VfGH vom 20.09.1984, B649/83
Sammlungsnummer
10112
Leitsatz
StGG Art 8; unvertretbare Annahme von Verwaltungsübertretungen gemäß ArtIX Abs 1 Z 1 und 2 und ArtVIII EGVG idF BGBl. 232/1977; keine Festnehmungsgründe gemäß § 35 VStG; Verletzung der persönlichen Freiheit durch Festnehmung und anschließende Verwahrung
Spruch
Der Bf. ist durch seine nachts zum in Wien von Organen der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in Haft im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) und das Land Wien sind schuldig, dem Bf. zuhanden des Beschwerdevertreters die mit 33000 S bestimmten Verfahrenskosten je zur Hälfte binnen vierzehn Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Dr. A L begehrt in seiner unter Berufung auf Art 144 Abs 1 B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er durch (der Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. zuzurechnende) exekutive Amtshandlungen, nämlich seine Festnahme nachts zum in Wien und seine darauffolgende Verwahrung, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG sowie Art 5 MRK) verletzt worden sei.
1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und beantragte darin die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.
1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß der Bf. nachts zum in der Rotundenallee in Wien von dem dort Dienst versehenden Sicherheitswachebeamten J D wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretungen nach ArtIX Abs 1 Z 1 und 2 EGVG 1950 idF des ArtI Z 8 des BGBl. 232/1977 und nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 gemäß § 35 litc VStG 1950 festgenommen wurde.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1.1. Gemäß Art 144 Abs 1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9860/1983 ua.).
2.1.2. Demgemäß ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, in vollem Umfang zulässig.
2.2.1. Art 8 StGG gewährt - ebenso wie Art 5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art 8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art 149 Abs 1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem § 4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.
§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann vorliegt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974, 9860/1983).
Gemäß § 35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.
2.2.2.1. Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen konnte, daß der Bf. sich die Übertretungen nach ArtIX Abs 1 Z 1 und 2 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 sowie nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 zuschulden kommen ließ (s. Punkt 1.2.).
2.2.2.2.1. Nach ArtIX Abs 1 Z 1 EGVG 1950 in der geltenden Fassung begeht eine Verwaltungsübertretung, wer "durch ein Verhalten, das Ärgernis zu erregen geeignet ist, die Ordnung an öffentlichen Orten stört".
Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGh (VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8580/1979, 9860/1983) und des VwGH (VwSlg. 2263 A/1951, 6581 A/1965, 7815 A/1970) durch zwei Elemente gekennzeichnet: der Täter muß einmal ein Verhalten zeigen, das geeignet ist, bei einem normal empfindenden Menschen Ärgernis zu erregen; zum zweiten muß durch dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört, also ein Zustand hergestellt worden sein, welcher der Ordnung widerspricht, wie sie an einem solchen Ort gefordert werden muß.
2.2.2.2.2. Einer Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs 1 Z 2 EGVG 1950 in der geltenden Fassung macht sich schuldig, wer "sich ungeachtet vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht oder gegenüber einer Militärwache, während sich diese Personen in rechtmäßiger Ausübung des Amtes oder Dienstes befinden, ungestüm benimmt".
Der VfGH vertritt in ständiger Rechtsprechung (zB VfSlg. 9229/1981, ferner VfSlg. 9730/1983, 9921/1984) - in Übereinstimmung mit der Judikatur des VwGH (zB VwSlg. 2263 A/1951; und Z 873/78) - die Auffassung, daß unter "ungestümem Benehmen" ein sowohl in der Sprache als auch in der Gestik der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten anzusehen ist (s. auch VfSlg. 7464/1974).
2.2.2.2.3. Nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 in der geltenden Fassung hat eine Verwaltungsübertretung zu verantworten, wer "ungebührlicherweise störenden Lärm erregt".
Nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8654/1979, 9919/1984) und des VwGH (, Z 81/10/0104) wird (störender) Lärm iS dieses Tatbildes dann "ungebührlicherweise" erregt, wenn das inkriminierte Verhalten jene Rücksichtnahme vermissen läßt, welche die Umwelt regelmäßig verlangen kann.
