OGH vom 01.10.2002, 11Os81/02
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Teffer als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Julia E***** wegen des Verbrechens nach § 28 Abs 2 vierter Fall SMG und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Jugendschöffengericht vom , GZ 20 Hv 46/02d-13, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Kirchbacher, und der Verteidigerin Dr. Scheiber, jedoch in Abwesenheit der Angeklagten, zu Recht erkannt:
Spruch
Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde wird das Urteil aufgehoben und die Strafsache zu neuerlicher Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Mit ihren Berufungen werden die Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde die am geborene Julia E***** des Verbrechens nach § 28 Abs 2 vierter Fall SMG als Beitragstäterin nach § 12 dritter Fall StGB und (richtig:) der Vergehen nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG (vgl Foregger/Litzka/Matzka, SMG Erl VI.2. zu § 27) schuldig erkannt, weil sie
I. im Frühjahr 2001 in Götzis dazu beigetragen hat, dass der abgesondert verfolgte David S***** insgesamt 500 Gramm Marihuana (mit zumindest 8 % Reinsubstanzgehalt, US 4), sohin Suchtgift in einer großen Menge (§ 28 Abs 6 SMG), "durch Verkäufe und unentgeltliche Übergaben an verschiedene Drogenkonsumenten in Verkehr setzen konnte", indem sie ihre Wohnung für die Verwahrung und Portionierung des für den Verkauf bestimmten Suchtgiftes zur Verfügung stellte;
II. im Zeitraum November 1999 bis November 2001 dadurch ein Suchtgift erworben und besessen hat, dass sie unerhobene Mengen Marihuana sowie geringe Mengen Haschisch konsumierte.
Rechtliche Beurteilung
Gegen die Verneinung der Diversionsvoraussetzungen (§ 7 Abs 1 JGG, §§ 90a ff StPO) durch das Schöffengericht richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 10a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten. Aus deren Anlass konnte sich der Oberste Gerichtshof zunächst davon überzeugen, dass dem Schuldspruch laut Punkt I eine von der Beschwerdeführerin nicht relevierte Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 10 StPO anhaftet, welche daher gemäß § 290 Abs 1 StPO zugunsten der Angeklagten von Amts wegen wahrzunehmen ist.
Das Erstgericht traf zu diesem Schuldspruch nur folgende Feststellungen (US 4):
"Im Frühjahr 2001 trug die Angeklagte in Götzis dazu bei, dass der abgesondert verfolgte David S***** insgesamt 500 Gramm Marihuana durch Verkäufe und unentgeltliche Übergaben an verschiedene Drogenkonsumenten in Verkehr setzen konnte. Dies geschah dadurch, dass sie ihre Wohnung dem David S***** für die Verwahrung und auch die Portionierung des für den Verkauf bestimmten Suchtgiftes zur Verfügung stellte. Bewusst und gewollt trug sie dazu bei, wobei sie es auch ernstlich für möglich hielt und sich damit abfand, diesbezüglich in Bezug auf eine Suchtgiftmenge zu handeln, die ein Mehrfaches der Grenzmenge ausmachte.
Beim Marihuana handelte es sich um solches von durchschnittlicher Qualität mit einem Reinheitsgehalt von zumindest 8 % reinem THC."
Eine Konstatierung, wonach David S***** tatsächlich Suchtgift in (insgesamt) zumindest die Grenzmenge von 20 Gramm THC erreichender Quantität weitergab und die Angeklagte ein solches Verhalten förderte, traf das Erstgericht demnach (entsprechend den dem Urteil zugrunde gelegten [US 5], die Annahme des Verkaufs einer insgesamt großen Suchtgiftmenge auch keineswegs ermöglichenden Angaben der Julia E***** beim Gendarmerieposten Götzis [47]) nicht. Die undeutliche Feststellung, dass S***** die bezeichnete Menge Marihuana auf Grund des Verhaltens der Angeklagten (bloß) in Verkehr setzen konnte, vermag den Schuldspruch wegen Beitrags zum Inverkehrsetzen einer großen Suchtgiftmenge (§ 28 Abs 2 vierter Fall SMG, § 12 dritter Fall StGB) und die damit nach Lage des Falles verbundene rechtliche Annahme der Verdrängung des (geringer strafbedrohten) Deliktes nach § 28 Abs 1 SMG nicht zu tragen (§ 15 Abs 2 StGB; Fabrizy in WK2 § 12 Rz 108-110; Hager/Massauer in WK2 §§ 15, 16 Rz 13).
