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VfGH vom 02.07.2009, B559/08

VfGH vom 02.07.2009, B559/08

Sammlungsnummer

18833

Leitsatz

Keine unzulässige Doppelverfolgung wegen derselben strafbaren Handlung und somit keine Verletzung des Doppelbestrafungsverbotes durch Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen Lenkens eines Fahrzeuges in alkoholisiertem Zustand nach Einstellung des gerichtlichen Strafverfahrens wegen fahrlässiger Körperverletzung angesichts der Verfolgung verschiedener, sich in ihren wesentlichen Elementen unterscheidender Straftatbestände

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer lenkte am ein

Kraftfahrzeug in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand. In einem Kreuzungsbereich kam es zu einem Zusammenstoß mit einem Fußgänger, der am rechten Fuß im Bereich des Außenknöchels verletzt wurde.

1.1. Mit Nachtragsstrafantrag der Staatsanwaltschaft St. Pölten vom wurde dem Beschwerdeführer auf Grund dieses Vorfalles

1. das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 3 iVm § 81 Abs 1 Z 2 StGB,

2. das Vergehen des Imstichlassens eines Verletzten nach § 94 Abs 1 StGB und

3. das Vergehen der Unterdrückung eines Beweismittels nach § 295 StGB vorgeworfen.

Mit Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom wurde die Erstellung eines Gutachtens u.a. hinsichtlich des Blutalkoholgehaltes des Beschwerdeführers in Auftrag gegeben. Das Gutachten des Sachverständigen vom geht vom Ergebnis des Alkomattests der Polizeiinspektion Traisen am Unfalltag aus, der einen Alkoholgehalt in der Atemluft von 0,84 mg/l erbrachte. Tatsächlich aber werden die Berechnungen ausschließlich mit Bezug zum Blutalkoholgehalt angestellt und als Einheit g/l, dh. Promille, herangezogen. Abschließend heißt es im Gutachten: "Somit sind vom gemessenen Alkoholspiegel 0,84 lediglich 0,2485 Promille in Abzug zu bringen. Der ermittelte Blutalkoholgehalt bei Herrn E.G. zum Zeitpunkt des Unfalles vor Einnahme der 0,5 Liter und 0,33 Liter Biere hätte somit 0,555 Promille betragen müssen."

1.2. Mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom wurde der Beschwerdeführer des Vergehens des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt und des Vergehens der Unterdrückung eines Beweismittels schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Gleichzeitig wurde folgender Beschluss gefasst:

"Gemäß § 57 StPO wird das Verfahren gegen G.E. wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung gem. § 88 Abs 1 und Abs 3 (§81 Z 2 StGB) StGB und des Vergehens des Imstichlassen eines Verletzten (§94 Abs 1 StGB) zur Vermeidung von Verzögerungen wegen der eingetretenen Spruchreife im restlichen Verfahren ausgeschieden und an das sachlich und örtlich zuständige BG Lilienfeld zur weiteren Amtshandlung (Einvernahme der Zeugen H.R. und A.A. sowie Durchführung eines Lokalaugenscheins scheint unumgänglich) abgetreten."

1.3. In der Folge zog die Staatsanwaltschaft Teile des Nachtragsstrafantrages mit folgender Begründung zurück: "Die Staatsanwaltschaft St. Pölten zieht die Punkte 1.) sowie Punkt 2.) des Nachtragsstrafantrages vom aus dem Grund des § 34 Abs 2 Z 1 StPO zurück". Mit Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom wurde das Verfahren wegen "§§88 Abs 1,3 (§81 Z. 2) Strafgesetzbuch, 94 Abs 1 Strafgesetzbuch, 295 Strafgesetzbuch gemäß § 227 Abs 1 StPO eingestellt".

2. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Lilienfeld vom wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe iHv € 1.199,- verhängt, weil er ein Fahrzeug im alkoholisierten Zustand gelenkt (§§5 Abs 1 iVm 99 Abs 1a StVO 1960) und an der Feststellung des Sachverhaltes nicht mitgewirkt habe (§§4 Abs 1 litc iVm 99 Abs 2 lita StVO 1960). Der Alkoholgehalt seiner Atemluft wurde (unter Abzug des behaupteten Nachtrunkes) mit 0,69 mg/l angenommen; das entspricht einem Blutalkoholgehalt von 1,38‰.

2.1. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich (kurz: UVS NÖ) vom keine Folge gegeben. Begründend wird ausgeführt, dass keine unzulässige Doppelbestrafung vorliege, weil weder die Frage der Alkoholisierung des Beschwerdeführers noch der Umstand, dass er sich nach der Verkehrsunfallverursachung mit Sachschaden in Fremdeigentum von der Unfallstelle entfernt habe, ohne an der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes mitzuwirken, vom Strafgericht inhaltlich geprüft wurden.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art 4 Abs 1 des

7. ZPEMRK nicht wegen derselben strafbaren Handlung erneut vor Gericht gestellt zu werden, sowie auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz geltend gemacht wird.

II. 1. Die Bestimmungen des Strafgesetzbuches, BGBl. 60/1974, in

den für das Verfahren vor dem LG St. Pölten maßgeblichen Fassungen lauten:

"§81. (1) Wer fahrlässig den Tod eines anderen herbeiführt

1. unter besonders gefährlichen Verhältnissen,

2. nachdem er sich vor der Tat, wenn auch nur fahrlässig, durch Genuss von Alkohol oder den Gebrauch eines anderen berauschenden Mittels in einen die Zurechnungsfähigkeit nicht ausschließenden Rauschzustand versetzt hat, obwohl er vorhergesehen hat oder hätte vorhersehen können, dass ihm eine Tätigkeit bevorstehe, deren Vornahme in diesem Zustand eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit eines anderen herbeizuführen oder zu vergrößern geeignet sei, oder

3. [...]

(2) [...]

[...]

§88. (1) Wer fahrlässig einen anderen am Körper verletzt oder an der Gesundheit schädigt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu bestrafen.

(2) [...]

(3) In den im § 81 Abs 1 Z 1 bis 3 bezeichneten Fällen ist der Täter mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.

(4) [...]

[...]

§94. (1) Wer es unterläßt, einem anderen, dessen Verletzung am Körper (§83) er, wenn auch nicht widerrechtlich, verursacht hat, die erforderliche Hilfe zu leisten, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.

(2) - (4) [...]

[...]

§ 295. Wer ein Beweismittel, das zur Verwendung in einem gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Verfahren bestimmt ist und über das er nicht oder nicht allein verfügen darf, vernichtet, beschädigt oder unterdrückt, ist, wenn er mit dem Vorsatz handelt, zu verhindern, daß das Beweismittel im Verfahren gebraucht werde, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen, wenn die Tat nicht nach den §§229 oder 230 mit Strafe bedroht ist."

2. Die Bestimmungen der Strafprozessordnung 1975, BGBl. 631, in den für das Verfahren vor dem LG St. Pölten maßgeblichen Fassungen lauten:

"§34. (1) Die Staatsanwälte haben alle strafbaren Handlungen, die zu ihrer Kenntnis kommen und nicht bloß auf Verlangen des Verletzten oder eines anderen Beteiligten zu untersuchen und zu bestrafen sind, von Amts wegen zu verfolgen und daher wegen deren Untersuchung und Bestrafung durch das zuständige Gericht das Erforderliche zu veranlassen. Von der Verfolgung einer im Ausland begangenen strafbaren Handlung haben sie jedoch abzusehen oder zurückzutreten, wenn eine zwischenstaatliche Vereinbarung dazu verpflichtet.

(2) Die Staatsanwälte können, falls dem Beschuldigten mehrere strafbare Handlungen zur Last liegen, von der Verfolgung einzelner absehen oder unter Vorbehalt späterer Verfolgung zurücktreten (§363 Abs 1 Z. 3):

1. wenn das voraussichtlich weder auf die Strafen oder sichernden Maßnahmen noch auf die mit der Verurteilung verbundenen Rechtsfolgen wesentlichen Einfluß hat;

2. wenn der Beschuldigte wegen der übrigen strafbaren Handlungen an eine ausländische Behörde ausgeliefert wird und die im Inlande zu erwartenden Strafen oder sichernden Maßnahmen gegenüber denen, auf die voraussichtlich im Ausland erkannt werden wird, nicht ins Gewicht fallen.

