OGH vom 23.04.2003, 9ObA236/02z

OGH vom 23.04.2003, 9ObA236/02z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling und Dr. Hradil sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Thomas Keppert und Ulrike Kargl als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Andrea M*****, Angestellte, *****, vertreten durch Dr. Helga Hofbauer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei K***** GmbH, *****, vertreten durch Sattlegger, Dorninger, Steiner & Partner, Rechtsanwälte in Wien, wegen EUR 1.336,68 brutto sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Ra 177/02a-13, womit über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom , GZ 25 Cga 84/00f-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 300,10 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin EUR 50,02 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Das Bundeseinigungsamt setzte ab einen Mindestlohntarif für Angestellte in Betrieben sozialer Dienste fest. Dieser Mindestlohntarif galt in persönlicher Hinsicht für Angestellte, deren Arbeitgeber weder auf Arbeitgeberseite selbst kollektivvertragsfähig noch Mitglied einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft waren. In fachlicher Hinsicht galt er für Anbieter sozialer oder gesundheitlicher Dienste präventiver, betreuender oder rehabilitativer Art für Personen, die entsprechender Hilfe oder Betreuung bedürfen. Mit wurde dieser Mindestlohntarif novelliert, wobei sich jedoch am persönlichen und fachlichen Geltungsbereich, soweit hier relevant, nichts änderte. Die Klägerin war bei der Beklagten vom bis zur einvernehmlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses am als Diplomkrankenschwester beschäftigt.

Dass die Beklagte am hier interessierenden Betriebsstandort dem fachlichen Geltungsbereich des Mindestlohntarifs entsprechende Dienste anbietet und bis zum keiner kollektivvertragsfähigen Körperschaft angehörte, ist nicht strittig. Mit Beschluss des Bundeseinigungamtes vom wurde der Berufsvereinigung von Arbeitgebern für Gesundheits- und Sozialberufe (BAGS) die Kollektivvertragsfähigkeit zuerkannt; am wurde dieser Beschluss in der Wiener Zeitung kundgemacht. Am trat die Beklagte der BAGS bei.

Ab galt für alle Angestellten der Beklagten am genannten Betriebsstandort eine Betriebsvereinbarung. Ein bereits vorher bei der Beklagten existierendes Gehaltsschema wurde nicht ausdrücklich in den Text der Betriebsvereinbarung aufgenommen. Bei einem Vergleich zwischen Mindestlohntarif einerseits und Betriebsvereinbarung bzw tatsächlicher Praxis andererseits zeigt sich, dass die Angestellten ab einer bestimmten Gehaltsstufe beim Mindestlohntarif günstiger gestellt sind als nach dem Entlohnungsschema der Beklagten. Bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses der Klägerin wurde weder eine neue normative Betriebsvereinbarung, noch eine neue Einzelvereinbarung oder ein für das Arbeitsverhältnis geltender Kollektivvertrag abgeschlossen.

Am erhob der Angestellten-Betriebsrat des betroffenen Betriebs der Beklagten zu 19 Cga 151/97g des Erstgerichtes gegen die Beklagte eine auf die Frage der Anwendbarkeit des Mindestlohntarifes abzielende Feststellungsklage.

In Stattgebung dieser Klage stellte das Erstgericht fest, "dass neben der Betriebsvereinbarung für alle Angestellten bei der Beklagten auf die Dienstverhältnisse der Angestellten im Pflegebereich des Betriebs der Beklagten ... der Mindestlohntarif für Arbeitnehmer/Innen in Betrieben sozialer Dienste in der jeweils gültigen Fassung zur Anwendung zu bringen" sei.

Das Berufungsgericht ließ eine in der Berufungsverhandlung vom klagenden Betriebsrat vorgenommene Klageänderung (Ersetzung der Formulierung "in der jeweils gültigen Fassung" durch die Formulierung "in der Fassung des Mindestlohntarifs 1997") nicht zu und änderte das Ersturteil im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens ab. Dieses Urteil wurde vom Betriebsrat nur hinsichtlich des Zeitraums vom 1. 1. bis angefochten.

