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OGH 24.03.2014, 8Ob7/14h

OGH 24.03.2014, 8Ob7/14h

Rechtssätze


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Normen
RS0048699
Eine Änderung in der Zuerkennung der elterlichen Rechte und Pflichten im Sinne des § 177 ABGB nF an einen Elternteil setzt ein Verhalten desselben voraus, das die Interessen seines Kindes gefährdet. Eine solche Änderung darf daher vom Pflegschaftsgericht nur dann angeordnet werden, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten ist, wobei bei Beurteilung dieser Frage grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen ist.
Normen
ABGB §176 B
ABGB §176 C
ABGB §177 B
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §181
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §185 Abs1
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §185 Abs2
RS0048632
Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind.
Normen
ABGB §176a
ABGB §176 C
ABGB §215 Abs1 Satz2
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §181
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §185 Abs1
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §185 Abs2
RS0048712
In Entsprechung des Grundsatzes der Familienautonomie soll den Familienmitgliedern die Obsorge solange gewahrt bleiben, als sich das mit dem Kindeswohl verträgt, sodass die Beschränkung der Obsorge nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden darf, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist. Von einer solchen Vorkehrung darf das Gericht nur aus schwerwiegenden Gründen Gebrauch machen. An sich kann das Gericht zwar bis zur endgültigen Entscheidung nach den §§ 176 beziehungsweise 176a ABGB vorläufige dringende Maßnahmen treffen, solcher vorläufiger gerichtlicher Vorkehrungen bedarf es jedoch dann nicht, wenn der Jugendwohlfahrtsträger die Heimunterbringung im Rahmen seiner Befugnisse vorläufig selbst getroffen hat, sofern er nur rechtzeitig eine entsprechende gerichtliche Verfügung beantragt hat. Die vom Jugendwohlfahrtsträger getroffene vorläufige Maßnahme hat nämlich bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung Bestand.
Normen
ABGB §176 B
ABGB §177 B
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §181
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §185 Abs1
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §185 Abs2
RS0048633
Unter dem Begriff der Gefährdung des Kindeswohls ist nicht geradezu ein Missbrauch der elterlichen Befugnisse zu verstehen. Es genügt, dass die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllt oder (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind oder die Eltern durch ihr Gesamtverhalten des Wohl des Kindes gefährden. Eine Pflichtverletzung kann auch vorliegen, wenn die Eltern ihre Pflicht zu einvernehmlichen Vorgehen verletzen. Die Gefährdung des Kindeswohls kann daher auch schon darin liegen, dass wichtige Veränderungen eingetreten sind, die Eltern aber diesen Veränderungen nicht durch einvernehmliches Vorgehen Rechnung tragen.
Normen
ABGB §142 F
ABGB §176 B
ABGB §176 C
ABGB §177 B
ABGB §215 Abs1 Satz2
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §181
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §185 Abs1
ABGB idF KindNamRÄG 2013 §185 Abs2
RS0047841
Das Fehlen einer dem § 142 Abs 2 ABGB aF entsprechenden Bestimmung im neuen Gesetz stellt klar, dass die einmal einem Elternteil zuerkannten rein persönlichen Rechte aus dem Elternverhältnis und Kindschaftsverhältnis nur dann auf den anderen übertragen werden dürfen, wenn die Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB nF vorliegen; es ist eher ein noch strengerer Maßstab als bisher anzulegen.
Normen
ABGB §176 B
JWG §26
RS0048704
Maßnahmen nach § 176 ABGB nF oder § 26 JWG sind nur gerechtfertigt, wenn die Eltern die Erziehung vernachlässigen, oder die Erziehungsgewalt missbrauchen, nicht aber schon dann, wenn die Erziehung bei einer dritten Person besser wäre als die an sich ordnungsgemäße Erziehung bei den Eltern.

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden und durch den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj K***** B*****, geboren am , vertreten durch den Jugendwohlfahrtsträger Magistrat der Stadt Wien, MA 11, 1130 Wien, Eduard-Klein-Gasse 2, dieser vertreten durch Schuppich Sporn & Winischhofer Rechtsanwälte in Wien, über den Revisionsrekurs der Mutter O***** B*****, vertreten durch Mag. Franz Kellner, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , AZ 45 R 340/13b, 45 R 341/13z, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom , GZ 3 Ps 246/12m-68, teilweise bestätigt und teilweise aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Die Ehe der Eltern ist geschieden, zuletzt kam der Mutter die alleinige Obsorge für die im Entscheidungszeitpunkt erster Instanz 4½ jährige Tochter zu. Der Vater lebt im Ausland.