Nimmt der Staatsanwalt später die vorbehaltene Verfolgung wieder auf, so ist ein abermaliger Vorbehalt wegen einzelner strafbarer Handlungen unzulässig. Der Staatsanwalt kann ferner von der Verfolgung einer im Ausland begangenen strafbaren Handlung absehen oder zurücktreten, wenn der Täter schon im Ausland dafür bestraft oder dort nach außergerichtlichem Tatausgleich oder bedingter Verfahrensbeendigung außer Verfolgung gesetzt worden ist und es im Hinblick darauf keines inländischen Strafausspruchs bedarf. Die dem Privatbeteiligten nach den §§48, 49 und 449 zustehenden Rechte werden durch diese Bestimmungen nicht berührt.

(3) [...]

[...]

§227. (1) Tritt der Ankläger vor Beginn der Hauptverhandlung von der Anklage zurück, so stellt der Vorsitzende das Verfahren ein und widerruft die Anordnung der Hauptverhandlung.

(2) [...]"

3. Die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung 1960, BGBl. 159, in den für das Verfahren vor dem UVS NÖ maßgeblichen Fassungen lauten:

"§4. Verkehrsunfälle.

(1) Alle Personen, deren Verhalten am Unfallsort mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhange steht, haben

a)wenn sie ein Fahrzeug lenken, sofort anzuhalten,

b)wenn als Folge des Verkehrsunfalles Schäden für Personen oder Sachen zu befürchten sind, die zur Vermeidung solcher Schäden notwendigen Maßnahmen zu treffen,

c)an der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken.

(2) - (6) [...]

§5. Besondere Sicherungsmaßnahmen gegen
Beeinträchtigung durch Alkohol.

(1) Wer sich in einem durch Alkohol oder Suchtgift beeinträchtigten Zustand befindet, darf ein Fahrzeug weder lenken noch in Betrieb nehmen. Bei einem Alkoholgehalt des Blutes von 0,8 g/l (0,8 Promille) oder darüber oder bei einem Alkoholgehalt der Atemluft von 0,4 mg/l oder darüber gilt der Zustand einer Person jedenfalls als von Alkohol beeinträchtigt.

(1a) - (12) [...]

[...]

§99. Strafbestimmungen.

(1) [...]

(1a) Eine Verwaltungsübertretung begeht und ist mit einer Geldstrafe von 872 Euro bis 4 360 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Arrest von zehn Tagen bis sechs Wochen, zu bestrafen, wer ein Fahrzeug lenkt oder in Betrieb nimmt, obwohl der Alkoholgehalt seines Blutes 1,2 g/l (1,2 Promille) oder mehr, aber weniger als 1,6 g/l (1,6 Promille) oder der Alkoholgehalt seiner Atemluft 0,6 mg/l oder mehr, aber weniger als 0,8 mg/l beträgt.

(1b) [...]

(2) Eine Verwaltungsübertretung begeht und ist mit einer Geldstrafe von 36 Euro bis 2 180 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Arrest von 24 Stunden bis sechs Wochen, zu bestrafen,

a) der Lenker eines Fahrzeuges, dessen Verhalten am Unfallsort mit einem Verkehrsunfall in ursächlichem Zusammenhang steht, sofern er den Bestimmungen des § 4 Abs 1 und 2 zuwiderhandelt, insbesondere nicht anhält, nicht Hilfe leistet oder herbeiholt oder nicht die nächste Polizei- oder Gendarmeriedienststelle verständigt,

b) - f) [...]

(2a) - (7) [...]"

4. Die Bestimmungen der §§22 und 30 VStG 1991, BGBl. 52, über das Zusammentreffen einer Verwaltungsübertretung und einer gerichtlich strafbaren Handlung lauten:

"§22. (1) Hat jemand durch verschiedene selbständige Taten mehrere Verwaltungsübertretungen begangen oder fällt eine Tat unter mehrere einander nicht ausschließende Strafdrohungen, so sind die Strafen nebeneinander zu verhängen.

(2) Dasselbe gilt bei einem Zusammentreffen von Verwaltungsübertretungen mit anderen von einer Verwaltungsbehörde oder einem Gericht zu ahndenden strafbaren Handlungen.

[...]

§30. (1) Liegen einem Beschuldigten von verschiedenen Behörden zu ahndende Verwaltungsübertretungen oder eine Verwaltungsübertretung und eine andere von einer Verwaltungsbehörde oder einem Gericht zu ahndende strafbare Handlung zur Last, so sind die strafbaren Handlungen unabhängig voneinander zu verfolgen und zwar in der Regel auch dann, wenn die strafbaren Handlungen durch ein und dieselbe Tat begangen worden sind.

(2) Ist aber eine Tat von den Behörden nur zu ahnden, wenn sie nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit anderer Verwaltungsbehörden oder der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet, und ist es zweifelhaft, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, so hat die Behörde das Strafverfahren auszusetzen, bis über diese Frage von der sonst in Betracht kommenden Verwaltungsbehörde oder vom Gericht rechtskräftig entschieden ist.

(3) Hat die Behörde vor dieser Entscheidung ein Straferkenntnis gefällt, so darf es vorläufig nicht vollzogen werden. Ergibt sich später, daß das Verwaltungsstrafverfahren nicht hätte durchgeführt werden sollen, so hat die Behörde erster Instanz, wenn aber in der Sache ein unabhängiger Verwaltungssenat entschieden hat, dieser, das Straferkenntnis außer Kraft zu setzen und das Verfahren einzustellen.

(4) Die Gerichte und die sonst in Betracht kommenden Verwaltungsbehörden haben eine entgegen Abs 3 vollstreckte Verwaltungsstrafe auf die von ihnen wegen derselben Tat verhängte Strafe anzurechnen."

III. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Angesichts der jüngsten Entscheidungen des EGMR im Fall Zolotukhin (EGMR [GK], Appl. 14.939/03, newsletter 2009, 37 ff.), Ruotsalainen (EGMR , Appl. 13.079/03) und Maresti (EGMR , Appl. 55.759/07) sieht sich der Verfassungsgerichtshof veranlasst, seine Rechtsprechung zu Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen.

1.2. Nach Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK (in seiner deutschen Übersetzung) darf niemand "wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden". In den authentischen englischen und französischen Fassungen lautet die Konventionsbestimmung wie folgt:

"Nul ne peut etre poursuivi ou puni penalement par les juridictions du meme État en raison d'une infraction pour laquelle il a deja ete acquitte ou condamne par un jugement definitif conformement a la loi et a la procedure penale de cet État.

No one shall be liable to be tried or punished again in criminal proceedings under the jurisdiction of the same State for an offence for which he has already been finally acquitted or convicted in accordance with the law and penal procedure of that State."

Die "travaux preparatoires" zum 7. Protokoll führen - soweit sie für die Auslegung von Art 4 maßgeblich sind - aus (Explanatory Report relating to Protocol No. 7, veröffentlicht in HRLJ 1985, 80 ff.):

"1. Am hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verabschiedet. Das Ministerkomitee des Europarates hat sich angesichts der aus einer Koexistenz der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Abkommen der Vereinten Nationen möglicherweise entstehenden Probleme im Oktober 1967 dazu entschlossen, ein Expertenkomitee für Menschenrechte mit dem Thema zu befassen. Im Jahr 1969 hat das Expertenkomitee dem Ministerkomitee einen Bericht über die Unterschiede zwischen den von der Europäischen Konvention und den durch den Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte garantierten Rechten vorgelegt (Doc. H(70)7).

2. [...]

22. ... Nach der Definition des Europäischen Übereinkommens

|ber die internationale Geltung von Strafurteilen ist eine Entscheidung dann rechtskräftig, 'wenn sie nach der traditionellen Bedeutung Rechtskraft erlangt hat. Das ist dann der Fall, wenn sie unwiderruflich ist, dh. wenn keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stehen, wenn die Parteien diese Rechtsmittel erschöpft haben oder die Frist verstreichen haben lassen, ohne dieselben ergriffen zu haben'. ...

[...]

26. Artikel 4 hält fest, dass niemand wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden darf (ne bis in idem).

27. Die Wortfolge 'in einem Strafverfahren desselben Staates' beschränkt den Anwendungsbereich auf die nationale Ebene. Andere Übereinkommen des Europarates, wie etwa das Europäische Auslieferungsübereinkommen (1957), das Europäische Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen (1970) und das Europäische Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung (1972) regeln die Anwendung dieses Prinzips auf internationaler Ebene.

28. Es wurde nicht für notwendig erachtet - wie in Artikel 2 - die Handlung als 'strafbar' zu qualifizieren. Da bereits der Wortlaut des Artikels 4 die Begriffe 'strafbar' und 'Strafverfahren' enthält, war diese Klarstellung überflüssig.

29. Dieses Prinzip ist nur nach rechtskräftigem Freispruch oder rechtskräftiger Verurteilung nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates anwendbar. Das bedeutet, dass eine rechtskräftige Entscheidung im Sinne der in Z 22 wiedergegebenen Definition vorliegen muss.

