OGH 01.06.2010, 10ObS36/10g
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Georg Eberl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Manfred H*****, Glasermeister, *****, vertreten durch Dr. Josef Schima, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 171/09i-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 15 Cgs 43/09z-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revision der beklagten Partei wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der am geborene Kläger hat den Beruf des Glasers erlernt. Er hat am die Lehrabschlussprüfung und am auch die Meisterprüfung abgelegt. Zum Prüfungsteil „Unternehmerprüfung“ ist er nicht angetreten. Innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag () arbeitete er 75 Monate als Glaser und 60 Monate als LKW-Fahrer.
Der Kläger ist noch in der Lage, mittelschwere, nicht aber schwere Arbeiten zu verrichten. Ausgeschlossen sind ua auch Arbeiten, bei denen beide Arme über Schulterniveau zu heben sind.
Glaser verrichten ua schwere Arbeiten. Auch Arbeiten mit beiden Armen über Schulterhöhe kommen laufend vor.
Glasermeister sind unterschiedlich eingesetzt und belastet. Glasermeister in Vorgesetztenposition haben nur körperlich leichte Arbeiten ohne Arbeiten mit den Armen über Schulterhöhe auszuführen. Solche Arbeitsplätze (Betriebsleiter, Abteilungsleiter …) gibt es in größeren Betrieben der Glaserzeugung, in denen es nicht erforderlich ist, dass der Meister manuell mitarbeitet, sondern mit der Planung, der Kundenakquisition und der Arbeitseinteilung beschäftigt ist, Vereinbarungen auf Baustellen trifft, den Betrieb führt und am Florieren hält. Es handelt sich dabei um größere Betriebe, in denen die Möglichkeit zur Delegierung besteht, dh die über die erforderliche Anzahl von Mitarbeitern verfügen, sodass der Meister unter Umständen unter Beiziehung von Helfern auf Baustellen auch manuell tätig sein kann. Ein Glaser in Vorgesetztenposition kann in einem größeren Betrieb mit der entsprechenden Anzahl von Mitarbeitern schwere Arbeiten und auch Arbeiten mit beiden Armen über Schulterhöhe delegieren.
Darüber hinaus gibt es derartige Arbeitsplätze als gewerberechtlicher Geschäftsführer von einschlägigen Gesellschaften, als Meister in größeren Glasereien und als Sachverständiger.
Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt die Gewährung der Invaliditätspension ab.
Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Der Kläger, dem Berufsschutz als Glaser zukomme, sei nicht mehr in der Lage, als Glaser im kompletten Berufsumfang zu arbeiten. Dennoch sei er in der Lage, als Glasermeister in Vorgesetztenposition, zB als Betriebs- oder Abteilungsleiter in der Glaserzeugung, als Meister in größeren Glasereien und als Sachverständiger im Glasereiwesen zu arbeiten. Es sei ihm auch zumutbar, sich einer Nachschulung zum Erwerb von Spezialkenntnissen (Unternehmerprüfung) zu unterziehen. Damit sei keine Aushöhlung des Berufsschutzes verbunden.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und sprach aus, dass das auf Gewährung der Invaliditätspension ab gerichtete Klagebegehren dem Grund nach zu Recht bestehe, und trug der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung von 1.300 EUR monatlich auf.
Es ging weder auf die Mängel- noch auf die Beweisrüge ein, weil der Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension bereits auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen als berechtigt angesehen wurde. Zwar verhindere der Berufsschutz eines Facharbeiters noch nicht die Verweisung auf eine Angestelltentätigkeit. Entscheidend sei jedoch das Bestehen einer Nahebeziehung zum erlernten und ausgeübten Beruf, ausgehend von den Kenntnissen und Fähigkeiten, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufs in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten unter Berücksichtigung einer betriebsüblichen Einschulungszeit verlangt würden.
Werde allerdings durch eine Umschulung der Bereich des erlernten Berufs verlassen und stehe der Beruf, zu dessen Ausübung die Umschulung erfolgt, mit dem erlernten Beruf in keinem unmittelbaren Zusammenhang, würde eine Verweisung auf diesen Beruf den Grundsätzen des Berufsschutzes widersprechen. Der Versicherte wäre in diesem Fall nicht gehalten, sich einer solchen Umschulung zu unterziehen und könnte nicht auf den Beruf, auf den die Schulung vorbereite, verwiesen werden.
Nach diesen Grundsätzen sei die vom Erstgericht vorgenommene Verweisung nicht zulässig, weil es an der geforderten Nahebeziehung des erlernten und ausgeübten Berufs (Glaser als Facharbeiter) zu den genannten Verweisungsberufen in Führungspositionen (Glasermeister in vorgesetzter Tätigkeit; Geschäftsführer) oder gar in - in der Regel - selbständiger Position (Sachverständiger) fehle. Die mit der Führung eines Betriebs oder einer Abteilung verbundenen Tätigkeiten (Vertretung nach außen, Kundenakquisition, Arbeitseinteilung, Mitarbeitermotivation, Planung etc) würden von einem ausgelernten Glaser üblicherweise nicht verlangt. Eine derartige Führungstätigkeit (bzw selbstständige Tätigkeit) unterscheide sich stark von einer klassisch unselbständigen Tätigkeit eines Facharbeiters. Eine entsprechende Nahebeziehung bestehe nicht schon deshalb, weil die Tätigkeit eines Glasermeisters in Vorgesetztenposition die Kenntnisse eines gelernten Glasers voraussetze. Diese Kenntnisse seien für die Ausübung der Tätigkeit eines Betriebsleiters, Abteilungsleiters oder eines gewerblichen Geschäftsführers wohl wichtig, würden aber gegenüber den klassischen Führungstätigkeiten deutlich in den Hintergrund treten. Dies gelte umso mehr für die (in der Regel) selbstständige Tätigkeit eines Sachverständigen.
