OGH vom 27.01.2017, 8ObA76/16h

OGH vom 27.01.2017, 8ObA76/16h

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner und den Hofrat Dr. Brenn sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz und Mag. Canan Aytekin-Yildirim als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Slana Loidl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei A***** GmbH, *****, vertreten durch die BLS Rechtsanwälte Boller Langhammer Schubert GmbH in Wien, wegen 91.666,98 EUR sA, im Verfahren über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 12 Ra 76/16g-16, mit dem das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 3 Cga 7/16m-10, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Das Verfahren über die außerordentliche Revision wird bis zur Erledigung des von der beklagten Partei erhobenen Parteienantrags auf Normenkontrolle (VfGH G 331/2016) unterbrochen.

Text

Begründung:

Gegen das Urteil des Erstgerichts vom erhob die Beklagte am fristgerecht Berufung. Am wurde der Akt dem Berufungsgericht vorgelegt. Mit Urteil vom wurde der Berufung keine Folge gegeben.

Ebenfalls am , also gleichzeitig mit der Berufung, brachte die Beklagte beim Verfassungsgerichtshof einen Parteienantrag auf Normenkontrolle ein, mit dem sie die Aufhebung der Bestimmungen der § 334 Abs 1 und § 334 Abs 3 ASVG idF BGBl 1989/642 begehrte. Mit Verständigung vom teilte der Verfassungsgerichtshof dem Erstgericht mit, dass die Beklagte im zugrunde liegenden Verfahren einen auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d BVG gestützten Antrag (Parteienantrag auf Normenkontrolle) gestellt hat. Diese Mitteilung ist beim Erstgericht am eingelangt. Das Berufungsgericht wurde von dieser Mitteilung am verständigt.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichts vom erhob die Beklagte eine außerordentliche Revision an den Obersten Gerichtshof. Darin stellt sie den Antrag, das Klagebegehren zur Gänze abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat dazu erwogen:

1.1 Nach § 62a Abs 6 VfGG darf das bis zur Verkündung bzw Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs – über die aus Anlass des rechtzeitigen und zulässigen Rechtsmittels erhobene Gesetzesbeschwerde (Art 140 Abs 1 Z 1 lit d BVG iVm § 62a Abs 5 VfGG und § 528b Abs 2 ZPO) – nur solche Handlungen oder Anordnungen und Entscheidungen treffen, die durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs nicht beeinflusst werden können oder die die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten (vgl dazu 3 Ob 130/15m). Ein Parteienantrag auf Normenkontrolle setzt somit ein rechtzeitiges und zulässiges Rechtsmittel gegen eine (Sach)Entscheidung eines ordentlichen Gerichts erster Instanz voraus. Bei dem „beim Rechtsmittelgericht anhängigen Verfahren“ nach § 62a Abs 6 VfGG handelt es sich demnach um das Berufungs oder Rekursverfahren (8 ObA 65/15i). Die Innehaltungsverpflichtung des § 62a Abs 6 VfGG betrifft also das .

1.2 Sind die Voraussetzungen nach § 62a Abs 6 VfGG gegeben, so hat das Rechtsmittelgericht mit dem Verfahren inne zu halten, sobald es durch eine entsprechende Mitteilung des Verfassungsgerichtshofs (§ 62a Abs 5 VfGG) Kenntnis davon hat, dass beim Verfassungsgerichtshof ein Parteienantrag auf Normenkontrolle eingebracht wurde (6 Ob 150/16a). Dies bedeutet, dass in einem solchen Fall das Berufungs- oder Rekursgericht – funktionell als Erstgericht – das Rechtsmittelverfahren zu unterbrechen hat (10 Ob 3/16p; vgl auch RISJustiz RS0116275). In diesem Zusammenhang hat der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen, dass der Rechtsmittelausschluss des § 192 Abs 2 ZPO nicht zum Tragen kommt, weil die Unterbrechung des Berufungs- oder Rekursverfahrens unter den Voraussetzungen des § 62a Abs 6 VfGG zwingend vorgeschrieben ist (3 Ob 130/15m; 10 Ob 3/16p; RISJustiz RS0037110; RS0037034).

