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VfGH vom 23.09.2003, B568/03

VfGH vom 23.09.2003, B568/03

Sammlungsnummer

16958

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung eines in Österreich studierenden und verheirateten, für seine Tochter sorgenden türkischen Staatsangehörigen aufgrund verfassungswidriger Interessenabwägung

Spruch

I. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang der Gebührenbefreiung wird stattgegeben.

II. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 1.962,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, lebt seit 1996 in Österreich. Am wurde ihm erstmals eine - ab gültige - Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Studiums erteilt; diese wurde in weiterer Folge immer wieder verlängert, zuletzt bis . Am stellte er beim Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 20, einen Erstantrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zum Zweck der Familiengemeinschaft.

Nach dem unbestrittenen Beschwerdevorbringen lebt und arbeitet die Ehefrau des Beschwerdeführers, ebenfalls türkische Staatsangehörige, seit 1993 rechtmäßig in Österreich; sie erfülle alle Voraussetzungen zur Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft und habe einen entsprechenden Antrag gestellt. Ihre Eltern seien bereits österreichische Staatsbürger; sie habe auch keine Verwandten in der Türkei. Aufgrund der Berufstätigkeit seiner Ehefrau sei der Beschwerdeführer für die gemeinsame - 1999 in Österreich geborene - Tochter sorgepflichtig; die Tochter leide an schwerer Bronchitis und sei daher besonders pflegebedürftig.

2.1. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom wurde der Beschwerdeführer gemäß § 34 Abs 1 Fremdengesetz 1997 (im Folgenden: FrG) ausgewiesen. Begründend wird im Bescheid zunächst ausgeführt, dass der am bei der Magistratsabteilung 20 eingebrachte Antrag des Beschwerdeführers "zuständigkeitshalber" an die Bundespolizeidirektion Wien übermittelt worden sei, weil "festgestellt wurde, dass Ihr Aufenthaltszweck noch immer der des Studiums ist".

Die Ausweisung begründete die Bundespolizeidirektion Wien damit, dass der Beschwerdeführer Studienerfolge nur bis nachgewiesen habe. Die Behörde ging daher davon aus, dass der Beschwerdeführer nicht gewillt sei, sein Studium derzeit fortzusetzen.

2.2. Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien wies die gegen den genannten Bescheid erhobene Berufung mit Bescheid vom als unbegründet ab. Begründend führt sie im Wesentlichen aus, dass aufgrund des Umstands, dass der Beschwerdeführer seit beinahe drei Jahren keinen Studienerfolg aufweisen könne, die Annahme gerechtfertigt sei, dass es ihm auf eine Absolvierung seines Studiums nicht ankomme und der tatsächliche Zweck seines Aufenthalts ein anderer als der des Studiums sei. Dies stehe jedoch mit der strengen Zweckbindung der zu erteilenden Aufenthaltstitel in erheblichem Widerspruch, weshalb dadurch die öffentliche Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens maßgeblich beeinträchtigt und der in § 10 Abs 2 Z 3 FrG normierte Versagungsgrund verwirklicht sei.

3. Gegen diesen Berufungsbescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) und auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (BVG BGBl. 390/1973) sowie des durch Art 3 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheids beantragt wird.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie u.a. vorbringt, dass eine ausreichende Interessenabwägung im Hinblick auf Art 8 EMRK vorgenommen worden sei: Dass die Gattin des Beschwerdeführers nach dessen Verlassen des Bundesgebietes (weiterhin) Alleinverdienerin sei und sich dann (alleine) um ihr Kind kümmern müsse, könne die Ausweisung im Hinblick auf Art 8 EMRK nicht unzulässig erscheinen lassen. Die Behörde beantragt daher, die Beschwerde abzuweisen oder die Behandlung der Beschwerde abzulehnen.

II. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Verfahrenshilfe im Umfang der Gebührenbefreiung liegen vor; die Verfahrenshilfe war daher in diesem beantragten Ausmaß zu gewähren.

III. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheids eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewandt hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie den angewandten Rechtsvorschriften fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.982/1989, 13.241/1992, 13.489/1993).

2. Solches ist der belangten Behörde im vorliegenden Fall vorzuwerfen:

2.1. Gemäß § 37 Abs 1 FrG ist (u.a.) eine Ausweisung gemäß § 34 Abs 1 leg. cit., durch die in das Privat- und Familienleben des Fremden eingegriffen würde, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Gemäß § 37 Abs 2 leg. cit. darf (u.a.) eine Ausweisung gemäß § 34 Abs 1 leg. cit. jedenfalls nicht erlassen werden, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung. Bei der Abwägung ist - nach dem ausdrücklichen Wortlaut dieser Bestimmung - insbesondere auf "die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen" sowie auf "die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen" Bedacht zu nehmen.

2.2. Die belangte Behörde führt in ihrem Bescheid aus, dass aufgrund des Umstands, dass der Beschwerdeführer verheiratet und für ein Kind sorgepflichtig ist, von einem Eingriff in sein Privat- und Familienleben auszugehen ist. Dieser Eingriff erweise sich jedoch iSd. § 37 Abs 1 FrG als zulässig, weil er zur Erreichung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens dringend geboten sei: Der Beschwerdeführer gehe seit beinahe drei Jahren seinem Studium offenbar überhaupt nicht mehr nach; es komme ihm somit auf die Absolvierung seines Studiums offenbar nicht an. Es erscheine daher die Annahme gerechtfertigt, dass er sein Studium lediglich formal aufrechterhalte, um seinen Aufenthalt in Österreich zu prolongieren; dies sei mit einem geregelten Fremdenwesen unvereinbar, weshalb die Ausweisung dringend geboten sei.

Zur Interessenabwägung nach § 37 Abs 2 FrG wird im Bescheid ausgeführt, dass sich die Integration des Beschwerdeführers "angesichts aller Umstände jedoch als nicht ausgeprägt" erweise, weil "ein derart mangelnder Studienerfolg die Integration eines zum Zwecke des Studiums aufhältigen Fremden" mindere. Zwar erweise sich sein privates Interesse an einem Weiterverbleib in Österreich als keinesfalls gering, jedoch müsse es hinter das einen hohen Stellenwert genießende öffentliche Interesse an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens zurücktreten. Die Behörde habe dabei auch berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer "den Kontakt zu seinen Familienangehörigen - wenn auch eingeschränkt - vom Ausland aus aufrecht erhalten und seinen Sorgepflichten vom Ausland aus nachkommen" könne.

2.3. Wie bereits dargestellt (Pkt. I.1.), hält sich der Beschwerdeführer seit 1996 - bis zur Erlassung des bekämpften Bescheids vom rechtmäßig (vgl. § 31 Abs 4 FrG) - in Österreich auf. Seine Ehefrau lebt bereits seit 1993 rechtmäßig in Österreich und ist hier berufstätig; sie kommt allein für den Familienunterhalt auf, weshalb die Fürsorge und Pflege der gemeinsamen, 1999 in Österreich geborenen Tochter grundsätzlich dem Beschwerdeführer obliegt.

In Anbetracht dieser konkreten Umstände erweist sich jedoch die Auffassung der Behörde, dass im vorliegenden Fall ein eingeschränkter Kontakt des Beschwerdeführers zu seinen Familienangehörigen vom Ausland aus im Lichte des Art 8 EMRK genüge und er seinen Sorgepflichten auch vom Ausland aus nachkommen könne, als unzutreffend (vgl. etwa auch VfSlg. 15.812/2000 und ).

Die Behörde hat somit bei ihrer Interessenabwägung gemäß § 37 FrG dieser Bestimmung einen durch Art 8 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt und den Beschwerdeführer dadurch in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

IV. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG; im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,-- enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.