Der Oberste Gerichtshof gab zu 9 ObA 202/00x der Revision statt und stellte für diesen Zeitraum das Ersturteil wieder her, allerdings mit der Maßgabe einer Umformulierung des Urteilsspruchs, der nunmehr wie folgt lautete:

"Es wird festgestellt, dass die Angestellten der beklagten Partei dieser gegenüber einen Anspruch auf Bezahlung nach dem Mindestlohntarif für Angestellte in den Betrieben sozialer Dienste in der ab bzw. ab gültigen Fassung für den Fall besitzen, dass das ihnen vertraglich oder auf Grund der ab geltenden Betriebsvereinbarung .... zustehende Entgelt unter jenem liegt, das ihnen auf Grund des genannten Mindestlohntarifes zusteht, wobei sich der vorgenannte Differenzanspruch auf den Zeitraum 1. 1. bis beschränkt".

Zur Frage der weiteren Anwendung des Mindestlohntarifs ab der Mitgliedschaft der Beklagten bei einer kollektivvertraglichen Körperschaft nahm der Oberste Gerichtshof im Hinblick auf die insofern bereits rechtskräftige Erledigung des Klagebegehrens ausdrücklich nicht Stellung.

Im vorliegenden Verfahren begehrt die Klägerin die Differenz zwischen der ihr auf Grund der Betriebsvereinbarung gezahlten Entlohnung zum ihr auf Grund des Mindestlohntarifs zustehenden Entgelt. Die Beklagte beantragte, das Klagebegehren abzuweisen. Soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse, verwies sie auf ihren am erfolgten Beitritt zur BAGS, also zu einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft. Ein Mindestlohntarif dürfe aber nur für Arbeitnehmergruppen festgesetzt und angewendet werden, für die mangels einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft auf Arbeitgeberseite ein Kollektivvertrag nicht abgeschlossen werden könne. Bereits der Bestand einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft der Arbeitgeber schließe die Anwendung des Mindestlohntarifes aus, gleichgültig, ob tatsächlich ein Kollektivvertrag abgeschlossen worden sei. Damit könne der von der Klägerin ins Treffen geführte Mindestlohntarif - jedenfalls ab der Erlangung der Kollektivvertragsfähigkeit "durch die beklagte Partei" - nicht auf das Arbeitsverhältnis angewendet werden. Die Klägerin hielt diesem Einwand entgegen, dass die Rechtswirkungen des Mindestlohntarifes nach seinem Erlöschen für die bis dahin von ihm erfassten Arbeitsverhältnisse aufrecht blieben, bis für diese Arbeitsverhältnisse ein neuer Mindestlohntarif, ein neuer Kollektivvertrag, eine Satzung oder eine neue Einzelvereinbarung abgeschlossen werde. Unter "Erlöschen" sei jede Form der Beendigung der Geltungsdauer des Mindestlohntarifs zu verstehen. Da während des Arbeitsverhältnisses der Klägerin weder ein Kollektivvertrag noch eine neue Einzelvereinbarung abgeschlossen worden sei, seien daher auch nach dem sämtliche Ansprüche der Klägerin auf Grund der Nachwirkung des Mindestlohntarifs gerechtfertigt. Das Erstgericht gab dem nach einer Teilzahlung der Beklagten (nach Darstellung der Klägerin betrifft diese den auf die Zeit vor dem entfallenden Klagebetrag) noch offenen Klagebegehren statt. Es teilte die Rechtsauffassung der Klägerin, dass der Mindestlohntarif gemäß § 24 Abs 4 ArbVG über den hinaus nachgewirkt habe. Die gegenteilige Rechtsauffassung der Beklagten hätte zur Folge, dass die Dienstgeberseite durch die Erlangung der Kollektivvertragsfähigkeit und die nachfolgende Verweigerung des Abschlusses eines Kollektivvertrages die vom Gesetzgeber verfolgten sozialpolitischen Zwecke unterlaufen könnte.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Es verneinte zunächst den von der Beklagten in der Berufung erhobenen Einwand, das die Zeit ab betreffende Klagebegehren hätte schon auf Grund der Bindungswirkung der insofern unangefochten in Rechtskraft erwachsenen Abweisung des Klagebegehrens durch die zweite Instanz im vom Betriebsrat eingeleiteten Vorprozess abgewiesen werden müssen. Das über eine Feststellungsklage iSd § 54 Abs 1 ASGG ergehende Urteil wirke nur zwischen den Prozessparteien, also zwischen den parteifähigen Organen der Arbeitnehmerschaft und dem Arbeitgeber, nicht aber für oder gegen einzelne Arbeitnehmer. Für diese habe das Feststellungsurteil nur insofern faktische Wirkung, als es in der Praxis regelmäßig von den Beteiligten beachtet werde. In einem dessen ungeachtet nach einem Feststellungsverfahren nach § 54 Abs 1 ASGG von einem berechtigten Arbeitnehmer eingeleiteten Verfahren seien alle entscheidungswesentlichen Umstände ohne Bindung an das Ergebnis des Feststellungsverfahrens neuerlich zu prüfen. Im Übrigen erachtete es das Berufungsgericht unter Hinweis auf die Entscheidung im Feststellungsprozess, auf die offenbar die Zeit bis zum betreffende Teilzahlung der Beklagten und auf deren Prozessvorbringen als unstrittig, dass auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin zunächst der Mindestlohntarif anzuwenden gewesen sei und dass er für die Klägerin günstiger gewesen sei, als die Betriebsvereinbarung.