Die Mutter leidet an einer psychiatrischen Erkrankung in Form einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und desorganisierten Zügen sowie einer aktuellen hypomanischen Befindlichkeit mit Größenideen, Antriebssteigerung und Ideenflucht sowie mangelnder Realitätsverarbeitung. Die Denkstörungen und die paranoide Realitätsverarbeitung schränken die Fähigkeit der Mutter ein, dem Kind als stabile Vertrauensperson zu dienen und ihm grundlegende Lernchancen zu eröffnen. Durch ihre Erkrankung, die sie nicht einsieht, ist die Mutter mit sich selbst beschäftigt, überfordert, und glaubt an politische Verfolgungen und Machenschaften gegen ihre Person. Die Bedürfnisse des Kindes sind ihr dadurch zunehmend nachrangig.

Im Kindergarten fiel sie durch häufiges Zuspätkommen und verspätetes Abholen der Tochter auf. Sie vermochte das Kind weder regelmäßig mit einer Jause, noch mit ausreichender Wechselkleidung zu versorgen. Die Mutter erkennt zwar, dass sie mit der Versorgung des Kindes überfordert ist, sie ist aber nicht krankheitseinsichtig und spricht davon, mit dem Kind in die USA auswandern zu wollen.

Seit Dezember 2012 wohnt das Kind mit Zustimmung der Mutter bei der mütterlichen Großmutter, bei der es sich wohlfühlt und die auch in Zukunft zur Betreuung bereit ist. Der Vater und der Jugendwohlfahrtsträger befürworten die Fortsetzung der Betreuung durch die Großmutter. Zwischen Kindesmutter und Großmutter besteht ein konfliktbeladenes, angespanntes Verhältnis, das Besuchskontakte erschwert.

Mit dem verfahrensgegenständlichen Beschluss entzog das Erstgericht der Mutter die Obsorge und übertrug sie dem antragstellenden Jugendwohlfahrtsträger, weiters traf es eine Besuchsrechtsregelung. Es erachtete das Wohl des Kindes unter Obsorge der Mutter für gefährdet, weil sie der Tochter derzeit aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung nicht als stabile Vertrauensperson dienen könne.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung über die Entziehung der Obsorge, hob aber den Beschluss über die Besuchsrechtsregelung zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

Es vertrat die Rechtsansicht, die getroffenen Feststellungen über einen gestörten Realitätsbezug der Mutter seien im Anlassfall geeignet, die vom Erstgericht gezogenen Schlüsse zu rechtfertigen. Nicht zuletzt gefährde das Vorhaben, mit der Tochter in die USA auszuwandern, das Kindeswohl, weil es dazu der Mutter krankheitsbedingt an der nötigen Vorausschau, Planungsfähigkeit und Zuverlässigkeit mangle.

In ihrem Revisionsrekurs macht die Mutter geltend, die Rechtsansicht des Rekursgerichts finde in den Ergebnissen des Beweisverfahrens und im psychiatrischen Sachverständigengutachten keine Deckung. Die wenigen konkret festgestellten Vorfälle verspäteten Abholens, fehlender Jause oder Ersatzkleidung seien im Alltag alleinerziehender Eltern nicht völlig ungewöhnlich. Bei einem noch nicht in der Schule integrierten Kind sei eine allfällige Auswanderung kein Grund, eine wesentliche Gefährdung seines Wohls zu befürchten. Es sei auch nicht berücksichtigt worden, dass das Kind bereits ohne seinen Vater auskommen müsse und durch eine zusätzliche dauernde Trennung von der Mutter seelisch besonders belastet würde.

Der Jugendwohlfahrtsträger hat im Namen des Kindes eine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die bisherigen Verfahrensergebnisse eine abschließende rechtliche Beurteilung noch nicht zulassen. Er ist daher im Sinne seines Aufhebungsantrags berechtigt.

Die vom Jugendwohlfahrtsträger beantragte Entziehung der Obsorge ist nach § 181 Abs 1 ABGB (§ 176 Abs 1 ABGB idF vor dem KindNamRÄG 2013) zu beurteilen.

Eine solche Maßnahme darf nach ständiger Rechtsprechung nur angeordnet werden, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten ist, wobei grundsätzlich ein strenger Maßstab angelegt werden muss (RIS-Justiz RS0048699; RS0047841). Wegen des damit regelmäßig verbundenen Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) darf sie nur das letzte Mittel sein und nur soweit angeordnet werden, als das zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist (RIS-Justiz RS0048712; RS0085168 [T5]; 8 Ob 304/00i; 3 Ob 155/11g; 5 Ob 63/13w; 4 Ob 165/13p). Dass ein Kind in sozialen Einrichtungen oder bei Dritten besser versorgt, betreut oder erzogen würde als bei seinen Eltern, rechtfertigt für sich allein noch keinen Eingriff in die elterliche Obsorge (RIS-Justiz RS0048704; zuletzt 5 Ob 63/13w; 4 Ob 165/13p).