[...]

32. Da Artikel 4 nur auf die Verfolgung und Verurteilung einer Person in einem Strafverfahren anwendbar ist, verhindert er nicht, dass sie für dieselbe Tat sowohl einer anderen Maßnahme (zum Beispiel einem Disziplinarverfahren im Fall eines Beamten) als auch einem Strafverfahren unterworfen werden kann."

1.3. Österreich hat anlässlich der Ratifikation des 7. Zusatzprotokolls die folgende "Erklärung" abgegeben:

"1. [...]

2. Die Art 3 und 4 beziehen sich nur auf Strafverfahren im Sinne der österreichischen Strafprozeßordnung."

In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (900 BlgNR 16. GP, 9) heißt es dazu:

"Der Grundsatz des ne bis in idem bezieht sich nur auf Verurteilungen in einem Strafverfahren. Es wird daher eine Verurteilung wegen derselben Tat in einem Disziplinarverfahren oder Verwaltungsstrafverfahren nicht ausgeschlossen. Dies soll durch eine zweite vorgeschlagene, anläßlich der Ratifikation abzugebende

Erklärung Österreichs ... in einer jeden Zweifel ausschließenden

Weise klargestellt werden."

Der Verfassungsgerichtshof sah sich im Erkenntnis VfSlg. 14.696/1996 veranlasst, dem EGMR in dessen Bewertung der "Erklärung" Österreichs zu Art 4 des 7. ZPEMRK zu folgen (EGMR , Fall Gradinger, Serie A 328, ÖJZ 1995, 954). Die "Erklärung" entspricht nicht den Anforderungen des Art 57 EMRK und kann daher nicht als gültiger Vorbehalt im Sinne dieser Konventionsbestimmung angesehen werden mit der Konsequenz, bestimmte Wirkungen der Konvention auszuschalten. Sie kann aber - im Zusammenhalt mit den "travaux preparatoires" - Anhaltspunkte für die Auslegung des Art 4 7. ZPEMRK liefern (Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, 2009, 445; siehe unten 4.4.2.).

2. Der EGMR hat seit dem Jahr 1995 eine Vielzahl von Entscheidungen zur Reichweite des Art 4 7. ZPEMRK, darunter einige gegen Österreich, getroffen:

2.1. Im Fall Gradinger (EGMR , Serie A 328, ÖJZ 1995, 954) nahm der EGMR eine Verletzung des Art 4 des 7. ZPEMRK deshalb an, weil in einem rechtskräftig abgeschlossenen gerichtlichen Verfahren einerseits "die erschwerenden Umstände, auf die in § 81 Abs 2 StGB Bezug genommen wird, nämlich ein Blutalkoholgehalt von 0,8 Promille oder mehr, in Bezug auf den Beschwerdeführer nicht festzustellen waren", während andererseits die Verwaltungsbehörden bei ihrer Bestrafung des Beschwerdeführers nach § 99 Abs 1 lita StVO 1960 (wie der EGMR formuliert, "- um den Fall des Beschwerdeführers in den Anwendungsbereich des § 5 StVO zu bringen -") befanden, "dass der genannte Alkoholgehalt erreicht worden sei". Der EGMR setzte fort:

"Der Gerichtshof ist sich völlig bewusst, dass die in Rede stehenden Bestimmungen verschieden sind, nicht nur was die Bezeichnung der strafbaren Handlungen betrifft, sondern was wichtiger ist, auch was ihre Art und ihren Zweck anlangt. Er bemerkt weiters, dass die in § 5 StVO vorgesehene Strafbestimmung nur einen der Gesichtspunkte (aspect) der gemäß Art 81 Abs 2 StGB [richtig: § 81 Abs 2 StGB] strafbaren Handlung widerspiegelt. Dennoch gründeten sich beide strittigen Entscheidungen auf das gleiche Verhalten (based on the same conduct). Demgemäß hat eine Verletzung des Art 4 7. ZPEMRK stattgefunden. (Z55)"

2.2. Im Fall Oliveira (EGMR , Appl. 84/1997/868/1080, JBl 1999, 102) führte der EGMR aus:

"26. Dies ist ein typisches Beispiel dafür, daß eine einzelne Handlung mehrere Straftatbestände erfüllt (Idealkonkurrenz von Straftaten). Das charakteristische Merkmal dieses Begriffs liegt darin, daß ein einzelnes strafbares Verhalten (a single criminal act, fait penal unique) in zwei getrennte Straftatbestände (separate offences, infractions distinctes) aufgeteilt wird - in diesem Fall der Verlust der Kontrolle über das eigene Fahrzeug und die fahrlässige Körperverletzung. In solchen Fällen absorbiert die schwerere Strafe gewöhnlich die geringere.

Nichts daran verletzt Art 4 des 7. ZPMRK, da diese Bestimmung es verbietet, einen Menschen zweimal wegen desselben Straftatbestandes (same offence, meme infraction) zu verfolgen, während in Fällen, in denen eine Handlung mehrere Straftatbestände erfüllt (Idealkonkurrenz), eine strafbare Handlung zwei getrennte Straftatbestände erfüllt.

27. Es wäre ohne Zweifel in größerem Einklang mit den Prinzipien einer geordneten Rechtspflege gestanden, wenn die Bestrafung in bezug auf beide Straftatbestände, die auf dasselbe strafbare Verhalten zurückgegangen sind, vom selben Gericht in einem einzigen Verfahren vorgenommen worden wäre. Es scheint, daß dies im gegebenen Fall auch geschehen hätte sollen - der Polizeirichter hätte in Anbetracht der schweren Verletzungen des Unfallopfers, für deren Ahndung er nicht zuständig war, den Akt an das Büro des Bezirksanwalts zurückschicken sollen, damit dieser über beide Straftatbestände zusammen entscheidet [...]. Die Tatsache, daß dieses Verfahren im Fall von Frau Oliveira nicht eingehalten wurde, ist jedoch im Hinblick auf die Einhaltung von Art 4 des 7. ZPMRK irrelevant, da diese Bestimmung es nicht ausschließt, daß getrennte Straftatbestände, selbst wenn sie sich auf ein einziges strafbares Verhaltens beziehen, von unterschiedlichen Gerichten verfolgt werden, insbesondere wenn, wie im vorliegenden Fall, die Strafen nicht kumulativ verhängt werden, sondern die geringfügigere Strafe von der schwereren absorbiert wird.

28. Der vorliegende Fall ist daher anders zu behandeln als der Fall Gradinger gg Österreich (...) in dem zwei unterschiedliche Gerichte zu miteinander nicht in Einklang zu bringenden Feststellungen über den Blutalkoholspiegel des Bf gelangten."

2.3. In Fortsetzung dieser Judikatur fand der EGMR im Fall Franz Fischer (EGMR , Appl. 37.950/97, ÖJZ 2001, 657), in dem der Beschwerdeführer, nachdem er im alkoholisierten Zustand ein Fahrzeug gelenkt, eine Radfahrerin niedergefahren und diese tödlich verletzt und sodann Fahrerflucht begangen hatte, sowohl wegen Verletzung des § 5 Abs 1 iVm § 99 Abs 1 lita StVO durch die Verwaltungsbehörde als auch nach § 81 Abs 2 StGB gerichtlich bestraft wurde, eine Verletzung des Art 4 7. ZPEMRK. Er führte dazu aus:

"28. Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer zuerst von der Verwaltungsbehörde wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss gemäß § 5 Abs 1 und § 99 Abs 1 lita StVO bestraft. Im nachfolgenden Strafverfahren wurde er wegen fahrlässiger Tötung mit der besonderen Qualifikation nach § 81 Abs 2 StGB 'sich in einen Rauschzustand [versetzt zu haben]' verurteilt. Der Gerichtshof merkt an, dass es zwei Unterschiede zwischen dem Fall Gradinger und dem vorliegenden Fall gibt: Die Verfahren wurden in umgekehrter Reihenfolge geführt, und es gab keine Inkonsistenz zwischen der Sachverhaltsbeurteilung der Verwaltungsbehörden und der Strafgerichte, da beide befanden, dass der Beschwerdeführer einen Blutalkoholgehalt von über 0,8 g/l hatte.

