OGH vom 28.01.2003, 10ObS4/02i

OGH vom 28.01.2003, 10ObS4/02i

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Mag. Dr. Günther Schön (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerda Höhrhan-Weiguni (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Renate W*****, ohne Beschäftigung, vertreten durch Maria W*****, beide ***** als Sachwalterin, diese vertreten durch Mag. Gernot Faber und Mag. Christian Kühteubl, Rechtsanwälte in Wiener Neustadt, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Rs 48/01x-44, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 3 Cgs 66/98b-39, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Kostenentscheidung des Berufungsgerichtes richtet, zurückgewiesen.

Im Übrigen wird der Revision nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am geborene Klägerin war nach Absolvierung von acht Klassen Sonderschule vom bis in einem Lagerhaus als Regalbetreuerin beschäftigt. Es konnten ihr an diesem Arbeitsplatz immer nur kleine konkrete Arbeitseinheiten angeschafft werden. Sie war nicht in der Lage, mehrere Arbeitsabläufe hintereinander selbständig zu bewältigen. Die Klägerin musste häufig kontrolliert werden; ihr Arbeitstempo bewegte sich zwischen "normal" und "recht langsam". Insgesamt war ihre dort erbrachte Arbeitsleistung mit weniger als 50 % der Arbeitsleistung einer nicht behinderten Person zu veranschlagen.

Vom bis absolvierte die Klägerin eine Umschulung nach den Bestimmungen des Arbeitsmarktförderungsgesetzes. Im Zeitraum vom bis war sie als Arbeiterin in einem Gasthof beschäftigt. Ihre Tätigkeit bestand im Aufwaschen und Zusammenräumen. Das Arbeitstempo der Klägerin war entschieden langsamer als jenes anderer Mitarbeiter; es konnten ihr wiederum nur ganz kleine Arbeitseinheiten angeschafft werden, wobei sie sehr unselbständig agierte und daher häufig kontrolliert werden musste. Insgesamt entsprach ihre Arbeitsleistung an diesem Arbeitsplatz bei Beginn der Tätigkeit der Arbeitsleistung von 30 %, bei Ende des Arbeitsverhältnisses nur mehr jener von 25 % der Arbeitsleistung eines Gesunden.

Im Zeitraum vom bis arbeitete die Klägerin mit Unterbrechungen (insgesamt 31 Beitragsmonate) als Hilfsarbeiterin im Kaufhaus ihrer Mutter. Sie war hauptsächlich mit Reinigungs- und Regalbetreuungsarbeiten beschäftigt. Ihre Arbeitsleistung war schwankend, wobei sie an schlechteren Tagen auf Grund der höheren Fehlerquote häufiger kontrolliert werden musste, während sie an besseren Tagen keiner gesonderten Kontrolle bedurfte. Bei Einschlicht- und Preisauszeichnungsarbeiten musste sie, wenn sich die einschlägig ausgezeichnete Ware im Regal befand, nicht gesondert angewiesen werden; bei Produkten, bei denen es keine Restware mehr gab, bedurfte sie jedoch fremder Hilfe.

Bei den genannten Arbeitsstätten handelte es sich weder um geschützte Arbeitsstätten noch um integrative Betriebe im Sinne des § 11 BEinstG. Der Klägerin wurde jedoch jeweils Hilfe auf einem geschützten Arbeitsplatz im Sinne des § 21 NÖ Sozialhilfegesetz gewährt. Ihre Dienstgeber erhielten vom Land Niederösterreich sowie vom Bundessozialamt Wien, Niederösterreich, Burgenland Zuschüsse zu den Lohnkosten. Ohne diese Zuschüsse wäre eine Anstellung der Klägerin wirtschaftlich nicht vertretbar gewesen. Die Klägerin konnte ihrer erwähnten Arbeit auch nur deshalb nachgehen, weil ihr die Arbeitgeber bezüglich ihrer Behinderung massiv entgegenkamen und sie gleichsam am Arbeitsplatz betreuten.

