OGH vom 25.04.2017, 10ObS36/17t

OGH vom 25.04.2017, 10ObS36/17t

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. iur. Hannes Schneller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*****, vertreten durch Ganzert & Partner Rechtsanwälte OG in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 11 Rs 119/16y-26, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 14 Cgs 232/15x-22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei einen mit 209,39 EUR (darin enthalten 34,90 EUR USt) bestimmten Teil der Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Klägerin war wegen ihrer Hüftgelenksprobleme schon vor dem Pflegegeld der Stufe 1 rechtskräftig zuerkannt worden. Infolge eines Bruchs des Oberschenkels im Jahr 2013 wurde ihr Pflegegeld der Stufe 4 gewährt.

Mit Bescheid vom setzte die beklagte Partei das Pflegegeld der Stufe 4 mit Ablauf des auf die Stufe 2 herab. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage zog die Klägerin zurück und schloss mit der beklagten Partei einen Vergleich, nach dem ihr ab April 2015 Pflegegeld der Stufe 2 zustand.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom setzte die beklagte Partei das bisher gewährte Pflegegeld der Stufe 2 ab mit der Begründung, dass sich das Ausmaß des auf den Oberschenkelbruch zurückzuführenden Pflegebedarfs (weiter) verringert habe, auf die Stufe 1 herab.

Gegen diesen Bescheid richtete sich die Klage mit dem Hauptbegehren auf Gewährung des Pflegegelds (zumindest) der Stufe 2 ab ; hilfsweise wird das Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von monatlich 203,10 EUR begehrt.

Im Revisionsverfahren ist nicht mehr strittig, dass die Klägerin die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Pflegegelds der Stufe 2 nicht mehr erfüllt, sondern nur jene für die Gewährung des Pflegegelds der Stufe 1. Strittig verblieben ist aber die Höhe des Pflegegelds der Stufe 1. Nach dem Standpunkt der Klägerin gebühre ihr nach § 47 Abs 1 Satz 3 BPGG das Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von 203,10 EUR, weil sie schon vor dem Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 und danach durchgehend jeweils zumindest in Höhe der Stufe 1 gehabt habe.

Die beklagte Partei wendet ein, im Jahr 2014 sei bei der Klägerin eine wesentliche Änderung des Pflegebedarfs eingetreten, sodass das Pflegegeld neu zu bemessen gewesen sei. Es sei daher die im Jahr 2014 geltende Rechtslage anzuwenden und nicht mehr diejenige Rechtslage, die vor dem gegolten habe. Das Pflegegeld der Stufe 1 gebühre demnach gemäß § 5 BPGG lediglich in Höhe von 157,30 EUR.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung des Pflegegelds zumindest der Stufe 2 ab sowie das Eventualbegehren auf Zuerkennung eines Pflegegelds der Stufe 1 von monatlich 203,10 EUR ab und sprach ihr ab Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von 157,30 EUR zu. Die Höhe des Pflegegelds der Stufe 1 bemesse sich nicht nach § 47 Abs 1 BPGG, sondern nach § 5 BPGG, weil die Klägerin seit nicht durchgehend Pflegegeld der Stufe 1, sondern zwischendurch Pflegegeld entsprechend höherer Stufen bezogen habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Die Intention des § 47 Abs 1 Satz 3 BPGG gehe dahin, Dauerbeziehern von Pflegegeld der Pflegegeldstufe 1 keine Kürzung der Höhe des Pflegegelds zuzumuten. Ein Pflegegeldbezieher, der wegen Erhöhung oder Verringerung des Pflegebedarfs aus dem Bezug des Pflegegelds der Stufe 1 ausscheide, könne sich bei späterem Wiedereintritt in die Pflegegeldstufe 1 nicht auf § 47 BPGG stützen, weil das Ausscheiden aus einer Pflegegeldstufe immer eine wesentliche Änderung der Verhältnisse voraussetze und ein neuer Stichtag statuiert werde. Auch im BPGG werde mit dem Einlangen des Antrags auf Erstgewährung oder Erhöhung des Pflegegelds der Stichtag festgelegt. Komme es zu einer wesentlichen Veränderung des Pflegebedarfs und zu einer Verschiebung des Stichtags, sei der Pflegegeldanspruch nach der zum späteren Stichtag geltenden neuen Rechtslage zu beurteilen. Demnach habe die Klägerin mit der vorübergehenden Gewährung von Pflegegeld der Stufe 4 und der späteren Herabsetzung auf die Stufe 2 den Pflegegeldanspruch der Stufe 1 in jener Höhe, die sich aus der früheren Rechtslage ergeben hatte, verloren. Der nunmehrige Pflegegeldanspruch sei der Höhe nach entsprechend der neuen Rechtslage mit 157,30 EUR monatlich festzusetzen.

Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, dass zu § 47 Abs 1 Satz 3 BPGG Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehle.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Die Revisionswerberin macht zusammengefasst geltend, es komme nicht darauf an, dass ihr vorübergehend Pflegegeld einer höheren Pflegegeldstufe (als der Stufe 1) zuerkannt worden sei, sondern nur darauf, dass ihr vor dem ein Pflegegeld der Stufe 1 rechtskräftig zuerkannt und in der Folge Pflegegeld zumindest in Stufe 1 gewährt worden sei. Es liege ein wohlerworbenes Recht vor, das nicht gekürzt werden dürfe. Auch ab habe sie den Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 1 im Ausmaß von 207,20 EUR nicht verloren.

Dazu ist auszuführen:

1. Mit dem Strukturanpassungsgesetz 1996 BGBl 1996/201 wurde der Betrag des Pflegegelds der Stufe 1 von 2.500 auf 2.000 ATS reduziert (§ 5 Abs 1 BPGG idF BGBl 1996/201). Als Übergangsbestimmung wurde in § 47 Abs 1 BPGG festgelegt, dass § 5 in der Fassung BGBl 1996/201 nicht anzuwenden sei, wenn die Antragstellung oder die Einleitung des amtswegigen Verfahrens vor dem erfolgt ist und das Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, was auch für gerichtliche Verfahren gilt. Personen, denen bereits vor dem ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 rechtskräftig zuerkannt wurde, ist dieses weiterhin im Betrag von monatlich 2.635 ATS zu erbringen. (Der Betrag von 2.635 ATS wurde zwischenzeitig mehrmals, zuletzt mit BGBl I 2015/12 auf 207,20 EUR, angepasst.)

2.1 Die Gesetzesauslegung hat mit der Erforschung des Wortsinns der Norm zu beginnen (RIS-Justiz RS0008896). Der Wortlaut des letzten Satzes des § 47 Abs 1 Satz 3 BPGG legt nahe, dass die Bestimmung nur einen unveränderten und ununterbrochenen Bezug des Pflegegeldes der Stufe 1 erfasst („... ist dieses weiterhin im Betrag von ... zu erbringen.“). Dennoch liegt auch diejenige Auslegung noch innerhalb des möglichen Wortsinns, nach der nach einem vorübergehenden Bezug einer höheren Pflegegeldstufe bei Herabsetzung auf die Stufe 1 das Pflegegeld dieser Stufe in der in § 47 Abs 1 letzter Satz BPGG genannten Höhe zu gewähren ist.

2.2 Ist der Wortlaut nicht so klar und eindeutig, dass er nur ein einziges Auslegungsergebnis zuließe, bedarf es einer Auseinandersetzung mit dem Sinn der Bestimmung unter Berücksichtigung ihres Zwecks (RIS-Justiz RS0008836). In den Gesetzesmaterialien begründet der Gesetzgeber § 47 Abs 1 BPGG damit, dass auf wohlerworbene Rechte Bedacht zu nehmen und eine Kürzung der vor Inkrafttreten der Novelle zuerkannten Pflegegelder zu vermeiden sei. Ebenso soll das Pflegegeld der Stufe 1 bei Zutreffen der Voraussetzungen in der bisherigen Höhe gewährt werden, wenn der Antrag bereits vor dem eingebracht wurde, die Zuerkennung des Pflegegelds aber erst nach diesem Zeitpunkt erfolgte (ErläutRV 72 und zu 72 BlgNR 20. GP 232). Die Intention des § 47 Abs 1 BPGG geht somit jedenfalls dahin, Pflegegeldbeziehern, die über den hinaus unverändert (andauernd) Pflegegeld der Stufe 1 bezogen haben, keine Kürzung des Pflegegelds der Höhe nach zuzumuten. Mit anderen Worten soll ein bereits bestehender Pflegegeldbezug der Stufe 1 bloß wegen der mit der Novellierung erfolgten betragsmäßigen Herabsetzung nicht gekürzt werden. Dass der Gesetzgeber auf die vor dem erfolgte Zuerkennung des Pflegegelds der Stufe 1 abstellt, bedeutet zugleich, dass diejenigen Versicherten, denen vor dem eine höhere Pflegegeldstufe als jene der Stufe 1 zuerkannt wurde, von vornherein nicht von § 47 Abs 1 BPGG erfasst werden und auch im Fall der späteren Herabsetzung auf die Stufe 1 aus dieser Regelung mangels eines Eingriffs in „wohlerworbene Rechte“ keinen Vorteil ziehen sollen. Weiters ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, dass die Versicherten, die bereits vor dem einen Erstantrag auf Pflegegeld gestellt haben, im Fall des Zuspruchs der Stufe 1 von der Herabsetzung nicht betroffen sein sollen und zwar unabhängig davon, wann der Versicherungsträger oder das Gericht letztlich rechtskräftig über den Antrag entscheidet.