Für die Zeit nach dem sei das Erstgericht zu Recht von einer Nachwirkung des Mindestlohntarifs ausgegangen. Es treffe zu, dass dann, wenn nachträglich auf Arbeitgeberseite nach der Geltung eines Mindestlohntarif eine kollektivvertragliche Körperschaft bestehe, ein dem Erlöschen des Mindestlohntarifs gleichzuhaltender Sachverhalt bestehe. Für die betroffenen Arbeitnehmer sei die Geltungsdauer des Mindestlohntarifs beendet. Der Sinn der in § 13 ArbVG und in § 24 Abs 4 ArbVG normierten Nachwirkung bestehe darin, eine kollektivvertragslose (mindestlohntarif-, satzungs- oder einzelvereinbarungslose) Phase zu überbrücken. Dieser Zweck wäre unterlaufen, ginge man davon aus, dass der Mindestlohntarif nach dem Beitritt des Dienstgebers zu einer kollektivvertraglichen Körperschaft nicht mehr anwendbar wäre, obwohl weder ein Kollektivvertrag noch eine neue Einzelvereinbarung abgeschlossen worden sei.

Der Hinweis der Beklagten auf die damals in Geltung gestandene Betriebsvereinbarung übersehe, dass der Anspruch der Angestellten der Beklagten auf Zahlung nach dem Mindestlohn, für den Fall, dass das ihnen vertraglich oder auf Grund der Betriebsvereinbarung zustehende Entgelt niedriger sei, bereits durch die Entscheidung 9 ObA 202/00x klargestellt sei.

Die Revision sei zuzulassen, weil eine Judikatur des Obersten Gerichtshofs "zu einer Fallkonstellation wie im vorliegenden Fall" nicht bestehe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragte, der Revision nicht Folge zu geben. Die Revision ist zulässig, weil zur hier zu beurteilenden Rechtsfrage Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht vorliegt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aber nicht berechtigt.

Soweit die Beklagte abermals den Standpunkt vertritt, die im Vorprozess (Feststellungsverfahren nach § 54 Abs 1 ASGG) erfolgte Abweisung des Klagebegehrens für die Zeit nach dem sei für das nunmehrige Verfahren bindend und müsse zur Abweisung des auf diesen Zeitraum entfallenden Klagebegehrens führen, kann auf die zutreffenden Ausführungen der zweiten Instanz verwiesen werden. Diese hat zu Recht klargestellt, dass das über die Feststellungsklage nach § 54 Abs 1 ASGG ergehende Urteil nur zwischen den Prozessparteien, also zwischen den parteifähigen Organen der Arbeitnehmerschaft und dem Arbeitgeber wirkt, nicht aber zum Vorteil oder zum Nachteil der berechtigten Arbeitnehmer (keine erweiterte Rechtskraftwirkung). Diese erwerben daher auf Grund des über die Feststellungsklage ergehenden Urteils keinen Anspruch und verlieren auch allfällige Ansprüche nicht. Im nachfolgenden Prozess der berechtigten Arbeitnehmer sind deren Ansprüche daher neuerlich zu prüfen (RIS-Justiz RS0085545; zuletzt SZ 70/258). Dass das vorliegende Verfahren bis zur Rechtskraft des Feststellungsverfahrens nach § 54 Abs 1 ASGG unterbrochen war, ändert daran nichts. Auch der Umstand, dass sich die zweite Instanz mit ihren Ausführungen zum Verhältnis zwischen Mindestlohn und Betriebsvereinbarung (gegen den Rechtsstandpunkt der Revisionswerberin) auf die im Feststellungsverfahren ergangene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs berufen hat, kann keine Bindungswirkung des Vorprozesses für den hier zu beurteilenden Rechtsstreit begründen. Auch in der Sache selbst sind die Einwände der Beklagten nicht berechtigt:

