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OGH vom 24.06.2020, 10ObS34/20b

OGH vom 24.06.2020, 10ObS34/20b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei I*****, vertreten durch Dr. Gregor Maderbacher, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, FriedrichHillegeistStraße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 122/19y12, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die Klägerin ist österreichische Staatsbürgerin. Sie hat ihren Hauptwohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich.

Aufgrund ihrer Ehe mit ihrem bereits verstorbenen Gatten, der italienischer Staatsbürger war und in Italien lebte, bezieht die Klägerin in Italien eine Witwenpension nach italienischem Recht. Sie ist beim italienischen Krankenversicherungsträger krankenversichert.

Mit vom lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom auf Zuerkennung von Pflegegeld ab. Die Klägerin sei der italienischen Krankenversicherung zugehörig, sodass Italien auch für die Gewährung pflegebedingter Leistungen zuständig sei. Die Klägerin erfülle daher nicht die Anspruchsvoraussetzungen des § 3a Abs 1 BPGG.

Die begehrte mit ihrer Klage die Zuerkennung von Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß. Österreich sei nach der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: VO 883/2004) zuständig für die Gewährung von Pflegegeldleistungen. Italien gewähre nämlich im Fall der Pflege nur beitragsunabhängige Geldleistungen gemäß Art 70 VO 883/2004, die jedoch nicht exportiert werden müssten. Für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen würden die Kollisionsregeln der Art 11 ff VO 883/2004 nicht gelten. Der Ausschlussgrund des § 3a Abs 1 BPGG sei daher nicht erfüllt, andernfalls sei diese Bestimmung unionsrechtswidrig, weil sie zu einem ungerechtfertigten Ausschluss des Anspruchs der Klägerin führen würde, die als österreichische Staatsangehörige von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht habe und deshalb keine österreichische, sondern eine italienische Pension beziehe. Die Klägerin könne schon aufgrund der Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts im Inland nicht von einer Sozialleistung in Österreich ausgeschlossen werden.

Die wandte dagegen ein, dass das Pflegegeld unionsrechtlich als Geldleistung bei Krankheit gelte. Die Klägerin sei beim italienischen Versicherungsträger krankenversichert. Sie verfüge über eine ECard, mittels derer sie vom österreichischen Krankenversicherungsträger auf Rechnung des italienischen Versicherungsträgers Sachleistungen erhalten könne. Für die Gewährung von Geldleistungen bei Krankheit, wozu das Pflegegeld gehöre, sei Österreich nicht zuständig. Diese seien vom Träger des zuständigen Mitgliedstaats zu gewähren, der letztlich auch die Kosten der Sachleistungen zu tragen habe, hier daher vom italienischen Versicherungsträger. Da die Klägerin keine Grundleistung gemäß § 3 Abs 1 und 2 BPGG in Österreich beziehe, habe sie keinen Anspruch auf Pflegegeld.

Die wiesen das Klagebegehren ab. Da die Klägerin keine Grundleistung nach § 3 Abs 1 oder 2 BPGG beziehe, könne sie als österreichische Staatsangehörige nur anspruchsberechtigt nach § 3a Abs 1 BPGG sein. Ein Anspruch nach § 3a Abs 1 BPGG könne nur bestehen, wenn nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO 883/2004 für die Gewährung von Pflege(geld)leistungen zuständig sei. Da für die Klägerin als Bezieherin einer italienischen Witwenpension nach den unionsrechtlichen Kollisionsregeln Italien zur Gewährung von Leistungen bei Krankheit – zu denen auch das Pflegegeld gehöre – zuständig sei, habe sie keinen Anspruch auf Pflegegeld. § 3a Abs 1 BPGG sei weder unionsrechtswidrig, noch gleichheitswidrig, eine mittelbare Diskriminierung der Klägerin liege nicht vor.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision der Klägerin ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung unzulässig.

1.1 Gemäß § 3a Abs 1 BPGG idF BGBl I 2015/12 (§ 49 Abs 25 BPGG) besteht Anspruch auf Pflegegeld auch ohne Grundleistung gemäß § 3 Abs 1 und 2 BPGG für österreichische Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, sofern nach der VO 883/2004 nicht ein anderer Mitgliedstaat für Pflegeleistungen zuständig ist.

1.2 Für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auch nach § 3a Abs 1 BPGG sind allein die Kollisionsregeln der VO 883/2004, insbesondere deren Art 11 ff heranzuziehen (RISJustiz RS0131205). Der Oberste Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen die Unionsrechtskonformität des § 3a Abs 1 BPGG bejaht. Die Bestimmung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, weil dieser den Mitgliedstaaten lediglich das Recht – und nicht die Pflicht – einräumt, über die Zuständigkeitsregeln der VO 883/2004 hinaus Leistungen nach nationalem Recht zu gewähren (10 ObS 83/16b SSVNF 30/80 ua; 10 ObS 101/18b mwH; RS0131206). Der Anregung der Revisionswerberin, ein diesbezügliches Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten, kommt der Oberste Gerichtshof daher nicht nach.

