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OGH vom 27.07.2021, 11Os77/21i

OGH vom 27.07.2021, 11Os77/21i

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter im Verfahren zur Unterbringung des Dietmar P***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Betroffenen gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom , GZ 43 Hv 14/21s-105, nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH-Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde Dietmar P***** nach § 21 Abs 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

[2] Danach hat er – soweit für das Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde relevant verkürzt wiedergegeben – unter dem Einfluss einer organischen Persönlichkeitsstörung im Sinn eines Frontalhirnsyndroms (ICD-10 F07.0), somit eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands, der auf einer geistigen bzw seelischen Abartigkeit höheren Grades beruht,

I./ am im Gemeindegebiet von M***** auf der Autobahn anders als durch eine der in § 169, 171 und 173 StGB mit Strafe bedrohten Handlungen eine Gefahr für Leib oder Leben einer größeren Zahl von Menschen herbeigeführt, indem er als „Geisterfahrer“ mit seinem PKW mit einem von Marius T***** gelenkten Kleinbus besetzt mit weiteren acht Personen kollidierte, wobei sämtliche Beteiligten unverletzt blieben;

II./ am in W***** und andernorts, indem er dem Polizeibeamten Alois F*****, der ihn auf der Autobahn wegen massiver Geschwindigkeitsübertretung mit einem Zivilstreifenwagen anzuhalten trachtete, rasant und unter waghalsigen Überhol- und Ausweichmanövern davonfuhr, sein Fahrzeug gezielt gegen das zur Errichtung einer Straßensperre zum Zweck seiner Anhaltung abgestellte Fahrzeug des F***** lenkte und dieses beiseite stieß, sodann seine Flucht vor den ihn verfolgenden Polizeifahrzeugen auf der Autobahn fortsetzte, dabei neuerlich eine höchst unfallträchtige Fahrweise mit massiv überhöhter Geschwindigkeit, äußerst riskanten Überholmanövern sowie abruptem Auslenken und -weichen wählte, den zum Zweck seiner Anhaltung neben ihm fahrenden Polizeibeamten Kurt H***** und andere Verkehrsteilnehmer zum Auslenken bzw Abbremsen ihrer Fahrzeuge zwang und schließlich mit seinem PKW versuchte, das Fahrzeug des neben ihm fahrenden F***** gegen eine Betonleitwand zu drängen, wobei dieses letztlich in den neben der Fahrbahn verlaufenden Grünstreifen abgedrängt wurde, wo es gegen einen Leitpflock stieß,

1./ Beamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich der Durchsetzung seiner Anhaltung, gehindert;

2./ F***** während oder wegen der Vollziehung seiner Aufgaben oder der Erfüllung seiner Pflichten eine schwere Körperverletzung zuzufügen versucht,

somit Taten begangen, die als Verbrechen der vorsätzlichen Gemeingefährdung nach § 176 Abs 1 StGB (I./), als Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 269 Abs 1 erster Fall StGB (II./1./) sowie als Vergehen der schweren Körperverletzung nach § 15, 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB und als Verbrechen der schweren Körperverletzung nach § 15, 84 Abs 4 StGB (II./2./) (je) mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht sind.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5, 9 lit a, lit b sowie 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Betroffenen.

[4] Prozessordnungskonforme Ausführung der Rechtsrüge (Z 9 lit a) erfordert das strikte Festhalten am gesamten Urteilssachverhalt (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 584) und den ausschließlich auf dessen Basis geführten Nachweis eines Rechtsirrtums (RIS-Justiz RS0099810; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 581). Diesen Kriterien wird die zu I./ erhobene Beschwerde nicht gerecht, soweit sie bloß behauptet, das Erstgericht habe keine Feststellungen „zu einer konkreten Personengefahr“ und zum „Verkehrsaufkommen“ getroffen (s aber US 5 f iVm 21). Sie verkennt im Übrigen, dass zwar eine „größere Zahl von Menschen“ ab einem Richtwert von etwa zehn Personen anzunehmen ist, aber mit Blick auf die Intensität der Gefahr (den Wahrscheinlichkeitsgrad sowie die Schwere der drohenden Verletzung) eine niedrigere Zahl für die Annahme einer Gemeingefahr ausreichen kann (RIS-Justiz RS0066542 [insb T 1 und T 7]; Murschetz in WK2 StGB § 176 Rz 3; Flora, SbgK Vorbem § 169 ff Rz 22 ff; Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4§ 176 Rz 7; Kienapfel/Schmoller StudB BT III2 Vorbem § 169 ff Rz 50 ff).