2.1 Die Rechtsfolge, die ein Verstoß des Rechtsmittelgerichts gegen die Innehaltungsverpflichtung des § 62a Abs 6 VfGG zur Folge hat, ist im Gesetz nicht geregelt (10 ObS 153/15w). Grabenwarter/Musger (Praxisfragen der Gesetzesbeschwerde im Zivilverfahren, ÖJZ 2015/75, 551 [562]) vertreten für den Fall, dass die Rechtsmittelentscheidung vor Erledigung der Gesetzesbeschwerde ergangen ist und die Gesetzesbeschwerde Erfolg hat, die Ansicht, dass die Rechtslage dann unproblematisch sei, wenn die Sache noch nicht endgültig erledigt sei und die Aufhebung einer präjudiziellen Norm im konkreten Fall im weiteren Verfahren noch berücksichtigt werden könne. Bei einer bestätigenden oder abändernden Entscheidung der zweiten Instanz könne die Aufhebung einer präjudiziellen Norm noch berücksichtigt werden, wenn bei Zustellung des verfassungsgerichtlichen Erkenntnisses die Frist für ein Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof noch offen oder ein solches Rechtsmittel bereits eingebracht, aber noch nicht erledigt sei.

2.2 Es ergibt sich somit folgender Grundsatz: Kann eine normaufhebende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im gerichtlichen Verfahren vor dessen rechtskräftigem Abschluss noch berücksichtigt werden, so begründet eine inhaltliche Entscheidung des Berufungs oder Rekursgerichts über das Rechtsmittel auch bei einem Verstoß gegen die Innehaltungsverpflichtung des § 62a Abs 6 bzw § 57a Abs 6 VfGG weder Nichtigkeit noch einen Verfahrensmangel; ein solcher Verstoß führt damit nicht zur Aufhebung der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts.

3.1 Diese Überlegungen betreffen den Fall, dass ein Verstoß des Rechtsmittelgerichts gegen die Innehaltungsverpflichtung vorliegt. Dafür ist vorausgesetzt, dass das Rechtsmittelgericht rechtzeitig, nämlich vor seiner Entscheidung, aufgrund einer Mitteilung des Verfassungsgerichtshofs vom Parteienantrag auf Normenkontrolle Kenntnis erlangt hat.

Ein solcher Verstoß liegt im Anlassfall nicht vor, weil die Mitteilung des Verfassungsgerichtshofs an das Erstgericht erst am Tag der Entscheidung des Berufungsgerichts beim Erstgericht eingelangt ist und das Berufungsgericht vom Parteienantrag erst am erfahren hat.

3.2 Bei vernünftiger Betrachtungsweise muss dem Gesetzgeber zugesonnen werden, dass er mit den Regelungen zur Gesetzesbeschwerde ein funktionierendes und von gegenseitigem Respekt getragenes System des Zusammenwirkens vom Verfassungsgerichtshof und den ordentlichen Gerichten schaffen wollte. Es ist daher zu unterstellen, dass normaufhebende Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs im gerichtlichen Ausgangsverfahren nach Tunlichkeit Berücksichtigung finden sollen. Bei vernünftiger Auslegung des Regelungswerks zur Gesetzesbeschwerde, das der Gesetzgeber auf verfassungs- und einfachgesetzlicher Ebene in engem zeitlichen Zusammenhang geschaffen hat, ist daher davon auszugehen, dass bei einer aus Sicht des Rechtsmittelgerichts verspäteten Mitteilung iSd § 62a Abs 5 VfGG bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 62a Abs 6 VfGG der Oberste Gerichtshof den Ausgang eines (präjudiziellen) Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof abwarten kann, um eine allenfalls normaufhebende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über die Gesetzesbeschwerde bei seiner Entscheidung berücksichtigen zu können. In einem solchen Fall kann der Oberste Gerichtshof das Revisions- oder Revisionsrekursverfahren unterbrechen (vgl auch 4 Ob 53/16x).

4. Im Anlassfall sind die Voraussetzungen für eine fakultative Unterbrechung des Verfahrens durch den Obersten Gerichtshof gegeben. Gemäß § 528b Abs 3 ZPO wird das Verfahren nach Vorliegen der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs und Verständigung des Obersten Gerichtshofs durch das Erstgericht darüber von Amts wegen fortgesetzt werden.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:008OBA00076.16H.0127.000
Schlagworte:
1 Generalabonnement,14 (Zivil-)Verfahrensrechtliche Entscheidungen

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