1.3 Neben den Kollisionsregeln der Art 11 ff VO 883/2004 enthalten die Art 23 ff VO 883/2004 für die Krankenversicherung der Pensionisten („Rentner“ im Sinn des Art 1 lit w VO 883/2004) Sonderkollisionsnormen (Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union7 [2018] Rn 136, 195). Die Leistungszuständigkeit für Geldleistungen bei Krankheit für eine Pensionistin wie die Klägerin liegt gemäß Art 29 VO 883/2004 einheitlich bei dem kollisionsrechtlich primär zuständigen Träger, das heißt bei dem Träger, der die Kosten der im Wohnstaat gewährten Sachleistungen gemäß den Art 23 bis 25 VO 883/2004 zu tragen hat (vgl 10 ObS 123/16k, SSVNF 31/9; Janda in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7, Art 29 VO 883/2004 Rn 1). Dies ist nach den Verfahrensergebnissen im vorliegenden Fall Italien, weil die Klägerin eine Witwenpension nach italienischem Recht bezieht (vgl Art 24 Abs 1 und Abs 2 lit a VO 883/2004).

1.4 Unionsrechtlich ist das österreichische Pflegegeld eine Leistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004. Es handelt sich dabei nicht um eine Sachleistung bei Krankheit, sondern um eine Geldleistung bei Krankheit im Sinn des Art 21 VO 883/2004 (10 ObS 96/14m SSVNF 28/67 ua; EuGH C215/99, Jauch, Rn 35 zum österreichischen, und C388/09, da Silva Martins, Rn 43, zum deutschen Pflegegeld; Spiegel, trESSArbeiten betreffend die Koordination von Pflegeleistungen, ZESAR 2013, 209 [210, FN 7 mzwH]).

1.5 Die Vorinstanzen haben diese Rechtsprechung beachtet. Eine Korrekturbedürftigkeit ihrer Rechtsansicht, dass der Klägerin vor diesem Hintergrund kein Anspruch auf Pflegegeld gemäß § 3a Abs 1 BPGG zusteht, zeigt die Revisionswerberin nicht auf. Ob in Italien tatsächlich Pflege(geld)leistungen erbracht werden oder nicht, spielt für die Bestimmung der Leistungszuständigkeit nach den Kollisionsregeln der VO 883/2004, worauf das Berufungsgericht hingewiesen hat, keine Rolle (10 ObS 83/16b SSVNF 30/80, Pkt 4.5).

2. Den Argumenten der Revisionswerberin ist noch entgegenzuhalten:

2.1 Richtig ist, dass der Gerichtshof der Europäischen Union zwischen Leistungen bei Pflegebedürftigkeit und solchen bei Krankheit differenziert: Leistungen bei Pflegebedürftigkeit haben gegenüber Leistungen bei Krankheit ergänzenden Charakter, sie sind nicht deren integraler Bestandteil. Leistungen bei Pflegebedürftigkeit können insbesondere durch ihre Anwendungsmodalitäten Merkmale aufweisen, die in der Sache in einem gewissen Maß auch den Zweigen Invalidität und Alter nahekommen könnten (vgl näher Kaeding, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit – die geplante Änderung der VO [EG] 883/2004, ZESAR 2019, 206 [207 mwH]). Dies ändert aber nichts daran, dass sie dennoch den „Leistungen bei Krankheit“ im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a VO 883/2004 gleichzustellen sind, wenn sie darauf abzielen, den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen der Pflegebedürftigen zu verbessern (EuGH C679/16, A [Aide pour une personne handicapée], ECLI:EU:C:2018:601,
Rn 42–44 mwH). Dies entspricht genau dem Zweck des Pflegegeldes (RS0106398). Im Übrigen gelten Geldleistungen bei Pflegebedürftigkeit auch nach dem Wortlaut des Art 34 Abs 1 VO 883/2004 als „Leistungen bei Krankheit“.

2.2 Es hat daher bei der von den Vorinstanzen bejahten Anwendbarkeit der schon dargestellten Kollisionsregeln der Art 23 ff VO 883/2004 zu bleiben. Diese das Recht der Rentner und ihrer Familienangehörigen bei der Koordinierung von Leistungen bei Krankheit, Mutterschaft und Vaterschaft regelnden Sonderkollisionsnormen gehen der von der Revisionswerberin für die Behauptung der Zuständigkeit Österreichs ins Treffen geführten Auffangregelung des Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 vor (vgl 10 ObS 123/16k SSVNF 31/9, Pkt 2.6).

2.3 Tatsächlich gewährt Italien nach der von der Verwaltungskommission gemäß Art 34 Abs 2 VO 883/2004 beschlossenen Liste weder Geld noch Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit (abgedruckt bei Bieback in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 34 VO 883/2004 Rn 18). Darauf kommt es aber nach § 3a Abs 1 BPGG wie bereits ausgeführt ebenso wenig an wie auf den von der Revisionswerberin behaupteten Umstand, Italien würde im Fall der Pflegebedürftigkeit nur bestimmte, im Anhang X zur VO 883/2004 aufgezählte beitragsunabhängige Sonderleistungen gemäß Art 70 VO 883/2004 erbringen, die nicht exportiert werden müssten.