[5] Die auf Punkt II./1./ des Urteilsspruchs bezogene Behauptung, der Betroffene hätte die einschreitenden Polizeibeamten nicht als solche erkannt, sodass von einem Tatbildirrtum (RIS-Justiz RS0088950) auszugehen wäre, orientiert sich nicht an den – in der Beschwerde ohnedies zitierten – gegenteiligen Feststellungen des Erstgerichts (US 9) und verfehlt damit erneut den Bezugspunkt materiell-rechtlicher Nichtigkeit (RIS-Justiz RS0099810).

[6] Die Konstatierung, „dem Betroffenen war bewusst“, dass es sich bei F***** und H***** um Polizeibeamte in Vollziehung ihrer Aufgaben und Erfüllung ihrer Pflichten handelte (US 9), gründete das Erstgericht insbesondere auf die Angaben des F*****, wonach dieser das Folgetonhorn des zivilen Polizeifahrzeugs eingeschaltet, seine Uniform getragen und dem Betroffenen eine Polizeitafel im Format DIN A5 vorgezeigt habe (US 18). Weshalb der Umstand, dass der Beamte das Blaulicht nicht einschalten konnte (ON 104 S 18), den erstgerichtlichen Sachverhaltsannahmen erörterungsbedürftig entgegenstehen sollte, erklärt die Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) nicht (RIS-Justiz RS0098495 [insb T 6], RS0098646 [insb T 8]).

[7] Aus welchem Grund die diesbezügliche Aussage des F***** und die Angaben des Betroffenen, er hätte, als er „das erste Blaulicht“ (der anderen ihn verfolgenden Polizeifahrzeuge – vgl US 7) gesehen habe, erkannt, dass es sich bei den Verfolgern um Polizeibeamte handle (ON 8 S 7), einander widerstreitende – und solcherart gesondert zu erörternde – Beweisergebnisse darstellen sollten, macht die Rüge ebenfalls nicht klar.

[8] Entgegen dem Einwand offenbar unzureichender Begründung (Z 5 vierter Fall) leiteten die Tatrichter die Feststellungen zur subjektiven Tatseite zu II./1./ – empirisch mängelfrei und unter dem Aspekt der Begründungs-
tauglichkeit nicht zu beanstanden (RIS-Justiz RS0098671, RS0116882; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 452) – aus dem objektiven Tatgeschehen ab (US 18). Soweit der Beschwerdeführer behauptet, die Art der Tatausführung (Abdrängen von Polizeifahrzeugen gegen eine Betonleitwand bei einer Geschwindigkeit von bis zu 200 km/h; US 7 f und 19) indiziere keine vorsätzliche Gewaltanwendung, sondern sei es bloß wegen massiv überhöhter Geschwindigkeit, die eine erhöhte Konzentration und Aufmerksamkeit zur Vermeidung schwerer Unfälle erfordert hätte, zu einer Kollision mit den Fahrzeugen der Polizeibeamten gekommen, bekämpft er bloß die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren gesetzlich nicht vorgesehenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (§ 283 Abs 1 StPO; RIS-Justiz RS0099455 [T16]).

[9] Die substratlos das Fehlen von „ausreichenden Feststellungen zu allen drei Prognosekriterien des § 21 Abs 1 StGB“ und damit einen Rechtsfehler mangels Feststellungen (RIS-Justiz RS0113980 [T3]; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 716) reklamierende Sanktionsrüge (Z 11 zweiter Fall) lässt die für die Prognoseentscheidung (US 10) erforderliche Bezugnahme auf die Urteilsannahmen zur Person des Betroffenen (US 3 f), zu den ihm angelasteten Taten (US 4 ff) sowie zu seinem Krankheitsbild (US 9 f) unberücksichtigt (vgl Ratz in WK2 StGB § 21 Rz 25) und legt nicht dar, welche weiteren Feststellungen insoweit erforderlich gewesen wären (vgl RIS-Justiz RS0095939).

[10] Entgegen der weiteren Rüge ist die Prognosetat mit „weitere Vorfälle, die in der Art und im Schweregrad den verfahrensgegenständlichen Vorfällen gleichzuhalten sind“ und „Gemeingefährdung“ (US 10) hinreichend konkret beschrieben (RIS-Justiz RS0118581 [T16]).

[11] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der General-
prokuratur – bereits nach nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung folgt (§ 285i StPO).

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2021:0110OS00077.21I.0727.000

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