OGH vom 24.09.2015, 27Os2/15v
Kopf
Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden und den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hradil als weiteren Richter sowie die Rechtsanwälte Dr. Kretschmer und Dr. Schlager als Anwaltsrichter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Dr. Pottmann als Schriftführerin in der Disziplinarsache gegen Mag. Dr. M***** W*****, ehemaliger Rechtsanwalt in Wien, über die Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten gegen den Beschluss des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Wien vom , AZ D 92/07, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehoben und die Sache an den Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.
Text
Gründe:
Mit rechtskräftigem Erkenntnis des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Wien vom , Zahl D 92/07, wurde über Dr. M***** W*****, ehemaliger Rechtsanwalt in Wien, eine Geldbuße in Höhe von 4.000 Euro verhängt.
Mit Eingabe vom begehrte der Disziplinarbeschuldigte eine Herabsetzung der verhängten Geldbuße gemäß § 68 DSt. Zur Begründung führte er an, ihm sei mit Beschluss des Ausschlusses der Rechtsanwaltskammer Wien vom , GZ 5990/2011, die Ausübung der Rechtsanwaltschaft untersagt worden. Eine Entscheidung über seine dagegen eingebrachte Berufung liege noch nicht vor. Mit dem Antrag vom habe er die Zulassung zur weiteren Ausübung der Rechtsanwaltschaft beantragt. Dieser Antrag sei von der Rechtsanwaltskammer Wien zurückgewiesen worden. Dagegen habe er Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben. Infolge weiterhin aufrechter Untersagung verfüge er über kein Einkommen. Er sei für seine Ehegattin sowie zwei schulpflichtige Kinder sorgepflichtig. Durch die Bezahlung der verhängten Geldbuße wäre der Unterhalt seiner Familie gefährdet.
Neben dem Antrag stellte der Disziplinarbeschuldigte auch ein Stundungsansuchen.
Mit dem Beschluss vom wies der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien den Antrag des Disziplinarbeschuldigten zurück. In der Begründung führte der Disziplinarrat aus, die nachträgliche Milderung der Strafe sei im Disziplinarverfahren nach den anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen der § 16 und § 77 DSt sowie § 410 StPO nicht vorgesehen; das DSt kenne die Möglichkeit einer nachträglichen Strafmilderung nicht.
Gegen diesen Beschluss erhob der Disziplinarbeschuldigte Beschwerde mit dem Antrag, die verhängte Geldbuße gemäß § 31a StGB entsprechend herabzusetzen bzw nachzusehen, weil er aufgrund der weiterhin aufrechten Untersagung der Rechtsanwaltschaft derzeit über kein Einkommen verfüge und er für seine Ehegattin und zwei schulpflichtige Kinder sorgepflichtig sei.
Rechtliche Beurteilung
Der Beschwerde kommt wie die Generalprokuratur in ihrer Stellungnahme zutreffend ausführte Berechtigung zu:
Der Beschluss des Disziplinarrats wurde dem Disziplinarbeschuldigten nicht zu eigenen Handen zugestellt. Er gelangte ihm nach der Aktenlage erst am zur Kenntnis. Die am bei der Rechtsanwaltskammer Wien eingelangte Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten ist daher fristgerecht.
Ungeachtet des Umstands, dass der Disziplinarbeschuldigte zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft nicht berechtigt ist, hat der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht die Beschwerde zu behandeln. Der Rechtsmittelwerber hat gegen die Zurückweisung seines Antrags auf die Zulassung zur weiteren Ausübung der Rechtsanwaltschaft eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof eingebracht. Darüber wurde noch nicht entschieden. Die Disziplinargewalt über einen Rechtsanwalt erlischt aber erst mit seiner rechtskräftigen Streichung aus der Liste (6 Bkd 1/10).
Der Disziplinarbeschuldigte stützt seinen Antrag auf nachträgliche Milderung der Strafe auf § 31a StGB. Gemäß § 16 Abs 5 und Abs 8 DSt sind § 31, § 40, § 49, § 55 und § 56 StGB im Disziplinarverfahren sinngemäß anzuwenden. Eine Regelung über die Anwendbarkeit des § 31a StGB findet sich im DSt allerdings nicht.