Demnach sei die angefochtene Entscheidung im Sinne des Zuspruchs der Invaliditätspension abzuändern und der beklagten Partei die Erbringung einer vorläufigen Zahlung aufzutragen.
Die Revision sei zuläsig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage der Verweisbarkeit eines Glasers und zur Verweisung auf Führungspositionen fehle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsabweisenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist auch im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.
In der Revision macht die beklagte Partei geltend, dass der Kläger nicht als Glaser mit erfolgreich abgeschlossener Lehrausbildung, sondern als Glasermeister gearbeitet habe. Von den Vorinstanzen sei nicht erhoben worden, ob und inwieweit sich die Tätigkeit eines Glasermeisters von derjenigen eines Glasers mit erfolgreich abgeschlossener Lehrausbildung unterscheide. Erst bei Feststellung des konkreten Inhalts der bisher erlernten und ausgeübten Tätigkeit könne verlässlich beurteilt werden, ob es sich bei den genannten Verweisungsberufen um „neue“ Berufe handle, auf die der Kläger umgeschult werden müsse, oder ob lediglich eine Nachschulung (oder überhaupt keine Schulung) erforderlich sei.
Dazu wurde erwogen:
1. Auszugehen ist davon, dass der Kläger eine Tätigkeit als Glaser nicht mehr verrichten kann, weil dabei laufend körperlich schwere Arbeiten und Arbeiten mit beiden Armen über Schulterhöhe vorkommen.
Daher stellt sich die Frage, ob der Kläger, der Berufsschutz nach § 255 Abs 1 ASVG genießt, in der Lage ist, mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit eine im Verweisungsfeld liegende Verweisungstätigkeit auszuüben. § 255 Abs 1 ASVG grenzt das Verweisungsfeld auf Berufe ein, die eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie der zuletzt überwiegend ausgeübte Beruf verlangen.
2. Zweifellos stellt § 255 Abs 1 ASVG in seinem ersten Teil ohne nähere Spezifizierung allein auf die Tatsache der Tätigkeit in erlernten oder angelernten Berufen ab. Aus dem Umstand, dass der mit der 9. ASVG-Novelle (BGBl 1962/13) eingeführte Berufsschutz für Arbeiter, die überwiegend in einem erlernten oder angelernten Beruf tätig waren, an den im ASVG bereits geregelten Berufsschutz der Angestellten angepasst wurde, ist allerdings zu schließen, dass für die Bestimmung des Verweisungsfelds nicht bloß diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten maßgeblich sind, die bei einem Versicherten, der den Beruf erlernt hat, vorhanden sind, sondern dass auch eine höhere Qualifikation zu berücksichtigen ist, soweit sie Eingang in die Tätigkeit fand (vgl 10 ObS 15/01f = SSV-NF 15/31: auf dem Niveau eines Tischlermeisters tätiger Tischler).
Im vorliegenden Fall geht aus den Feststellungen nicht mit der erforderlichen Klarheit hervor, ob der Kläger in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend als Glaser oder als Glasermeister tätig war und welche Kenntnisse und Fähigkeiten er durch seine Ausbildung und seine praktische Arbeit erworben hat. Weiters sind zwar die körperlichen Anforderungen der Berufe des Glasers und des Glasermeisters im Einzelnen festgestellt, nicht aber die geistigen Anforderungen (sieht von der wenig aussagekräftigen Formulierung „geistig mittelschwer“ ab). Solche Feststellungen sind aber notwendig, um das Verweisungsfeld eingrenzen zu können, das dadurch gekennzeichnet ist, dass in den in Betracht kommenden Verweisungsberufen die erworbene berufliche Qualifikation verwertet werden kann. Eine Verweisung auf eine Führungsposition ist nicht von vornherein ausgeschlossen, sofern diese Tätigkeit zur zuletzt ausgeübten verwandt ist, weil sie eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert. Eine Verweisung auf eine selbständige Tätigkeit kommt allerdings nicht in Betracht (vgl 10 ObS 332/99t = SSV-NF 14/76 = RIS-Justiz RS0113974), weshalb es für die weitere Beurteilung belanglos ist, dass der Kläger die Unternehmerprüfung nicht absolviert hat.
Schließlich sind auch noch Feststellungen zu den konkreten Anforderungen notwendig, wie sie an einen Glasermeister in Vorgesetztenposition, einen Meister in größeren Betrieben oder einen gewerberechtlichen Geschäftsführer in der Praxis üblicherweise gestellt werden, damit die Frage beurteilt werden kann, ob der Kläger über die für die Ausübung der genannten Verweisungstätigkeiten erforderlichen Qualifikationen verfügt. Wie bereits erwähnt, müssen die Qualifikationen, die der Kläger aufgrund seiner Ausbildung und/oder seiner praktischen Arbeit verfügt, bei der Beurteilung der Verweisbarkeit des Klägers berücksichtigt werden.
3. Weiters fehlt es auch an Feststellungen zur dauernden Invalidität (§ 256 Abs 2 ASVG), die ebenfalls nachzuholen sein werden.
4. Da es im Hinblick auf die Ausführungen unter Punkt 2. und 3. offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war auch das Urteil erster Instanz aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
Schlagworte | Sozialrecht, |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2010:010OBS00036.10G.0601.000 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
MAAAE-04670