VfGH vom 03.12.2003, B631/03

VfGH vom 03.12.2003, B631/03

Sammlungsnummer

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Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit der Ausnahme von Personen mit Anspruch auf eine vorzeitige Alterspension aufgrund langer Versicherungsdauer von der Arbeitslosenversicherung aufgrund rückwirkender Gesetzesänderung während des von Amts wegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens; Wegfall der Bedenken des Verfassungsgerichtshofes durch Einführung der Anrechenbarkeit bestimmter Zeiten auf die Anwartschaft in der Arbeitslosenversicherung; kein zeitlicher Geltungsbereich der ursprünglich in Prüfung gezogenen Bestimmung; objektive Willkür in den Anlassverfahren durch Abweisung von Anträgen auf Arbeitslosengeld aufgrund Anwendung der alten Rechtslage

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit EUR 2142,-- bestimmten Prozesskosten binnen vierzehn Tagen zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Gemäß § 1 Abs 1 lita des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977 (AlVG 1977), BGBl. Nr. 609/1977, sind arbeitslosenversichert ua. Dienstnehmer, die bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigt sind, soweit sie in der Krankenversicherung auf Grund gesetzlicher Vorschriften pflichtversichert sind oder Anspruch auf Leistungen einer Krankenfürsorgeanstalt haben, soweit keine Ausnahme von der Versicherungspflicht vorliegt.

2. Mit Art 10 Z 1 des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002, BGBl. I Nr. 68/2002, wurde in § 1 Abs 2 lite AlVG 1977 folgende Ausnahme von der Arbeitslosenversicherungspflicht eingeführt:

"e) Personen, die das für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer maßgebliche Mindestalter vollendet haben, ab dem Beginn des folgenden Kalendermonates."

Nach § 253b Abs 1 ASVG (idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2000 - SRÄG 2000, BGBl. I Nr. 92/2000) haben Männer nach Vollendung des 738. Lebensmonates, Frauen nach Vollendung des

678. Lebensmonates, Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer.

§ 15 Abs 8 AlVG 1977 (idF des Art 10 Z 2 des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002) bestimmt:

"(8) Die Rahmenfrist für gemäß § 1 Abs 2 lite von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommene Personen verlängert sich um Zeiträume einer krankenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit."

Die soeben wiedergegebenen Bestimmungen des AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002 stehen seit in Kraft (§79 Abs 67 AlVG 1977).

3. Die - 1942 geborene - Beschwerdeführerin war zuletzt vom 1. Mai bis unselbständig beschäftigt. Mit Bescheid vom wies die Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Tirol den Antrag der Beschwerdeführerin auf Arbeitslosengeld als unbegründet ab: Die Beschwerdeführerin sei zwar (mindestens) 28 Wochen krankenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen, seit habe aber - wegen § 1 Abs 2 lite AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002 - keine Arbeitslosenversicherungspflicht bestanden. Die Beschwerdeführerin sei somit nicht auch 28 Wochen arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen und habe daher die erforderliche Anwartschaft (§14 AlVG 1977) nicht erfüllt.

4. Gegen diesen - letztinstanzlichen - Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, worin die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte sowie in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§1 Abs 2 lite AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, jedoch keine Gegenschrift erstattet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Mit dem Budgetbegleitgesetz 2003, BGBl. I Nr. 71/2003, ausgegeben am , ist § 14 Abs 4 AlVG 1977 dahin geändert worden, dass auch Zeiten einer gemäß § 1 Abs 2 lite AlVG 1977 (idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002) von der Arbeitslosenversicherungspflicht ausgenommenen krankenversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit auf die Anwartschaft anzurechnen sind. Personen, die nach Vollendung des in § 1 Abs 2 lite AlVG 1977 bezeichneten Alters in einem krankenversicherungspflichtigen Dienstverhältnis stehen, sind damit gleichsam beitragsfrei arbeitslosenversichert.

Diese Änderung des § 14 Abs 4 AlVG 1977 ist gemäß § 79 Abs 69 AlVG 1977 - rückwirkend - mit , dh. mit dem Tag des Inkrafttretens des § 1 Abs 2 lite AlVG 1977 idF des Konjunkturbelebungsgesetzes 2002, in Kraft getreten.

2. In Beschwerdeverfahren gemäß Art 144 B-VG ist von jener Rechtslage auszugehen, die im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides bestanden hat (zB VfSlg. 2009/1950, S 271), es sei denn, die Rechtslage wird rückwirkend auf einen vor Erlassung des Bescheides liegenden Zeitpunkt geändert; in diesem Fall ist der angefochtene Bescheid an der rückwirkend geschaffenen Rechtslage zu messen (VfSlg. 2009/1950, S 272; 3853/1960, S 598; 10.091/1984,

S 707; 10.402/1985, S 350; 11.155/1986, S 754; 11.401/1987, S 683).

Daraus ergibt sich, dass der angefochtene Bescheid, gemessen an der neuen, rückwirkend hergestellten (verfassungsrechtlich unbedenklichen) Rechtslage, in offenkundigem Widerspruch zu § 14 AlVG 1977 (idF des Budgetbegleitgesetzes 2003) steht. Diese Rechtswidrigkeit reicht zweifellos in die Verfassungssphäre.

Der belangten Behörde ist die sonach gegebene Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Bescheides zwar schon deshalb nicht subjektiv vorwerfbar, weil § 14 Abs 4 AlVG 1977 idF des Budgetbegleitgesetzes 2003 rückwirkend in Kraft getreten ist. Dessen ungeachtet obliegt es dem Verfassungsgerichtshof, den durch die rückwirkende Gesetzesänderung eingetretenen, objektiver Willkür (dazu etwa VfSlg. 10.549/1985, 15.574/1999, 15.993/2000) gleichzuhaltenden Widerspruch des angefochtenen Bescheides zur maßgebenden Rechtslage aufzugreifen.

Die Beschwerdeführerin ist somit durch den angefochtenen Bescheid wegen Willkür der Behörde in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG. Der zugesprochene Betrag enthält Umsatzsteuer in Höhe von EUR 327,-- sowie den Ersatz der entrichteten Eingabengebühr (§17a VfGG).

4. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.