Die Bestimmungen der Strafprozessordnung sind nach § 77 Abs 3 DSt insoweit sinngemäß anzuwenden, als sich aus dem DSt nichts anderes ergibt und die Anwendung der Bestimmungen der Strafprozessordnung mit den Grundsätzen und Eigenheiten des Disziplinarverfahrens vereinbar ist.
Zu der dem § 77 Abs 3 DSt korrespondierenden Bestimmung der Regierungsvorlage (dort § 76 Abs 2 DSt Entwurf) führten die EBRV 1188 BlgNR 17. GP, 36 aus:
„Schon die bisherige Rechtsprechung zum DSt … hat aber über den ausdrücklich geregelten Fall der Wiederaufnahme hinaus ganz allgemein die Bestimmungen der Strafprozessordnung im anwaltlichen Disziplinarverfahren sinngemäß herangezogen, wenn sie nach den Bestimmungen, Zielen und Zwecken des Disziplinarverfahrens vereinbar waren (so etwa das Institut der nachträglichen Strafmilderung nach § 410 StPO). Diese Rechtslage soll im Prinzip beibehalten werden. Es wird daher versucht, die bisherige Rechtsprechung im Abs 2 (Anm: § 76 Abs 2 des Entwurfs) durch eine entsprechende, allgemeine Formulierung festzuschreiben.“
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des DSt lautete der § 410 Abs 1 StPO (idF vor StRÄG 1996, BGBl 1996/762) wie folgt:
§ 410. (1) Wenn nach eingetretener Rechtskraft eines Strafurteiles Milderungsgründe hervorkommen, die zur Zeit der Urteilsfällung noch nicht vorhanden oder doch nicht bekannt waren und die zwar nicht die Anwendung eines anderen Strafsatzes, aber doch offenbar eine mildere Bemessung der Strafe herbeigeführt haben würden, so hat der Gerichtshof erster Instanz, sobald er sich vom Vorhandensein dieser Milderungsgründe überzeugt, einen Antrag auf angemessene Milderung der Strafe an den Gerichtshof zweiter Instanz zu stellen, der über den Antrag nach Anhörung des Oberstaatsanwaltes entscheidet.
In dieser Fassung enthielt § 410 Abs 1 StPO die materiellen Voraussetzungen und die verfahrensrechtlichen Bestimmungen für die nachträgliche Strafmilderung. Beide Regelungskomplexe waren daher von Verweisungsnorm des § 77 Abs 3 DSt umfasst.
Mit dem StRÄG 1996 wurden die materiellen Voraussetzungen der nachträglichen Strafmilderung aus dem § 410 Abs 1 StPO entfernt und mit der neu geschaffenen Regelung des § 31a Abs 1 in das StGB eingefügt. Eine inhaltliche Änderung erfolgte dadurch nicht (EBRV 33 BlgNR 20. GP, 33).
In der Rechtsprechung der OBDK wurde die sinngemäße Anwendbarkeit des § 410 StPO schon vor dem StRÄG 1996 bejaht (vgl RIS Justiz RS0056811).
Da der Gesetzgeber mit der Schaffung des § 31a Abs 1 StGB keine sachliche Änderung der Voraussetzungen der nachträglichen Strafmilderung vornahm, kann ihm auch nicht unterstellt werden, dass er dieses Rechtsinstitut aus dem Disziplinarrecht für Rechtsanwälte eliminieren wollte. Solcherart erweist sich das DSt in Bezug auf die Möglichkeit einer nachträglichen Strafmilderung als (durch das StRÄG 1996 nachträglich bewirkt) lückenhaft. Daher bedarf es der Ausfüllung dieser Gesetzeslücke mittels Analogieschlusses, indem § 31a Abs 1 StGB in die Verweisung des § 77 Abs 3 DSt einzubeziehen ist (zur vergleichbaren Ausgangslage mit identem Ergebnis bei § 3 FinStrG vgl Lässig in WK 2 FinStrG § 3 Rz 1).