Das Kindeswohl ist gefährdet, wenn die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllt oder (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind (RIS-Justiz RS0048633). Ob ein bestimmter Sachverhalt die Entziehung der Obsorge rechtfertigt, ist eine immer aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls zu treffende Ermessensentscheidung; sie kann nur auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage getroffen werden.

Im konkreten Fall reichen die Feststellungen des Erstgerichts für die Annahme einer nicht anders abwendbaren Gefährdung des Kindeswohls noch nicht aus.

Gefährliche Mängel in der physischen Versorgung des Kindes sind dem bisher festgestellten Sachverhalt insofern noch nicht zu entnehmen, als Verspätungen oder das Vergessen von Ersatzwäsche und Jause für den Kindergarten vor allem eine Belastung der dort tätigen Pädagoginnen mit sich bringen, die das Kind mit dem Fehlenden zu versorgen haben. Eine gefährdende Belastung des Kindes durch diese Vorkommnisse geht aus dem Sachverhalt nicht hervor. Ob es auch Versorgungs- und Betreuungsdefizite außerhalb der Kindergartenzeiten gegeben hat, ist den Entscheidungen der Vorinstanzen überhaupt nicht konkret zu entnehmen.

Dem Revisionsrekurs muss zugestanden werden, dass das Beweisverfahren zwar eine ernstzunehmende psychische Erkrankung der Mutter mit erheblicher Verhaltensauffälligkeit zutage gebracht hat, das den erstgerichtlichen Feststellungen zugrunde gelegte psychiatrische Sachverständigengutachten aber bezüglich der konkreten Auswirkungen der mütterlichen Erkrankung auf ihre Erziehungsfähigkeit ziemlich verschwommen geblieben ist. Wenn in der zusammenfassenden Beurteilung des Gutachtens, die von den Vorinstanzen übernommen wurde, lediglich ausgeführt wird, dass „die mit dieser Erkrankung verbundenen Symptome der Denkstörungen und paranoiden Realitätsverarbeitung (...) vor allem die für die Erziehungsfähigkeit notwendigen Kriterien der Fähigkeit, dem Kind als stabile Vertrauensperson zu dienen und ihm grundlegende Lernchancen zu eröffnen“, ist allein damit eine so manifeste Gefährdung des Kindeswohls, dass ihr nur mit der äußersten Maßnahme einer Obsorgeentziehung begegnet werden kann, nicht ausreichend fassbar.

Ob die Erziehungsfähigkeit nur beeinträchtigt ist, aber mit unterstützenden Maßnahmen die Defizite kompensierbar wären, oder von Erziehungsunfähigkeit gesprochen werden muss, geht ebensowenig hervor wie eine konkrete Zukunftsprognose. Der Umstand, dass die Mutter nicht krankheitseinsichtig ist, schließt es nach dem bisherigen Stand der Feststellungen noch nicht aus, dass sie sich wenigstens im Interesse des angestrebten Ausgangs des Obsorgeverfahrens einer Behandlung unterziehen würde. Ob eine Behandlung unter den gegebenen Umständen überhaupt erfolgversprechend sein könnte, kann ohne Ergänzung des Sachverständigengutachtens nicht beurteilt werden.

Dem Revisionsrekurs ist auch beizupflichten, dass bei der Entscheidung über eine Obsorgeentziehung auch die zwangsläufig belastenden Auswirkungen dieser Maßnahme auf das Kindeswohl mit berücksichtigt werden müssen. Das Kind konnte nach der Scheidung seiner Eltern den im Ausland lebenden Vater, zu dem es eine innige Bindung hatte, nur mehr selten sehen. Feststellungen über die Qualität der persönlichen Bindung zwischen Mutter und Kind haben die Vorinstanzen aber nicht getroffen (vgl 4 Ob 165/13p).

Es muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass eine dauerhafte Trennung auch von der Mutter im Einzelfall eine besondere Belastung für das Kind darstellen würde. Eine Obsorgeentziehung kann nur dann angemessen sein, wenn die Nachteile und Gefahren der Aufrechterhaltung der bisherigen Verhältnisse für das Kindeswohl eindeutig jene übersteigen, die mit dem Wechsel notwendigerweise einhergehen.

Soweit eine Gefährdung durch die völlig unausgegorenen Auswanderungsüberlegungen der Mutter angenommen wurde, ist nicht klar hervorgekommen, ob sie nur Phantasiespielereien im Rahmen ihrer psychiatrischen Erkrankung nachhängt, oder aber eine praktische Umsetzung tatsächlich ernsthaft anstrebt.

Aus diesen Gründen sind die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben. Das Erstgericht wird nach Verfahrensergänzung im aufgezeigten Sinn seine neuerliche Entscheidung zu treffen haben.

Zusatzinformationen


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Rechtsgebiet
Zivilrecht
ECLI
ECLI:AT:OGH0002:2014:0080OB00007.14H.0324.000
Datenquelle

Fundstelle(n):
PAAAE-06169