Dieser Mangel zwingt zur Urteilsaufhebung im Schuldspruch zu I und insoweit zur Anordnung der Verfahrenserneuerung.
Im zweiten Rechtsgang wird sich das Erstgericht zur Gewinnung einer die abschließende rechtliche Beurteilung ermöglichenden Tatsachengrundlage mit den Beweisergebnissen (darunter, soweit je nach Verfahrenskonstellation im Hinblick auf § 152 Abs 1 Z 1 und § 252 StPO zulässig, auch mit den Angaben des David S*****, S 59 ff, insbesondere S 67 f) näher zu befassen haben. In rechtlicher Hinsicht wird der Abgrenzung der Delikte nach § 28 Abs 1 SMG einerseits und § 28 Abs 2 vierter Fall SMG andererseits und für den Fall der Bejahung einer Strafbarkeit nach § 28 Abs 1 SMG der Möglichkeit echter Konkurrenz dieses Deliktes mit jenem nach § 27 Abs 1 sechster Fall SMG (vgl 15 Os 58/00) besonderes Augenmerk zu widmen sein. Diesfalls wird auch jenen generalpräventiven Aspekten (vom Erstgericht behauptete aktuelle Entwicklungen im Bereich einschlägiger Jugendkriminalität: US 6 f), welche als besondere Gründe (§ 7 Abs 1 JGG) unter der dem Schuldspruch laut Punkt I zugrunde liegenden Annahme, dass die Angeklagte zum Inverkehrsetzen einer großen Suchtgiftmenge beitrug, die Anwendung diversoneller Maßnahmen nach § 90a StPO noch hindern konnten, geringere Bedeutung zuzuerkennen sein. Denn "schwere Schuld" steht einem diversionellen Vorgehen in Ansehung dieser Tat bei der besonderen Fallgestaltung (Gestatten der Aufbewahrung und Portionierung von Marihuana in der Wohnung der jugendlichen Angeklagten ohne ersichtliches Gewinnstreben) der Ansicht des Erstgerichtes zuwider nicht entgegen. Für diesen Begriff ist jener Schuldbegriff maßgebend, der in §§ 32 ff StGB als Grundlage für die Bemessung der Strafe dient, wobei stets nach Lage des konkreten Falles eine ganzheitliche Abwägung aller unrechts- und schuldrelevanten Tatumstände vorzunehmen ist. Erst wenn - wofür der gegebene Fall keine Anhaltspunkte bietet - Handlungs- und Gesinnungsunwert insgesamt eine Unwerthöhe erreichen, die im Weg einer überprüfbaren Gesamtbewertung als auffallend und ungewöhnlich zu beurteilen ist, ist vom Vorliegen schwerer Schuld auszugehen (14 Os 38, 39/02).
Soweit sich die Beschwerdeausführungen auf die unter Punkt II des Schuldspruchs angeführten Taten beziehen, ist ihnen grundsätzlich zuzustimmen, wobei eine getrennte Beurteilung der unter I und II erfassten Tatvorwürfe möglich ist. Denn bei Realkonkurrenz ist - was dabei von Bedeutung ist - denkbar, dass die Diversionsvoraussetzungen hinsichtlich einzelner Taten vorliegen, hinsichtlich anderer aber nicht, sodass nur in Bezug auf erstere eine diversionelle Maßnahme zu setzen ist (vgl die Berücksichtigung einer solchen Möglichkeit in § 90h Abs 3 StPO [auch] in Hinsicht auf § 90h Abs 2 Z 3 StPO). Spezialpräventiv ist eine Bestrafung wegen der in Rede stehenden Taten schon im Hinblick auf den Verfahrensablauf bis zur Hauptverhandlung nicht erforderlich (§ 90a Abs 1 letzter Halbsatz StPO). Besondere Gründe, aus denen in Bezug auf diese Taten der Ausspruch einer Strafe in generalpräventiver Hinsicht unerlässlich erschiene (§ 7 Abs 1 JGG), ergeben sich selbst aus den angeführten erstrichterlichen Erwägungen nicht. Beim festgestellten, im Urteilsspruch unter Punkt II zusammengefassten Sachverhalt ist die Schuld der Angeklagten in der dargelegten Bedeutung auch nicht als schwer anzusehen. Daher vermögen die Urteilsfeststellungen die Nichtanwendung der Diversion in Ansehung der genannten Taten nicht zu tragen (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 659).