Im Einklang mit dem Unionsrecht bleibt jeder Mitgliedstaat selbst dafür zuständig, in seinen Rechtsvorschriften festzulegen, unter welchen Voraussetzungen die Leistungen eines Systems der sozialen Sicherheit gewährt werden (EuGH C611/10 und C612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, Rn 42 mwH). Die Mitgliedstaaten können infolge des auf Grundlage des Art 48 AEUV geschaffenen Koordinierungsrechts lediglich nicht bestimmen, inwieweit ihre eigenen Rechtsvorschriften oder die eines anderen Mitgliedstaats anwendbar sind (10 ObS 123/16k SSVNF 31/9, Pkt 4.4 mwH). Fehlt wie im vorliegenden Fall die Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung von Pflegeleistungen nach der VO 883/2004, besteht keine unionsrechtliche Verpflichtung, dennoch solche zu gewähren.

2.4 Die Revisionswerberin fordert zu Unrecht die Gleichstellung der von ihr nach italienischem Recht bezogenen Witwenpension mit einer österreichischen Grundleistung gemäß § 3 Abs 1 und 2 BPGG. Die Gleichstellung von Sachverhalten oder Ereignissen, die in einem Mitgliedstaat eingetreten sind, kann nämlich in keinem Fall bewirken, dass ein anderer Mitgliedstaat zuständig wird oder dessen Rechtsvorschriften anwendbar werden (10 ObS 101/15y SSVNF 30/41; RS0130847). An der Zuständigkeit Österreichs und damit an der Anwendbarkeit österreichischer Rechtsvorschriften, die Voraussetzung für die von der Revisionswerberin geforderte Tatbestandsgleichstellung wären, fehlt es jedoch im vorliegenden Fall.

2.5 Die Revisionswerberin behauptet, sie werde mittelbar diskriminiert, weil sie nicht die Witwe eines österreichischen Staatsangehörigen, sondern die Witwe eines italienischen Staatsangehörigen sei. Der Umstand jedoch, dass die Klägerin eine Witwenpension nach italienischem Recht bezieht, beruht nicht auf der Staatsangehörigkeit ihres verstorbenen Gatten, sondern auf dem Umstand, dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer Witwenpension an die Klägerin nach italienischem Recht erfüllt sind. Die Klägerin erfüllt infolge der daher gegebenen Leistungszuständigkeit Italiens in unionsrechtlich zulässiger Weise nicht alle Anspruchsvoraussetzungen nach innerstaatlichem Recht, sodass eine mittelbare Diskriminierung im Sinn des Art 4 VO 883/2004 nicht vorliegt (vgl 10 ObS 123/16k SSVNF 31/9, Pkt 4.5 und 4.6).

2.6 Die Revisionswerberin macht geltend, dass § 3a BPGG gleichheitswidrig sei, weil ihr als österreichischer Staatsbürgerin in unsachlicher Weise Leistungen vorenthalten würden. Der in Art 7 BVG normierte Gleichheitsgrundsatz verbietet willkürliche unsachliche Differenzierungen. Er wird dann verletzt, wenn der Gesetzgeber Gleiches ungleich behandelt (RS0053981). Dem Gesetzgeber steht ein Gestaltungsspielraum verfassungsrechtlich insoweit zu, als er in seinen rechtspolitischen und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist. Gerade im Sozialversicherungsrecht ist eine durchschnittliche Betrachtungsweise erforderlich, die auf den Regelfall abstellt und damit Härten in Einzelfällen nicht ausschließen kann (RS0053889 [T2]).

Vor diesem Hintergrund vermag der Oberste Gerichtshof die verfassungsrechtlichen Bedenken der Revisionswerberin gegen § 3a Abs 1 BPGG nicht zu teilen. Denn Österreich gewährt in allen Fällen, in denen seine Zuständigkeit feststeht, nach dieser Bestimmung Pflegegeld auch ohne Grundleistung an österreichische Staatsbürger. Fehlt es an einer österreichischen Zuständigkeit, so liegt dies nur daran, dass eine leistungsberechtigte Person – nach den Intentionen der VO 883/2004 – den Rechtsvorschriften des Sozialversicherungssystems eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union unterliegt und grundsätzlich daraus leistungsberechtigt ist. Der Umstand allein, dass andere Mitgliedstaaten der Union keine Pflege(geld)leistungen erbringen, verpflichtet Österreich unionsrechtlich – wie ausgeführt – nicht zur Schaffung eines entsprechenden Anspruchs. Im Einzelfall ist es möglich, dass eine österreichische Staatsbürgerin mit Wohnsitz und Aufenthalt im Inland, die keine inländische Grundleistung bezieht, bei gegebener Leistungszuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats keine Pflege(geld)leistungen erhält. Vor diesem Hintergrund führt dies nicht zur behaupteten Gleichheitswidrigkeit des § 3a Abs 1 BPGG.

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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00034.20B.0624.000

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