29. Der Gerichtshof erachtet jedoch, dass diese Unterschiede nicht entscheidend sind. Wie bereits oben gesagt, betrifft die Frage, ob der Grundsatz des non bis in idem verletzt ist, die Verwandtschaft zwischen den beiden in Rede stehenden strafbaren Handlungen und kann daher nicht von der Reihenfolge abhängen, in welcher die betreffenden Verfahren geführt werden. Was den Umstand anlangt, dass Herr Gradinger von der besonderen Qualifikation nach § 81 Z 2 StGB freigesprochen ('was aquitted of the special element under Art 81 § 2 of the criminal code') aber wegen alkoholisierten Fahrens schuldig gesprochen wurde, während der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall wegen beider strafbarer Handlungen schuldig erkannt wurde, wiederholt der Gerichtshof, dass Art 4 7. ZPMRK sich nicht auf das Recht beschränkt, nicht zweimal bestraft zu werden, sondern auch auf das Recht bezieht, nicht zweimal vor Gericht gestellt zu werden. Was im vorliegenden Fall entscheidend ist, ist, dass der Beschwerdeführer auf der Grundlage einer Handlung ('on the basis of one act') zweimal vor Gericht gestellt und bestraft wurde, da die Verwaltungsstraftat des alkoholisierten Fahrens nach § 5 Abs 1 und § 99 Abs 1 lita StVO und die besondere Qualifikation nach § 81 Z 2 StGB so wie sie von den Gerichten ausgelegt wird, sich in ihren wesentlichen Elementen nicht unterscheiden ('do not differ in their essential elements').

30. Der Gerichtshof ist nicht überzeugt von der Argumentation der Regierung, dass der Fall im Hinblick auf die Herabsetzung der über den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsstrafe um einen Monat (somit um das Äquivalent gegenüber der Geldstrafe, welche im Verwaltungsverfahren bezahlt wurde), einer Lösung zugeführt wurde. Die Herabsetzung der Freiheitsstrafe kraft des Gnadenrechts des Bundespräsidenten vermag die oben getroffene Feststellung nicht zu ändern, dass der Beschwerdeführer für die im Wesentlichen gleiche Straftat zweimal vor Gericht gestellt wurde und auch nicht den Umstand, dass beide Verurteilungen aufrecht sind. (...).

31. Schließlich bemerkt der Gerichtshof, dass es in einem Fall wie dem vorliegenden dem Vertragsstaat frei bleibt, zu regeln, welche der beiden strafbaren Handlungen verfolgt werden soll. Er merkt weiters an, dass sich die Rechtslage in Österreich im Gefolge der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom [VfSlg. 14.696/1996] geändert hat, sodass heute die Verwaltungsübertretung des Fahrens unter Alkoholeinfluss gemäß § 5 Abs 1 und § 99 Abs 1 lita StVO nicht verfolgt wird, wenn der Sachverhalt auch die besondere Qualifikation der strafbaren Handlung nach § 81 Abs 2 StPO aufweist. Zur maßgeblichen Zeit jedoch wurde dem Beschwerdeführer wegen beider strafbarer Handlungen, die die gleichen Tatbestandsmerkmale enthielten der Prozess gemacht, und er wurde wegen beider Straftaten bestraft.

32. Es hat daher eine Verletzung des Art 4 7. ZP EMRK stattgefunden."

2.4. Diese Rechtsprechung hat in der Folge ihre Bestätigung gefunden, wobei der EGMR im Fall Bachmaier (es handelt sich um das Verfahren, welches VfSlg. 15.821/2000 zu Grunde lag, siehe unten Pkt. 3.2.) ausdrücklich feststellte, dass der Erschwerungsgrund der Trunkenheit am Steuer nur in einem von zwei Verfahren geprüft worden ist (EGMR , Appl. 77.413/01, ÖJZ 2005, 358).

Auch im Fall Hauser Sporn (EGMR , Appl. 37.301/03, ÖJZ 2007, 511) entschied der EGMR im gleichen Sinn, indem er von strafbaren Handlungen ausging, die in ihren "wesentlichen Elementen" verschieden waren, und annahm, dass sich die strafbare Handlung des Imstichlassens eines Verletzten und die strafbare Handlung des Unterlassens der Information der Polizei über einen Unfall verschiedene Akte und Unterlassungen betrafen.

2.5. Schließlich fand der EGMR im Fall Zolotukhin (EGMR [GK], Appl. 14.939/03, newsletter 2009, 37 ff.) eine Verletzung des Art 4 des 7. ZPEMRK darin, dass der Beschwerdeführer wegen Beleidigungen von Polizeibeamten sowohl mit einer Verwaltungsstrafe als auch nach dem Strafgesetzbuch wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt bestraft wurde. In einer ausführlichen Schilderung der bisherigen Rechtsprechung machte der EGMR zunächst drei verschiedene Ansätze hinsichtlich der Frage des Vorliegens einer Bestrafung wegen "derselben strafbaren Handlung" aus:

"71. Der erste Ansatz, der sich auf 'dasselbe Verhalten' des Beschwerdeführers unabhängig von der rechtlichen Qualifikation des Verhaltens (idem factum) bezog, wurde im Gradinger Urteil deutlich. In diesem Fall wurde Herr Gradinger sowohl wegen fahrlässiger Tötung durch ein Strafgericht verurteilt als auch verwaltungsbehördlich für das Lenken eines Fahrzeugs unter Alkoholeinfluss bestraft. Der Gerichtshof stellte fest, dass ungeachtet des Umstandes, dass die Bezeichnung, Art und Zweck der zwei strafbaren Handlungen unterschiedlich waren, eine Verletzung von Art 4 des 7. ZPEMRK insofern stattgefunden hat, als beide Entscheidungen auf dasselbe Verhalten des Beschwerdeführers bezogen waren (s. Gradinger [...] Z 55).

72. Der zweite Ansatz geht ebenfalls von der Prämisse aus, dass das Verhalten des Beschwerdeführers, das die Verfolgung auslöste, dasselbe war, stellt aber fest, dass dasselbe Verhalten verschiedene strafbare Handlungen bilden könne (Idealkonkurrenz), die in verschiedenen Verfahren verfolgt werden dürften. Dieser Ansatz wurde vom Gerichtshof im Fall Oliveira (...) entwickelt, indem die Beschwerdeführerin zunächst verurteilt wurde, weil sie die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren und in der Folge eine fahrlässige Körperverletzung begangen hatte. Ihr Auto war auf die andere Seite der Straße geschlittert, mit einem anderen Auto zusammengestoßen, sodann mit einem weiteren, dessen Lenker schwere Verletzungen erlitten hatte. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Fakten des Falles ein typisches Beispiel einer einzigen Handlung waren, die mehrere strafbare Handlungen darstellten, während Art 4 des 7. ZPEMRK nur verbietet, dass Menschen zweimal wegen derselben strafbaren Handlung verurteilt werden. Nach Auffassung des Gerichtshofes wäre es zwar im größeren Einklang mit dem Grundsatz einer geordneten Rechtspflege gestanden, wenn die Bestrafung im Bezug auf beide Straftatbestände vom selben Gericht in einem einzigen Verfahren vorgenommen worden wäre; der Umstand, dass zwei Verfahren in diesem Fall stattgefunden hätten, wäre aber nicht entscheidend. Der Umstand, dass getrennte Straftatbestände, selbst wenn sie sich auf ein einziges strafbares Verhalten bezogen, von unterschiedlichen Gerichten verfolgt wurden, stellte keine Verletzung von Art 4 des

7. ZPEMRK dar, insbesondere dann, wenn die Strafen nicht kumulativ verhängt werden (s. Oliveira, [...], Z 25-29). Im folgenden Fall Göktan stellte das Gericht ebenfalls fest, dass keine Verletzung von Art 4 des 7. ZPEMRK stattgefunden habe, weil dasselbe strafbare Verhalten, für das der Beschwerdeführer verurteilt wurde, zwei strafbare Handlungen bildete: Einmal das Verbrechen des Handels mit illegal eingeführten Drogen und einmal ein Zollvergehen für das Unterlassen der Zahlung einer Zollstrafe (s. Göktan, [...] Z 50). Dieser Ansatz wurde auch in den Fällen Gauthier gegen Frankreich (...) und Ongun gegen Türkei (...) bestätigt.

73. Der dritte Ansatz legt die Betonung auf die 'wesentlichen Bestandteile' ('essential elements') der beiden strafbaren Handlungen. Im Fall Franz Fischer gegen Österreich (...) bestätigte der EGMR, dass Art 4 7. ZPEMRK die Verfolgung verschiedener strafbarer Handlungen erlaubt, die sich aus einer einzigen Handlung begründen ('concours ideal d´infractions'). Da es jedoch mit dieser Bestimmung unvereinbar wäre, wenn ein Beschwerdeführer zweimal für strafbare Handlungen verurteilt oder verfolgt werden könnte, die sich nur in ihrer Bezeichnung unterscheiden ('nominally different'), entschied der EGMR, dass zusätzlich geprüft werden müsse, ob diese Straftatbestände die gleichen wesentlichen Elemente ('essential elements') haben oder nicht. Im Fall Fischer beinhaltet die Verwaltungsübertretung des Fahrens unter Alkoholeinfluss und die strafrechtliche Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung mit der besonderen Qualifikation des 'sich in einen Rauschzustand versetzt zu haben' die 'gleichen wesentlichen Elemente'; der EGMR entschied auf eine Verletzung des Art 4 7. ZPEMRK. Der EGMR wies darauf hin, dass im Falle einer nur leichten Überschneidung der beiden verfolgten Straftaten kein Anlass bestanden hätte, den Beschwerdeführer nicht wegen beider Straftaten zu verfolgen. Den gleichen Ansatz vertrat der

EGMR in den Fällen W.F. gegen Österreich ... und Sailer gegen

Österreich ..., die beide auf ähnlichen Umständen basieren."