Allerdings kommt hier auch eine - ihrer Art nach ebenfalls diversionelle - Erledigung nach § 35 iVm § 37 SMG in Betracht, welche sich für die Angeklagte günstiger auswirken könnte als eine Intervention nach § 90a StPO. Wird nämlich eine Person angezeigt, weil sie - wie hier zu II indiziert - den bestehenden Vorschriften zuwider eine geringe Menge Suchtmittel zum eigenen Gebrauch erworbenen und besessen hat (wobei eine Zusammenrechnung der zu verschiedenen Zeiten zum eigenen Gebrauch erworben und besessenen geringen Suchtmittelmengen nicht stattfindet: vgl 13 Os 106/94), so hat die Staatsanwaltschaft unter den in § 35 Abs 3 ff SMG genannten Voraussetzungen und Bedingungen die Anzeige für eine Probezeit von zwei Jahren vorläufig zurückzulegen. Erforderlich sind darnach eine Auskunft der Suchtmittelüberwachungsstelle über allfällige Vormerkungen nach § 25 SMG (§ 35 Abs 3 Z 1 SMG), ferner, sofern nicht wegen Geringfügigkeit davon Abstand genommen werden kann (§ 35 Abs 4 SMG) eine nach medizinischer Begutachtung abzugebende (§ 35 Abs 5 SMG) Stellungnahme der Bezirksverwaltungsbehörde als Gesundheitsbehörde über die Notwendigkeit einer gesundheitsbezogenen Maßnahme nach § 11 Abs 2 SMG und - bejahendenfalls - welcher, und ob eine solche Maßnahme zweckmäßig, nach den Umständen möglich und zumutbar und nicht offenbar aussichtslos ist (§ 35 Abs 3 Z 2 SMG). Bedarf es einer solchen gesundheitsbezogenen Maßnahme, hängt die Anzeigezurücklegung von der Bereitschaft des Angezeigten (und gegebenenfalls seines gesetzlichen Vertreters) ab, sich dieser Maßnahme zu unterziehen (§ 35 Abs 6 SMG). Gleiches gilt für eine als zweckmäßig gehaltene Betreuung durch den Bewährungshelfer (§ 35 Abs 7 SMG).
Anders als in § 90a Abs 2 Z 2 StPO ist die - im Falle des Abs 1 obligatorische - vorläufige Zurücklegung der Anzeige jedoch vom Grad der Schuld unabhängig. Auch general- oder spezialpräventive Schranken - außer den obgenannten, die allein auf eine Suchtmittelgewöhnung des Angezeigten abstellen -, stehen im Gegensatz zu § 90a Abs 1 Z 4 StPO der Anwendung der Bestimmung des § 35 Abs 1 SMG nicht entgegen. Gemäß § 37 SMG gelten die §§ 35 und 36 dem Sinne nach für eine vorläufige Einstellung des Strafverfahrens durch das Gericht, das zudem die Einstellung auch davon abhängig machen kann, dass sich der Beschuldigte bereit erklärt, bestimmten (anderen) Weisungen (§ 51 StGB) nachzukommen.
Verglichen mit den Möglichkeiten des § 90a StPO iVm § 7 Abs 1 JGG, die neben einer maximal zweijährigen Probezeit wahlweise eine Geldbuße, einen außergerichtlichen Tatausgleich und gemeinnützige Leistungen, jeweils unter gleichzeitig möglicher Festsetzung von Auflagen umfassen, ist daher § 35 Abs 1 SMG in seiner Gesamtheit die für den Betroffenen günstigere Norm.
Ihre Nichtberücksichtigung begründet Nichtigkeit nach § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO (zur Ablehnung der Einstufung als bedingt temporärer sachlicher Strafausschließungsgrund vgl Burgstaller, JBl 2000, 606) und führt, weil die Urteilskonstatierungen mangels konkreter Feststellungen zur jeweiligen Suchtgiftmenge sowie wegen Fehlens der vorgesehenen Stellungnahmen eine sofortige Entscheidung nicht zulassen, der Nichtigkeitsgrund zudem nicht geltend gemacht wurde, zu dessen amtswegiger Wahrnehmung und damit zur Aufhebung des davon betroffenen Schuldspruches II. Diesbezüglich wird das Erstgericht daher die materiellen und formellen Voraussetzungen des § 35 SMG zu prüfen, eventualiter aber nach dem Hauptstück IXa der StPO vorzugehen haben.