3.1 Denkt man die gesetzgeberische Regelung und die darin zum Ausdruck kommenden Wertmaßstäbe weiter und zu Ende (vgl RIS-Justiz RS0008836), fällt die vor dem erfolgte Zuerkennung des Pflegegelds der Stufe 1, die anschließend vorübergehende Gewährung einer höheren Stufe und eine Herabsetzung wiederum auf die Stufe 1 nicht in den Anwendungsbereich des § 47 Abs 1 BPGG:

3.2 Nach § 9 Abs 4 BPGG ist das Pflegegeld neu zu bemessen, wenn eine für die Höhe des Pflegegelds wesentliche Veränderung eintritt. Voraussetzung für eine Erhöhung oder Herabsetzung ist somit eine wesentliche Veränderung des Zustandsbilds des Pflegebedürftigen und in deren Folge eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs, die die Gewährung einer anderen Pflegegeldstufe erforderlich macht. Diese Grundsätze gelten gleichermaßen, ob es sich um eine Herabsetzung, Entziehung oder aber auch um eine Erhöhung eines rechtskräftig zuerkannten Pflegegelds handelt (10 ObS 280/00z).

3.3 Im Bereich des Sozialversicherungsrechts, insbesondere im Pensionsversicherungsrecht, wird bei einer Änderung der Rechtslage in den entsprechenden Übergangsbestimmungen in der Frage des anzuwendenden Rechts in der Regel auf die zeitliche Lagerung des Stichtags abgestellt (10 ObS 129/15s mwN). Auch im BPGG wird mit dem Einlangen des Antrags auf Erstgewährung oder Erhöhung des Pflegegelds ein Stichtag festgelegt. Die höhere Pflegegeldstufe gebührt mit dem der Antragstellung folgenden Monatsersten (§ 9 Abs 1 BPGG).

3.4 Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass anlässlich der Erhöhung auf die Stufe 4 die damals für diese Pflegegeldstufe geltende Rechtslage, bei der Herabsetzung auf die Stufe 2 die zum geltende Rechtslage und bei der Herabsetzung auf die Stufe 1 mit die zu diesem Zeitpunkt geltende Rechtslage zur Anwendung kommt, nach der die Höhe des Pflegegelds der Stufe 1 (lediglich) 157,30 EUR beträgt (§ 5 BPGG). Der Anwendungsbereich des § 47 Abs 1 Satz 3 BPGG erfasst somit ausschließlich diejenigen Pflegegeldbezieher, die schon vor dem Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 hatten, solange der Anspruch auf diese Pflegegeldstufe bestand und weiterbesteht. Nur unter der Voraussetzung des fortgesetzten Bezugs der Pflegegeldstufe 1 sollen diese Personen das Pflegegeld der Stufe 1 weiterhin in ungekürzter Höhe – also ungeachtet der Reduzierung durch das Strukturanpassungsgesetz 1996 – erhalten. Die von der Revisionswerberin mitgedachte Formulierung „zumindest“ der Stufe 1 hat in den Gesetzestext keinen Eingang gefunden. Die von der Revisionswerberin gewünschte Perpetuierung der vor dem Strukturanpassungsgesetz 1996 festgelegten Höhe des Pflegegelds der Stufe 1 lässt sich im Hinblick auf die Konsequenzen der Stichtagsregelung aus § 47 Abs 1 BPGG nicht ableiten, sodass sie aus dieser Regelung keine Vorteile mehr ziehen kann. Sie wird genau so behandelt wie eine Person, die bereits vor dem ein höheres Pflegegeld als dasjenige der Stufe 1 zuerkannt worden war, wenn das Pflegegeld zu einem späteren Zeitpunkt auf die Stufe 1 herabgesetzt wurde.

Die Revision ist daher nicht erfolgreich.

Da die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO abhängt, entspricht es der Billigkeit, der zur Gänze unterlegenen Klägerin die Hälfte der Kosten ihres Vertreters im Revisionsverfahren zuzusprechen (RIS-Justiz RS0085871).

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00036.17T.0425.000
Schlagworte:
1 Generalabonnement,12 Sozialrechtssachen

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