Bei der Klägerin bestehen bedingt durch einen perinatalen Hirnschaden ein Entwicklungsrückstand im seelischen und geistigen Bereich mit einer mäßiggradigen Intelligenzminderung sowie die Entwicklung von autistischen Zügen und psychomotorischen Anfällen. Ab Herbst 1992 verschlechterte sich der Zustand der Klägerin infolge einer enttäuschten Liebesbeziehung und eines Selbstmordes eines nahen Angehörigen weiter, sodass sie letztlich im Betrieb ihrer Mutter seltsame Verhaltensweisen wie "Schattenboxen neben den Kunden" an den Tag legte und man ihr, was vorher noch möglich war, nicht einmal mehr den Hausschlüssel für das Wohnhaus anvertrauen konnte. Die Klägerin war bereits zum Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben nicht in der Lage, einer geregelten Arbeit am allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Sie ist dazu auch seither nicht in der Lage.

Mit Bescheid vom lehnte die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den Antrag der Klägerin auf Gewährung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass Invalidität nicht vorliege, weil die Klägerin ihre Erwerbsunfähigkeit in das Berufsleben eingebracht habe.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab und schloss sich in seiner rechtlichen Beurteilung dem im Bescheid vertretenen Rechtsstandpunkt an.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und teilte auch dessen rechtliche Beurteilung.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagestattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt. Weil sich im vorliegenden Rechtsstreit gewichtige Anzeichen ergaben, dass die Klägerin wegen einer psychischen Krankheit unter anderem ihre Angelegenheiten als Prozesspartei nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen vermochte und dass die Voraussetzungen des § 273 ABGB vorliegen könnten, verständigte das Revisionsgericht mit Beschluss vom davon nach § 6a Satz 1 ZPO das Bezirksgericht Aspang als nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin damals zuständiges Pflegschaftsgericht. In der Folge teilte das nunmehr zuständige Bezirksgericht Neunkirchen mit, dass das Bezirksgericht Aspang mit Beschluss vom , P 11/02w-4, Maria W***** zur einstweiligen Sachwalterin unter anderem auch für die Vertretung der Klägerin im vorliegenden Rechtsstreit bestellt hat. Mit dem in Rechtskraft erwachsenen Beschluss des Bezirksgerichtes Neunkirchen vom , GZ 11 P 92/02x-10, wurde Maria W***** für die Besorgung aller Angelegenheiten (§ 273 Abs 3 Z 3 ABGB) zur Sachwalterin bestellt. Die Sachwalterin erklärte bei ihrer Befragung vor dem Bezirksgericht Neunkirchen am , dass die bisherige Prozessführung durch sie nachträglich genehmigt werde.

Zum Rechtsmittel der Klägerin hat der Oberste Gerichtshof inhaltlich Folgendes erwogen:

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist unzulässig, soweit damit - erkennbar - die Entscheidung des Berufungsgerichtes über den Kostenpunkt bekämpft wird. Nach ständiger Rechtsprechung kann nämlich die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz über den Kostenpunkt weder im Rahmen der Revision noch mit Rekurs bekämpft werden; dies gilt auch in Sozialrechtssachen (SSV-NF 12/22 mwN ua). Die unzulässige Revision im Kostenpunkt ist daher zurückzuweisen.

Im Übrigen ist die Revision nicht berechtigt.

Vorauszuschicken ist, dass die Bezeichnung der beklagten Partei amtswegig von "Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter" auf "Pensionsversicherungsanstalt" zu berichtigen war, weil mit alle Rechte und Verbindlichkeiten der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter auf die neu errichtete Pensionsversicherungsanstalt als Gesamtrechtsnachfolger übergingen (§ 538a ASVG idF 59. ASVG-Nov BGBl I Nr 1/2002).

Die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, dass die am geborene Klägerin die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätspension nach § 255 ASVG nicht erfüllt, ist zutreffend (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Sie entspricht der seit den Entscheidungen SSV-NF 1/33 und 1/67 ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, wonach Anspruch auf eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nur dann besteht, wenn eine Person ursprünglich in der Lage war, eine bestimmte, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben und diese zuvor bestandene Arbeitsfähigkeit durch eine negative Veränderung des körperlichen oder geistigen Zustandes derart beeinträchtigt wird, dass diese Person außerstande gesetzt wird, nunmehr einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, zu der sie eben früher in der Lage gewesen war (SSV-NF 2/87, 4/60, 4/160, 5/100, 10/13 uva; RIS-Justiz RS0084829, RS0085107).

Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Abs 1 und 3 des § 255 ASVG ebenso wie aus dem Wortlaut des § 273 Abs 1 ASVG. § 255 Abs 1 und § 273 Abs 1 ASVG stellen darauf ab, dass die Arbeitsfähigkeit des Versicherten infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken ist. Nach § 255 Abs 3 ASVG gilt ein Versicherter als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine zumutbare, auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

Diese drei Bestimmungen haben immer im Auge (und sprechen dies auch aus), dass der Versicherte zu einem bestimmten Zeitpunkt arbeitsfähig ist (also in der Lage ist, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben), bevor diese Fähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen ganz oder teilweise verloren geht. Bei der Klägerin bestand jedoch nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen bereits zum Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben (1988) keine Fähigkeit, Arbeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten; ihre Arbeitsleistung erreichte nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanzen bereits bei Eintritt in das Erwerbsleben nicht die Hälfte der Produktivität eines körperlich und geistig gesunden Versicherten, sodass ihre Arbeitsfähigkeit schon bei Aufnahme der Beschäftigung unter dem Mindestmaß des § 255 Abs 3 ASVG gelegen war. Die Frage, ob die Versicherte über diese "Mindestproduktivität" tatsächlich verfügte, ist von den Arbeits- und Sozialgerichten selbständig zu prüfen (SSV-NF 5/14 ua). Die Klägerin bedurfte daher immer eines Entgegenkommens des Dienstgebers und war somit bereits seit dem Eintritt in das Berufsleben auf einen "geschützten" Arbeitsplatz angewiesen. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter Zustand, der nicht zu Arbeiten unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes befähigte, kann aber im Sinne der obigen Ausführungen nicht zu Leistungsansprüchen aus den Versicherungsfällen geminderter Arbeitsfähigkeit führen (SSV-NF 1/67, 2/60 uva).

Soweit die Klägerin meint, "im Rahmen einer dem Gleichheitsgrundsatz und dem Diskriminierungsverbot entsprechenden Interpretation des § 255 ASVG" wäre ihr Fall anders zu beurteilen, ist ihr entgegenzuhalten, dass der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit den Schutz des Versicherten vor den Auswirkungen einer körperlich oder geistig bedingten Herabsetzung seiner Arbeitsfähigkeit bezweckt und dieser Versicherungsfall daher grundsätzlich nur dann eintreten kann, wenn während der versicherten Tätigkeit Arbeitsfähigkeit bestanden hat (SSV-NF 2/87 ua). Gegen dieses Ergebnis bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl 10 ObS 141/01k). So ist den Revisionsausführungen insbesondere zu entgegnen, dass die Judikatur in der hier gegebenen Konstellation bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen, insbesondere der Wartezeit, keineswegs einen Anspruch auf Alterspension ablehnt. Es entspricht dem auch dem Sozialversicherungsrecht innewohnenden Versicherungsprinzip, dass nicht aus jeder Beitragsleistung ein Leistungsanspruch erwächst (10 ObS 279/00b, 10 ObS 7/02f). Insbesondere hat nicht jede zu Beiträgen in der gesetzlichen Sozialversicherung verpflichtete Person einen Anspruch darauf, jede im Gesetz vorgesehene Leistung in Anspruch nehmen zu können, also beispielsweise nicht nur die Alterspension, sondern auch eine Versicherungsleistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, der vom Gesetz als Ausnahme- und nicht als Regelfall konzipiert ist. Dem einfachen Gesetzgeber muss es daher auch freistehen, einen Pensionsanspruch - wie es der Wortlaut der oben schon dargestellten Bestimmungen nahelegt - von einer vorherigen intakten Arbeitsfähigkeit abhängig zu machen (vgl 10 ObS 334/02v). Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe, die einen Kostenersatzanspruch aus Billigkeit rechtfertigen könnten, liegen nicht vor. Bei der Frage, ob ein Kostenersatzanspruch aus Billigkeit besteht, sind nach der zitierten Gesetzesstelle nicht nur die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten, sondern auch die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Falles zu beachten. Tatsächliche Schwierigkeiten scheiden im Revisionsverfahren schon deshalb aus, weil der Tatsachenbereich in diesem Verfahrensstadium nicht überprüft werden kann. Rechtliche Schwierigkeiten liegen aber hier im Hinblick auf die zitierte ständige Rechtsprechung nicht vor. Ein Kostenersatz aus Billigkeit hat daher nicht stattzufinden.