Der EGMR vermeinte sodann, dass eine Mehrzahl von verschiedenen Ansätzen vorläge, die es zu harmonisieren gelte. Er begründete dies wie folgt:

"78. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass der Bestand einer Vielfalt von Ansätzen zur Beurteilung der Frage, ob die strafbare Handlung, deretwegen ein Beschwerdeführer verfolgt wurde, tatsächlich dieselbe ist wie jene, für die er bereits rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, eine Rechtsunsicherheit verursacht, die mit einem Grundrecht - namentlich mit dem Recht, nicht zweimal für dieselbe strafbare Handlung verurteilt zu werden - unvereinbar ist. Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof nun aufgerufen, eine harmonisierte Auslegung des Begriffs der 'selben strafbaren Handlung' - das idem Element des ne bis in idem-Prinzips - für die Zwecke des Art 4 des 7. ZPEMRK zu liefern. Während es im Interesse der Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Gleichheit vor dem Gesetz ist, dass der Gerichtshof nicht ohne gute Gründe von Vorentscheidungen in früheren Fällen abgehen soll, würde ein Versäumnis des Gerichtshofes in der Aufrechterhaltung eines dynamischen und evolutiven Ansatzes riskieren, dass er eine Schranke für Erneuerung oder Verbesserung bilden könnte (s. Vilho Eskelinen u. a. gegen Finnland [GK] Nr. 63.235/00, Z 56 ...).

79. Eine Analyse der internationalen Instrumente, die das ne bis in idem-Prinzip in der einen oder anderen Form enthalten, zeigt, dass es in eine Vielfalt von Begriffen gekleidet ist. So beziehen sich Art 4 des 7. ZPEMRK, Art 14 Abs 7 UN-Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte und Art 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die '[selbe] strafbare Handlung' ('[same] offence', '[meme] infraction'), die Amerikanische Konvention für Menschenrechte spricht von der 'selben Strafsache' ('same cause', '[memes] faits'), das Schengener Durchführungsübereinkommen verbietet Verfolgung für die 'selbe Tat' ('same acts', '[memes] faits'), und das Statut des internationalen Strafgerichtshofes verwendet den Begriff '[selbes] Verhalten' ('[same] conduct', '[memes] actes constitutifs'). Der Unterschied zwischen den Begriffen 'selbe Tat' oder 'selbe Strafsache' (memes faits) auf der einen Seite und dem Begriff '[selbe] strafbare Handlung' ('[meme] infraction') auf der anderen Seite hielten der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte für ein wichtiges Element zugunsten der Annahme eines Ansatzes, der strikt auf der Identität derselben materiellen Handlungen gegründet ist und die rechtliche Qualifikation dieser Akte als irrelevant erachtet. Indem sie zu diesem Ergebnis gelangten, betonten beide Gerichtshöfe, dass ein solcher Ansatz den Straftäter begünstigen würde, der wisse, dass er keine weitere Verfolgung für dieselbe Handlung befürchten müsse, sobald er für schuldig befunden wurde und seine Strafe verbüßt habe oder aber freigesprochen wurde. ...

80. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Verwendung des Wortes 'strafbare Handlung' ('offence') im Text des Art 4 des

7. ZPEMRK nicht rechtfertigen kann, einen restriktiveren Ansatz zu verfolgen. Er wiederholt, dass die Konvention in einer Weise ausgelegt und angewendet werden müsse, welche ihre Rechte praktisch und effektiv, nicht theoretisch und illusorisch machen. Sie ist ein lebendiges Instrument ('living instrument'), das im Lichte der heutigen Bedingungen ausgelegt werden muss (...). Die Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrages wie jene der Konvention müssen im Lichte ihres Ziels und Zwecks und auch in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Effektivität gedeutet werden. ...

81. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Ansatz, der die rechtliche Qualifikation von zwei strafbaren Handlungen betont, zu restriktiv für die Rechte des Einzelnen ist, weil der Gerichtshof riskiert, die in Art 4 des 7. ZPEMRK enthaltene Garantie zu untergraben, wenn er sich darauf beschränkt festzustellen, dass die Person wegen strafbarer Handlungen verfolgt wurde, die eine unterschiedliche rechtliche Qualifikation hätten, statt diese praktisch und effektiv werden zu lassen, wie es die Konvention fordert. ...

82. Daher ist der Gerichtshof der Ansicht, dass Art 4 des

7. ZPEMRK in dem Sinn verstanden werden muss, dass er die Verfolgung oder Bestrafung einer zweiten 'strafbaren Handlung' ('offence') verbietet, sofern es aus denselben Sachverhaltselementen oder aus Sachverhaltselementen, die im Wesentlichen dieselben sind, folgt.

83. Die in Art 4 des 7. ZPEMRK enthaltene Garantie wird mit dem Beginn einer neuen Verfolgung schlagend, wenn ein vorangegangener Freispruch oder eine vorangegangene Verurteilung bereits rechtskräftig geworden ist. An diesem Schnittpunkt wird das verfügbare Material notwendigerweise die Entscheidung enthalten, durch die das erste 'Strafverfahren' abgeschlossen wurde sowie die Liste der Beschuldigungen, die gegen den Beschwerdeführer im neuen Verfahren erhoben werden. Normalerweise werden diese Unterlagen eine Sachverhaltsschilderung enthalten, sowohl in Bezug auf die strafbare Handlung, für die der Beschwerdeführer bereits verfolgt wurde, als auch in Bezug auf die strafbare Handlung, für die er angeklagt wird. Nach Ansicht des Gerichtshofes sind solche Sachverhaltsschilderungen ein geeigneter Ausgangspunkt für die Beurteilung der Frage, ob die Sachverhaltselemente in beiden Verfahren identisch oder im Wesentlichen dieselben waren. Der Gerichtshof betont, dass irrelevant ist, welche Teile der neuen Beschuldigungen am Ende aufrechterhalten oder verworfen werden, weil Art 4 des 7. ZPEMRK eine Garantie dagegen enthält, dass jemand in einem neuen Verfahren neuerlich verfolgt wird oder einer Verfolgung unterliegt, und nicht ein Verbot einer zweiten Verurteilung oder eines zweiten Freispruchs. ..."

3. Der Verfassungsgerichtshof ist der Rechtsprechung des EGMR - zunächst mit einer gewissen Reserve, dann in völliger Übereinstimmung - gefolgt:

3.1. Im Erkenntnis VfSlg. 14.696/1996 führte der Verfassungsgerichtshof aus:

"Die von den unabhängigen Verwaltungssenaten und dem Verwaltungsgerichtshof angegriffenen Bestimmungen der §§22 und 30 VStG sowie §§99 Abs 1 lita und Abs 6 litc StVO 1960 können daher nicht als Gesetze angesehen werden, deren innerstaatliche Weitergeltung gemäß Art 64 Abs 1 EMRK völker- und verfassungsrechtlich vorbehalten sind, mögen sie auch mit Art 4 des 7. ZPEMRK nicht übereinstimmen.

Die angefochtenen Gesetzesvorschriften - mit Ausnahme des § 99 Abs 6 litc StVO 1960 (vgl. unten 2.4.) - widersprechen gleichwohl dem Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK, wie auch von der Bundesregierung in ihren Äußerungen und in der Literatur (Kucsko-Stadlmayer, Das 'Gradinger-Urteil' des EGMR, ecolex 1996, 50 ff.) überzeugend dargetan wird, nicht.