Wie der § 410 Abs 1 StPO in der alten Fassung bezieht sich auch § 31a Abs 1 StGB nur auf sich neu ergebende Milderungsgründe. Unter Milderungsgründen im Sinne des § 410 StPO wurden nicht nur die im StGB beispielsweise aufgezählten Milderungsgründe verstanden, sondern alle Umstände, die in Ansehung der ausgesprochenen Strafe eine mildere Behandlung des Täters herbeiführen könnten, ohne dass der angewendete Strafsatz dadurch berührt wurde (vgl zB Foregger-Serini StPO 4 Erl II zu § 410 aF).
Dazu zählt aber nicht der vom Disziplinarbeschuldigten ins Treffen geführte Umstand, dass sich die persönlichen Verhältnisse oder die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Verurteilten ändern. Im Bereich des StGB kommt insoweit eine Neubemessung des Tagessatzes in Betracht. Dieser Fall war vor Geltung der Änderungen durch das StRÄG 1996 in § 410a StPO geregelt, dessen erster Satz zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des DSt wie folgt lautete:
Über die Neubemessung des Tagessatzes nach § 19 Abs 4 StGB und des Geldbetrages nach § 20a Abs 4 StGB hat das Gericht, das in erster Instanz erkannt hat, auf Antrag mit Beschluss zu entscheiden.
Mit dem StRÄG 1996 wurde § 410a StPO aufgehoben. Die bis dahin in § 19 Abs 4 StGB enthaltenen materiellen Voraussetzungen für die Neubemessung des Tagessatzes wurden in § 31a Abs 2 StGB übernommen, die Verfahrensregeln dafür enthält seither § 410 Abs 1 StPO.
Dass der Gesetzgeber das Institut der nachträglichen Strafmilderung als mit Grundsätzen und Eigenheiten des Disziplinarverfahrens für vereinbar im Sinne des § 77 DSt hält, ergibt sich aus den zitierten Gesetzesmaterialien (EBRV 1188 DSt 1990 BlgNR 17. GP, 36). Dies gilt aber auch für die nachträgliche Bemessung des Tagessatzes bei Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Disziplinarbeschuldigten nach § 31a Abs 2 StGB.
§ 16 Abs 6 DSt sieht vor, dass bei der Bemessung der Geldbuße auf die Einkommens und Vermögensverhältnisse des Disziplinarbeschuldigten Bedacht zu nehmen ist. Aus dieser Bestimmung ist nicht abzuleiten, dass die Berücksichtigung einer nachträglichen Veränderung der Vermögensverhältnisse mit dem Disziplinarverfahren unvereinbar wäre. Vielmehr ergab sich wegen der Verweisung des § 77 DSt auf die StPO aus der aufgehobenen Regelung des § 410a StPO, dass nachträgliche Änderungen der Einkommens und Vermögensverhältnisse auch im anwaltlichen Disziplinarverfahren zu beachten sind.
Es kann nun aber keinen Unterschied machen, dass die materiellen Voraussetzungen der nachträglichen Strafmilderung in § 410 Abs 1 StPO aF genannt waren, § 410a StPO aber nur die Verfahrensregelung enthielt und für die materiell rechtlichen Voraussetzungen der Neubemessung des Tagessatzes auf § 19 Abs 4 StGB verwies. Zufolge dieser Verweisung wurde § 19 Abs 4 StGB zu einem Tatbestandselement des § 410a StPO.
Während mit dem StRÄG 1996 im neugeschaffenen § 31a StGB die Voraussetzungen der nachträglichen Strafmilderung unverändert übernommen wurden, verzichtete der Gesetzgeber bei der Regelung der Neubemessung des Tagessatzes in § 31a Abs 2 StGB auf das in § 410 Abs 2 StPO aF vorgesehen gewesene Erfordernis der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe. Die Gesetzesmaterialien begründen dies mit dem Ziel, unnötigen Verfahrensaufwand durch erfolglose Einbringungsversuche zu vermeiden (EBRV StRÄG 1996, 33 BlgNR 20. GP, 33). Dieses Ziel ergibt sich aus dem allgemeinen Gebot der Verfahrensökonomie; dieser Grundsatz ist auch mit dem Disziplinarverfahren vereinbar.
Somit erfasst die Verweisung des § 77 Abs 3 DSt auch § 31a Abs 2 StGB.
Der Beschwerde war daher Folge zu geben, der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an den Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:OGH0002:2015:0270OS00002.15V.0924.000