2.2.3. Dazu stellt der VfGH aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens, insbesondere der Aussage des vernommenen Zeugen J D und der Parteiaussage des Dr. A L sowie der vorgelegten Verwaltungsakten, folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:
Nachts zum forderte der dienstversehende Sicherheitswachebeamte J D in der Rotundenallee in Wien die dort einen PKW lenkende Dr. B L-R, die Ehefrau des mitanwesenden Bf., auf, sich einem sogenannten "Alko-Test" zu unterziehen, weil sie den Umständen nach im Verdacht der Alkoholisierung stehe. Im Verlauf dieser Amtshandlung nahm der Bf. in Darlegung seiner Rechtsmeinung für seine Ehefrau Partei und suchte den Polizeibeamten - aus seiner subjektiven Sicht - (ua. über die Rechte der Angehaltenen) nachdrücklich zu belehren. Er wurde daraufhin abgemahnt und - da er dessenungeachtet immer wieder das Wort ergriff - iS der Feststellungen zu Punkt 1.2. gemäß § 35 litc VStG 1950 festgenommen. Wie der im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Zeuge einvernommene Revierinspektor J D aussagte, lasse sich die damalige Redeweise des Bf., der "leicht aufgebracht" gewesen und unter Alkoholeinfluß gestanden sei, nicht als "Schreien", sondern (nur) als "lauteres Sprechen" bezeichnen. Der Zeuge D sagte zwar vor Gericht auch aus, der Bf. habe "geschimpft", vermochte aber konkrete beleidigende Äußerungen - wie sie etwa in der polizeilichen Anzeige vom enthalten sind - nicht zu nennen. Der als Partei gehörte Bf. selbst stellte ein lärmendes, ungestümes Verhalten der Sache nach entschieden in Abrede. Die unbeteiligte Zeugin J L bestätigte, daß sich die von ihr aus einiger Entfernung beobachtete Amtshandlung - allseits - "sehr ruhig" abspielte.
Unter diesen Umständen gelangt der VfGH zur Auffassung, daß der Bf. nach der sich damals dem Sicherheitsorgan darbietenden Situation ersichtlich noch nicht die Grenze zum Strafbaren überschritt, also weder die an Ort und Stelle zu fordernde öffentliche Ordnung störte, noch ungewöhnlich heftig vorging (Übertretungen nach ArtIX Abs 1 Z 1 und 2 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977), noch jene Rücksicht vermissen ließ, welche die Umwelt regelmäßig fordern kann (Verwaltungsübertretung nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 in der geltenden Fassung), mag er sich auch insgesamt - ungehörigerweise - in Ton und Ausdruck vergriffen haben (vgl. auch VfSlg. 9730/1983).
2.2.4. Angesichts dieser Rechts- und Sachlage konnte der einschreitende Sicherheitswachebeamte nach Auffassung des VfGH nicht mit gutem Grund annehmen, daß dem Bf. auch bloß eine der von der bel. Beh. herangezogenen Verwaltungsübertretungen zur Last falle.
2.2.5. War aber die Beurteilung des Verhaltens des Bf. als Verwaltungsübertretung unvertretbar, konnten auch Festnehmungsgründe gemäß § 35 VStG 1950 nicht in Betracht kommen. Die Festnehmung und anschließende Verwahrung des Bf. war infolgedessen gesetzwidrig.
2.3. Der Bf. wurde somit durch seine Festnehmung und darauffolgende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.
Der Beschwerde war darum schon aus den dargelegten Erwägungen stattzugeben, ohne daß es eines Eingehens auf das sonstige Beschwerdevorbringen bedurfte.
2.4. Die Kostenentscheidung fußt auf § 88 VerfGG 1953. Dabei war zu beachten, daß die Organe der bel. Beh. hier im Kompetenzbereich sowohl des Bundes als auch des Landes Wien einschritten (vgl. ).