Die Vorschriften der §§22 und 30 VStG widersprechen schon deswegen dem Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art 4 Abs 1 des

7. ZPEMRK nicht, weil § 22 VStG lediglich die Strafbemessung im Sinne des Kumulationsprinzips regelt (vgl. Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts, 6. Aufl. 1995, 819 ff.), wenn jemand mehrere Verwaltungsübertretungen begangen hat, und weil § 30 Abs 1 VStG für diesen Fall die verwaltungsstrafverfahrensrechtliche Regel (Walter-Mayer, aaO, 863 ff.) aufstellt, dass die strafbaren Handlungen unabhängig voneinander zu verfolgen sind. Wie aber insbesondere die Abs 2 bis 4 des § 30 VStG über die Strafverfolgung bei subsidiär zu ahndenden Verwaltungsübertretungen zeigen, ist es dem Gesetzgeber unabhängig von § 22 und § 30 Abs 1 VStG im Zuge der Anordnung der einzelnen Verwaltungs- und gerichtlich zu ahndenden Straftatbestände anheimgegeben, darüber zu entscheiden, in welchem Verhältnis die einzelnen Straftatbestände zueinander stehen; ob insbesondere dann, wenn eine Person durch eine Tat mehrere Tatbilder verwirklicht hat, die einzelnen Delikte im Sinne einer so genannten Scheinkonkurrenz einander ausschließen, weil das eine Delikt den Rechtsgüterschutz eines anderen (an sich tatbildmäßig ebenfalls erfüllten) Delikts mitumfaßt und damit wegen des zwischen den Straftatbeständen bestehenden Verhältnisses der Spezialität, Subsidiarität oder Konsumtion nur die Verwirklichung eines Delikts zu bestrafen ist. Mit anderen Worten: Ob bei eintätigem Zusammentreffen mehrerer Delikte diese insgesamt zu verfolgen sind oder die Bestrafung nach einem Straftatbestand die Bestrafung nach einem anderen ausschließt (- weil dieser in Bezug auf jenen nur subsidiär anzuwenden ist, der eine den anderen konsumiert oder der eine Tatbestand einen jenen anderen ausschließenden speziellen Charakter besitzt -), ist den gesetzlichen Regelungen der materiellen Strafbestimmungen zu entnehmen, nicht jedoch den §§22 und 30 Abs 1 VStG. Diese setzen vielmehr die gesetzliche Anordnung miteinander konkurrierender und daher nebeneinander zu ahndender Straftatbestände schon voraus und ordnen als Konsequenz die kumulative Verfolgung (in § 30 Abs 1 VStG) sowie die kumulative Bestrafung (in § 22 VStG) der mehreren Straftaten an.

Selbst wenn aber der Gesetzgeber dadurch von einer echten Konkurrenz von Delikten ausgeht, dass er durch eine Tat mehrere Delikte verwirklicht ansieht (Idealkonkurrenz), widerspricht eine derartige Regelung an sich noch nicht dem Doppelbestrafungsverbot des Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK. Die Bundesregierung führt zu Recht aus, der Standard aller europäischen Strafrechtssysteme zeige, dass auch bei eintätigem Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen mehrere Delikte anzunehmen sind, also davon auszugehen ist, dass ein Täter durch ein und dieselbe Handlung oder Unterlassung mehrere Delikte verwirklichen kann, ohne dass gegen das Doppelbestrafungsverbot verstoßen wird. Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK gebietet in diesem Fall auch nicht, daß lediglich ein einziges Rechtsschutzorgan für die Ahndung aller in Tateinheit zu verfolgender Delikte zuständig ist.

Die verfassungsrechtliche Grenze, die Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK einer Doppel- oder Mehrfachbestrafung zieht, kann daher nur darin liegen, dass eine Strafdrohung oder Strafverfolgung wegen einer strafbaren Handlung dann unzulässig ist, wenn sie bereits Gegenstand eines Strafverfahrens war; dies ist der Fall, wenn der herangezogene Deliktstypus den Unrechts- und Schuldgehalt eines Täterverhaltens vollständig erschöpft, sodass ein weitergehendes Strafbedürfnis entfällt, weil das eine Delikt den Unrechtsgehalt des anderen Delikts in jeder Beziehung mitumfasst (Kienapfel, Grundriss des österreichischen Strafrechts, 6. Aufl., 1996, 245). Die Bundesregierung ist im Recht, wenn sie die diesbezügliche Bedeutung des Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK in der verfassungsrechtlichen Absicherung 'der die Lehre von der Scheinkonkurrenz tragenden Grundsätze' sieht. Strafverfolgungen bzw. Verurteilungen wegen mehrerer Delikte, die auf Straftatbeständen fußen, die einander wegen wechselseitiger Subsidiarität, Spezialität oder Konsumtion jedenfalls bei eintätigem Zusammentreffen ausschließen, bilden verfassungswidrige Doppelbestrafungen, wenn und weil dadurch ein- und dieselbe strafbare Handlung strafrechtlich mehrfach geahndet wird. (Vgl. zur Annahme bloßer Scheinkonkurrenzen, um dem Vorwurf der Doppelbestrafung zu entgehen, OGH - verst. Senat - , 14 Os 127/90 = RZ 1993/47, unter Berufung auf Burgstaller, Die Scheinkonkurrenz im Strafrecht, JBl. 1978, S 393 ff., 459 ff.).

Auch die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zeigt die Notwendigkeit, unabhängig vom Kumulationsprinzip gemäß § 22 VStG eine nur scheinbare Konkurrenz von Delikten dann anzunehmen,

'wenn die wertabwägende Auslegung der formal [durch eine Handlung oder durch mehrere Handlungen] erfüllten zwei Tatbestände zeigt, dass durch die Unterstellung der Tat[en] unter den einen der deliktische Gesamtunwert des zu beurteilenden Sachverhaltes bereits für sich allein abgegolten ist. Voraussetzung ist, dass durch die Bestrafung wegen des einen Deliktes tatsächlich der gesamte Unrechtsgehalt des Täterverhaltens erfasst wird.' (So /0144; , Z 88/03/0080; , Z 89/02/0038; , Z 90/10/0052; , Z 93/18/0240, vgl. auch , Z 86/09/0153. Vgl. auch Hauer-Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Aufl., 1996, 867, sowie 871 und die dort unter den Z 15 ff. zitierten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes).

2.4. Während die Fälle der Scheinkonkurrenz von Delikten wegen Spezialität, Konsumtion oder stillschweigender Subsidiarität zweier oder mehrerer Tatbestände im wesentlichen im Wege der Auslegung und Anwendung der verschiedenen Straftatbestände festzustellen sind und dabei auch das verfassungsrechtliche Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK im Wege verfassungskonformer Auslegung der einzelnen gesetzlichen Straftatbestände zum Tragen kommt, ist der Gesetzgeber, der ausdrücklich die Subsidiarität eines Straftatbestandes gegenüber einem anderen anordnet bzw. ausschließt, von Verfassungs wegen verhalten, dabei das Verbot der Doppelbestrafung nach Art 4 Abs 1 des

7. ZPEMRK zu beachten. Wie auch das bereits zitierte Urteil des EGMR vom zeigt, widerspricht eine gesetzliche Strafdrohung dann dem Art 4 des 7. ZPEMRK, wenn sie den wesentlichen Gesichtspunkt ('aspect') eines Straftatbestandes, der bereits Teil eines von den Strafgerichten zu ahndenden Straftatbestandes ist, neuerlich einer Beurteilung und Bestrafung durch die Verwaltungsbehörden unterwirft.

§ 99 Abs 1 lita StVO 1960 ordnet die Bestrafung als Verwaltungsübertretung an, wenn jemand 'in einem durch Alkohol ... beeinträchtigten Zustand ein Fahrzeug lenkt oder in Betrieb nimmt'.

§99 Abs 6 litc StVO 1960 lässt mangels ausdrücklicher Erwähnung dieser im Abs 1 des § 99 StVO 1960 geregelten Verwaltungsübertretung erkennen, dass die nach § 99 Abs 1 lita StVO 1960 bezeichnete Tat auch dann als Verwaltungsübertretung zu ahnden ist, wenn dadurch der 'Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung verwirklicht' wird. Mit Rücksicht auf § 81 Z 2 StGB in seiner Auslegung durch die ständige Judikatur und die maßgebliche Literatur bildet das Lenken eines Kraftfahrzeuges in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand auch in zahlreichen, vom Strafgericht zu ahndenden Deliktsfällen ein bedeutsames tatbestandliches Qualifikationskriterium und damit einen wesentlichen Gesichtspunkt im Sinne des zitierten Urteils des EGMR. Durch den ausdrücklichen Ausschluss einer gegenüber strafgerichtlichen Verfolgung nur subsidiären verwaltungsstrafrechtlichen Verantwortung nach § 99 Abs 1 lita StVO 1960 hat der Gesetzgeber im Ergebnis eine dem Art 4 Abs 1 des

