahmen fallen auch Unfallversicherungssachen und Pflegegeldsachen von Selbständigen (9 ObS 25/87, RIS-Justiz RS0085526; 10 ObS 283/98k, SSV-NF 12/116, RS0110593; Neumayr in ZellKomm² § 12 ASGG Rz 2).
3.1 Für die selbständig Erwerbstätigen wurde mit durch das ASRÄG 1997, BGBl I 1997/139, eine Pflichtversicherung in allen Zweigen der Sozialversicherung eingeführt (§ 2 Abs 1 Z 4 GSVG;§ 273 Abs 3 GSVG), es sei denn, die gesetzliche berufliche Vertretung macht gemäß § 5 GSVG von einem „Opting-out“ Gebrauch. Voraussetzung für das „Opting-out“ war die Sicherstellung der Versorgung der Betroffenen in dem Sinn, dass ein gleichartiger oder zumindest annähernd gleichwertiger Anspruch des Betroffenen auf Leistungen gegenüber einer Einrichtung der gesetzlichen beruflichen Interessenvertretung oder für die Krankenversicherung ein Anspruch aus einer Selbstversicherung nach ASVG oder GSVG nachgewiesen wird (10 ObS 69/16v, DRdA 2017/20, 204 [Müller]).
3.2 Der Antrag auf Ausnahme konnte von den beruflichen Interessenvertretungen bis zum gestellt werden. Von dieser Option haben bezüglich der Krankenversicherung nach dem GSVG unter anderem auch die Rechtsanwaltskammern Gebrauch gemacht (Verordnung der Bundesministerin für Gesundheit und Frauen über die Ausnahme der Mitglieder von Kammern der freien Berufe von der Pflichtversicherung in der Krankenversicherung nach dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, BGBl II 2005/471; Neumann in SV-Komm [84. Lfg] § 2 GSVG Rz 76).
3.3 Ausgehend davon ist der Kläger von der Pflichtversicherung in der Krankenversicherung nach dem GSVG ausgenommen. Infolge einer freiwilligen Versicherung gemäß § 16 ASVG unterliegt er der Pflichtversicherung in der Krankenversicherung nach dem ASVG. Er ist damit zwar selbständig Erwerbstätiger im Sinn des GSVG (§ 2 Abs 1 Z 4 GSVG), unterliegt aber hinsichtlich der Krankenversicherung nicht dem persönlichen Anwendungsbereich des GSVG im Sinn des § 12 Abs 3 ASGG. Darin unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von den oben genannten Ausnahmefällen der Unfallversicherungs- und Pflegegeldsachen selbständig Erwerbstätiger. Da keiner der Ausnahmefälle des § 12 Abs 3 zweiter Halbsatz ASGG vorliegt, hat sich die Senatszusammensetzung im vorliegenden Fall nach § 12 Abs 1 ASGG zu richten (vgl ebenso vor dem ASRÄG 1997 bereits 10 ObS 2415/96m, SSV-NF 10/125; jüngst vergleichbar auch zur Ausnahme von Rechtsanwälten aus der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach dem GSVG,10 ObS 69/16v).
4. Das Berufungsgericht, dem zwei fachkundige Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber angehörten, war daher nicht vorschriftsmäßig besetzt, was die Entscheidung nach § 477 Abs 1 Z 2 ZPO nichtig macht (RIS-Justiz RS0042176). Der dem Berufungsgericht unterlaufene Verstoß gegen § 12 Abs 1 zweiter Halbsatz ASGG wurde auch nicht nach § 37 Abs 1 ASGG geheilt, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts in nichtöffentlicher Sitzung ohne vorhergehende mündliche Verhandlung erfolgte (RIS-Justiz RS0040259). Auch durch den Umstand, dass die nicht vorschriftsgemäße Besetzung des Berufungsgerichts in den Rechtsmittelschriften nicht gerügt wurde, ist keine Heilung der damit verbundenen Nichtigkeit eingetreten (vgl 10 ObS 117/10v, SSV-NF 24/66, mwH).
5. Es musste daher aus Anlass des zulässigen Rechtsmittels des Klägers der vorliegende Nichtigkeitsgrund von Amts wegen wahrgenommen, das angefochtene Urteil als nichtig aufgehoben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung in vorschriftsgemäßer Besetzung aufgetragen werden.
Der Ausspruch über die Kosten des Rekursverfahrens gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00044.17V.0718.000 |
Schlagworte: | Sozialrecht,Zivilverfahrensrecht |
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