Gemäß § 22 Abs 3 ArbVG darf - soweit hier von Interesse - ein Mindestlohntarif nur für Gruppen von Arbeitnehmern festgesetzt werden, für die ein Kollektivvertrag nicht abgeschlossen werden kann, weil kollektivvertragsfähige Körperschaften auf Arbeitgeberseite nicht bestehen. Allerdings hat der Oberste Gerichtshof bereits klargestellt, dass die Festsetzung des Mindestlohntarifs nicht bereits durch die Existenz einer kollektivvertragsfähigen Berufsvereinigung für den betroffenen Bereich ausgeschlossen wird, sondern erst dadurch, dass der Arbeitgeber auch Mitglied dieser Berufsvereinigung ist (Arb 12.137 mwN).

Erlangt eine Berufsvereinigung während des Bestandes eines Mindestlohntarifes die Kollektivvertragsfähigkeit für dessen Geltungsbereich (bzw. tritt der Arbeitgeber - wie hier - einer kurz zuvor kollektivvertragsfähig gewordenen Berufsvereinbarung bei), so führt dieser Umstand allein nicht zum Erlöschen des Mindestlohntarifes. Erst der Abschluss eines Kollektivvertrages bewirkt die Beendigung seiner Rechtswirkungen (Strasser in Strasser/Jabornegg/Resch, ArbVG, Rz 5 zu § 24). Dies ergibt sich unmittelbar aus § 24 Abs 3 ArbVG, der normiert, dass ein bestehender Mindestlohntarif durch Kollektivverträge und Satzungen für deren Geltungsbereich außer Kraft gesetzt wird. Damit ist aber die - dem von den Vorinstanzen zu Recht betonten Zweck der Regelung entsprechende - Absicht des Gesetzgebers erkennbar, dass nicht bereits der (dem Abschluss eines Kollektivvertrags notwendigerweise vorausgehende) Eintritt der Kollektivvertragsfähigkeit einer Berufsvereinigung (oder der Beitritt des Arbeitgebers zu einer solchen Vereinigung) die Rechtswirkungen des Mindestlohntarifs außer Kraft setzt, sondern erst der Abschluss eines Kollektivvertrages. Der Rückgriff auf § 24 Abs 4 ArbVG ist für dieses Ergebnis gar nicht erforderlich.

Im hier zu beurteilenden Fall ist - wie bereits ausgeführt - nicht strittig, dass die Beklagte am hier interessierenden Betriebsstandort dem fachlichen Geltungsbereich des Mindestlohntarifs entsprechende Dienste anbietet und vor dem keiner kollektivvertragsfähigen Körperschaft angehörte. Auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin war daher der Mindestlohntarif anzuwenden. Durch den Beitritt des Arbeitgebers zu einer Berufsvereinigung, die kurz vorher die Kollektivvertragsfähigkeit erlangt hat, wurden die Rechtswirkungen des Mindestlohntarifes für das Arbeitsverhältnis der Klägerin im Sinne der wiedergegebenen Rechtslage nicht beendet. Eine Beendigung dieser Rechtswirkungen durch den Abschluss eines Kollektivvertrages oder eine neue Einzelvereinbarung ist aber bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses der Klägerin nicht erfolgt.

Dass die Bestimmungen des Mindestlohntarifes durch eine Betriebsvereinbarung nicht aufgehoben oder beschränkt werden können, ergibt sich aus der unmissverständlichen Anordnung des § 24 Abs 2 ArbVG.

Damit erweist sich aber die angefochtene Entscheidung als zutreffend. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.