7. ZPEMRK zuwiderlaufende und daher verfassungswidrige Doppelbestrafung angeordnet."

3.2. Seither wurde diese Rechtsprechung in zahlreichen Erkenntnissen fortgeführt (vgl. etwa VfSlg. 15.824/2000 mwH) und in der übereinstimmenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa ; , 2004/07/0105; , 2007/02/0268) übernommen, sodass auch Rechtssicherheit über die (eingeschränkte) Reichweite des Kumulationsprinzips entstehen konnte. In VfSlg. 15.821/2000 führte der Verfassungsgerichtshof aus, dass bei eintätigem Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen ein Absehen von der Verfolgung und Bestrafung im Hinblick auf Art 4 7. ZPEMRK nur dann geboten ist, wenn der Unrechts- und Schuldgehalt des einen herangezogenen Deliktstypus den Unrechts- und Schuldgehalt des anderen Deliktstypus im wesentlichen Aspekt mitumfasst und vollständig erschöpft, sodass kein weiteres Strafbedürfnis übrig bleibt. Vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Umständen wurde der Beschwerdeführer freigesprochen, weil das Strafgericht es nicht als erwiesen angesehen hat, dass er die fahrlässige Tötung wirklich begangen hat. Ob er ein Fahrzeug im alkoholisierten Zustand gelenkt hatte, war im Hinblick auf das Verfahrensergebnis für das Strafgericht nicht mehr von Bedeutung. Der Unrechts- und Schuldgehalt der Verwaltungsübertretung nach § 5 Abs 1 iVm § 99 Abs 1 lita StVO war daher durch das gerichtliche Strafverfahren wegen § 81 Z 2 StGB nicht vollständig erschöpft und es bestand hinsichtlich dieser Übertretung ein weitergehendes Strafbedürfnis.

Der EGMR hat diese Entscheidung bestätigt (vgl. EGMR , Fall Bachmaier, Appl. 77.413/01, ÖJZ 2005, 358) und ist dieser Rechtsprechung auch in weiterer Folge in einer Reihe von Urteilen und Entscheidungen gefolgt (siehe oben Pkt. III.2.4.).

4. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich - angesichts des jüngsten Urteils des EGMR im Fall Zolotukhin - veranlasst, sich einerseits der Grundlinien seiner Rechtsprechung im Interesse der Kohärenz derselben zu vergewissern und sie andererseits im Lichte der vom EGMR genannten Ziele im Interesse größtmöglichen Grundrechtsschutzes an die Dynamik dieser Rechtsprechung im Rahmen seiner Entscheidungsbefugnisse anzupassen. Der Verfassungsgerichtshof folgt dabei insbesondere der Einschätzung des EGMR, dass eine Kontinuität in der Rechtsprechung im Interesse der Rechtssicherheit, der Vorhersehbarkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz gelegen ist.

4.1. Maßgeblicher Grund für die Fortentwicklung der Rechtsprechung im Fall Zolotukhin war für den EGMR, dass nach seiner Auffassung ein mit dem Grundrecht unvereinbarer Zustand der Rechtsunsicherheit durch die Rechtsprechung entstanden ist. Um festzustellen, ob diese - für das im Fall Zolotukhin maßgebliche russische Recht möglicherweise gegebene - Voraussetzung auch im österreichischen Recht vorliegt, hat der Verfassungsgerichtshof daher zu prüfen, ob auch für das österreichische Verfassungsrecht einschließlich der EMRK und ihrer Protokolle, das den Prüfungsmaßstab für seine Entscheidungen bildet, eine Vielfalt von Ansätzen hinsichtlich des Vorliegens der Identität strafbarer Handlungen gegeben ist, die einen Zustand von Rechtsunsicherheit herbeiführt, der unvereinbar mit einem Grundrecht ist (EGMR [GK], Fall Zolotukhin, Appl. 14.939/03, Z 78).

4.2. In diesem Zusammenhang erblickt der Verfassungsgerichtshof sowohl in seiner eigenen, vom EGMR maßgeblich bestimmten und beeinflussten Rechtsprechung als auch in jener des EGMR seit dem Urteil im Fall Oliveira in der Vielzahl von Entscheidungen weniger eine Vielfalt von Ansätzen, als vielmehr eine allen Entscheidungen zu Grunde liegende Annahme, nämlich dass es bei der Frage des Vorliegens "derselben strafbaren Handlung" auf die Straftatbestände und nicht auf das tatsächliche Verhalten ankommt:

Selbst die vom Verfassungsgerichtshof zuletzt in ständiger Rechtsprechung rezipierte Judikaturlinie des EGMR, die im Fall Franz Fischer begründet wurde ("third approach"), bildet keinen isolierten Ansatz unter vielen, sondern ist der Sache nach die Fortführung der im Fall Oliveira begründeten Abkehr von der Rechtsprechung im Fall Gradinger. Der EGMR selbst fasste seine Rechtsprechung in der Zulässigkeitsentscheidung im Fall Asci (EGMR , Appl. 4483/02) dahingehend zusammen, dass es Ziel der Bestimmung sei, die Wiederholung von Strafverfahren zu verhindern, die bereits durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossen sind, und dass nach dem Vorliegen von "selben wesentlichen Elementen" zu fragen ist.

Diese "same-essential-elements"-Doktrin, die der Verfassungsgerichtshof der Sache nach bereits seit dem Erkenntnis VfSlg. 14.696/1996 seiner Rechtsprechung zugrunde legt und mit der Lehre von den Scheinkonkurrenzen und dem verwaltungsstrafrechtlichen Kumulationsprinzip harmonisiert hat, wurde vom EGMR in der Folge verfeinert und ausdifferenziert (EGMR [GK], Fall Zolotukhin, Appl. 14.939/03, Z 74 bis 77), sodass für den Verfassungsgerichtshof eine zunehmend breitere Basis der Rechtssicherheit entstand, die es ihm erlaubte, die Rechtsprechung des EGMR in einer Weise zu berücksichtigen und in das österreichische Rechtssystem einzupassen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Staatsorganisationsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung und damit dem Grundprinzip der Gewaltenteilung entsprach. Demgemäß war es sowohl dem Verfassungsgerichtshof als auch dem Verwaltungsgerichtshof in jahrelanger einheitlicher Rechtsprechung ohne weiteres möglich, der Rechtsprechung des EGMR zu folgen, ohne je Bedenken aus dem Grund rechtsstaatlicher Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit auf Grund von Art 7 EMRK oder Art 18 B-VG zu haben (zB ).

4.3. Vor diesem Hintergrund hat sich der Verfassungsgerichtshof die Frage vorzulegen, ob er zu einer Auslegung des Art 4 7. ZPEMRK gelangen kann, die einerseits im Einklang mit den Regeln der Auslegung völkerrechtlicher Verträge und verfassungsrechtlicher Grundrechte steht (dazu Pkt. III.4.4.) und anderseits sowohl die Rechtsprechung des EGMR - in ihrer Gesamtheit seit dem Jahr 1995 bis zur Entscheidung der Großen Kammer vom im Fall Zolotukhin - berücksichtigt als auch die vom EGMR betonten Ziele der Rechtssicherheit sowie der Effektivität und Dynamik der Konventionsrechte wahrt.

4.4. Nach Art 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ist ein völkerrechtlicher Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen im Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zwecks auszulegen.

4.4.1. Hinsichtlich des Wortlauts ("gewöhnliche Bedeutung" der Bestimmungen) ist zu beachten, dass der Wortlaut der beiden authentischen englischen und französischen Fassungen maßgeblich ist (vgl. Schlussklausel des 7. ZPEMRK). Der Begriff der "offence" bzw. "infraction" bildet daher den Ausgangspunkt für die Auslegung. Bei der Ermittlung der gewöhnlichen Bedeutung der Wortfolge "offence for which he has already been finally acquitted or convicted ...", die in einem im Jahr 1988 zur Ratifikation aufgelegten Protokoll eingefügt wurde, ist der Charakter einer (zusätzlichen) strafrechtlichen Grundrechtsgarantie zu beachten.

Art 7 EMRK enthält das (historisch und systematisch) verwandte strafrechtliche Rückwirkungsverbot. Der Schutzbereich wird auch dort mit dem Begriff der "(criminal) offence" umschrieben. Auch ist auf andere internationale Dokumente des Menschenrechtsschutzes hinzuweisen, die Anhaltspunkte für die Auslegung liefern können, dies zumal dann, wenn ein Großteil der Mitgliedstaaten der EMRK auch Partei eines Vertrags mit vergleichbarem Wortlaut ist (vgl. nur die Bezugnahme des EGMR im Fall Pellegrin, EGMR [GK], Appl. 28.541/95, ÖJZ 2000, 695, Z 37 ff., 66, auf Art 39 EGV; oder im Fall Jersild, EGMR [GK], Z 36/1993/431/510, ÖJZ 1995, 227, Z 21 ff., 31 auf völkerrechtliche Instrumente im Rahmen der Vereinten Nationen gegen rassische Diskriminierung). Während die europäischen und universellen Menschenrechtsgarantien (Art14 Abs 7 des UN-Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte, Art 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) den gleichlautenden Begriff "offence" aufweisen, findet sich in Art 54 Schengener Durchführungsübereinkommen ("acts", "Taten"), in Art 20 Abs 1 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes ("crimes") und in Art 8 Abs 4 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention ("cause") ein Wortlaut, der auf die "Straftaten" Bezug nimmt.

Wie der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften festgestellt hat, ist der Unterschied im Wortlaut zwischen Art 54 Schengener Durchführungsübereinkommen und Art 4 7. ZPEMRK für die Auslegung erheblich. Während der EuGH angesichts eines auf die "Tat" Bezug nehmenden Wortlauts (und der zwischenstaatlichen Wirkung) gerade unter Hinweis auf den Wortlaut zu einem weiteren Anwendungsbereich des Doppelbestrafungsverbots kommen musste (, Van Esbroeck, Slg. 2006, I-2333 [Z36]), ist umgekehrt bei der Auslegung des Art 4 7. ZPEMRK die engere, auf die rechtliche Qualifikation der Tat Bezug nehmende Deutung zugrunde zu legen (Thienel/Hauenschild, Verfassungsrechtliches "ne bis in idem" und seine Auswirkung auf das Verhältnis von Justiz- und Verwaltungsstrafverfahren, JBl 2004, 69 [72]).

4.4.2. Die historische Interpretation des Art 4 7. ZPEMRK bestätigt dieses Ergebnis. Sie hat zu berücksichtigen, dass die Entstehungsgeschichte des 7. Zusatzprotokolls von jener der Menschenrechtskonvention selbst abweicht.

Aus den "travaux preparatoires" (siehe oben III. 1.1.) wird zum einen deutlich, dass (alleine) Art 14 Abs 7 des UN-Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte, nicht aber ein späteres Menschenrechtsdokument, ein Abkommen im Rahmen des Europarates oder der Europäischen Union mit anderem Wortlaut das Vorbild der EMRK-Garantie bildet ("travaux preparatoires" Z 1, 27). Zum anderen kommt in den "travaux preparatoires" zum Ausdruck, dass die Konventionsgarantie des Art 4 7. ZPEMRK konkurrierende Zuständigkeiten und Verfolgungen jenseits des Strafrechts im engeren Sinn nicht ausschließen soll, wie die ausdrückliche Erwähnung des Strafrechts und die Bezugnahme auf das Disziplinarrecht zeigen (Z28, 32), das jedenfalls teilweise auch unter Art 6 EMRK und damit zu den Strafverfahren im Sinne der Terminologie der Rechte der EMRK fällt.

Die Erklärung Österreichs nimmt die Entstehungsgeschichte im Rahmen des Europarates auf und präzisiert die "travaux preparatoires". Sie bringt - zwar nur mittelbar, aber doch hinreichend deutlich - zum Ausdruck, dass die Bundesregierung von der Zulässigkeit der Mehrfachverfolgung einer Tat nach verschiedenen - nicht bloß in Scheinkonkurrenz zueinander stehenden - Delikten ausging, war nach dem Stand der Rechtsprechung des EGMR doch bereits erkennbar, dass das Verwaltungsstrafrecht unter den Strafrechtsbegriff der Art 6 und 7 EMRK fällt. Sie macht deutlich - wie der Verfassungsgerichtshof sinngemäß auch zu Art 6 EMRK und den Anforderungen an Verfahren über civil rights festgestellt hat (VfSlg. 11.500/1987) -, dass die an der Ratifikation beteiligten Organe von einer grundsätzlichen Vereinbarkeit des bestehenden Systems des Nebeneinander von Strafrecht und Verwaltungsstrafrecht ausgegangen sind. Andernfalls wären Bundesregierung und Nationalrat im Jahr 1988 (BGBl. 628/1988) - bereits in Kenntnis der strengen Judikatur zu Art 57 EMRK (RV 900 BlgNR 16. GP, Fall Belilos, EGMR , Z 20/1986/118/167, EuGRZ 1989, 21) - gezwungen gewesen, einen den Anforderungen dieser Konventionsbestimmungen genügenden Vorbehalt zu erklären oder aber die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, die ein Nebeneinander von verschiedenen Verfahrensarten ermöglichen.

Die Erklärung ist nach Gegenstand und Umfang nur sinnvoll, wenn das Nebeneinander von (durch Verwaltungsbehörden zu vollziehendem) Disziplinarrecht bzw. Verwaltungsstrafrecht einerseits und (gerichtlichem) Strafrecht andererseits im Großen und Ganzen mit der Konvention in Einklang steht und keine ihrer Garantien einen vollständigen Umbau der österreichischen Staatsorganisation verlangt.

Hätten die österreichischen Organe angenommen, dass das Nebeneinander von Disziplinarrecht, Verwaltungsstrafrecht und gerichtlichem Strafrecht mit Art 4 7. ZPEMRK unvereinbar ist, so wäre - statt einer allgemeinen Erklärung - "entweder ein weiterer Vorbehalt erwogen oder aber die dann erforderliche Änderung der organisatorischen Bestimmungen der Verfassung wenigstens in Aussicht genommen worden." (So wörtlich zur vergleichbaren Situation hinsichtlich der Konsequenzen der Auslegung des Begriffs der "civil rights" in Art 6 EMRK, VfSlg. 11.500/1987).

4.5. Der Verfassungsgerichtshof hat bei der Auslegung des Art 4 7. ZPEMRK im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR auch Ziel und Zweck des Vertrags zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung von Ziel und Zweck eines völkerrechtlichen Vertrags findet ihre Grenzen im Text des Vertrages und darf nicht zur "Gesetzgebung" oder zur Abänderung eines Vertrages führen (Villiger, Vienna Convention on the Law of the Treaties, 428). Geht man davon aus, dass bereits die im Fall Franz Fischer begründete Rechtsprechung dem Ziel und Zweck der Konvention, insbesondere jenes eines effektiven Menschenrechtsschutzes (EGMR [GK], Fall Mamatkulov, Appl. 46.827/99 ua., EuGRZ 2005, 357, Z 123) Rechnung getragen hat, so wäre die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, die im Ergebnis darauf abstellt, ob der wesentliche Unrechtsgehalt erfasst ist, nur dann nicht im Einklang mit der Konvention, wenn sich die rechtlichen Rahmenbedingungen - und sei es durch die Rechtsprechung des EGMR - in einer Weise geändert hätten, dass diese nicht mehr (hinreichend) erreicht werden können. Ob dies der Fall ist und nach welchem Kriterium abzugrenzen ist, lässt sich nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes nicht für alle Mitgliedstaaten einheitlich beurteilen, sondern hängt maßgeblich von den Voraussetzungen des jeweiligen nationalen Rechts ab.

4.6. Ziel der Wahl einer "harmonisierten" Auslegung des Art 4

7. ZPEMRK durch den EGMR war vor diesem Hintergrund die Beseitigung von Rechtsunsicherheit in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Effektivität (EGMR [GK], Fall Zolotukhin Appl. 14.939/03, Z 78, 80). In der von den rechtsstaatlichen Garantien des B-VG bestimmten österreichischen Rechtsordnung ist es grundsätzlich Sache des einfachen (Verfahrens-, Verwaltungsmaterien- und Straf-)Gesetzgebers, unter Beachtung der Bestimmtheits- und Klarheitsgebote des Art 18 B-VG und des Art 7 EMRK, die Tatbestands-, Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen so zu fassen, dass bei eintätigem Zusammentreffen mehrerer Tatbilder anhand ihres Schutzzwecks und der für ihren Unrechtsgehalt maßgeblichen Tatbildelemente erkennbar ist, ob eine mehrfache Verfolgung und gegebenenfalls auch Bestrafung gerechtfertigt oder wegen Verstoßes gegen das Doppelbestrafungsverbot unzulässig ist [vgl. Oberndorfer,

Das Verbot der Doppelbestrafung (Art4 VII. ZPEMRK) in der Rechtsprechung des EGMR und des österreichischen VfGH, FS Wimmer, 2008, 429, 437]. Dabei kommt dem Gesetzgeber ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu, in dessen Rahmen er die kriminal- und gesellschaftspolitische Entscheidung zu treffen hat, ob er den Unrechtsgehalt auf mehrere Delikte verteilt und bejahendenfalls ob er die Zuständigkeit verschiedener Behörden und Gerichte vorsieht (Oberndorfer, aaO, 438 f.).

Wenn entsprechend klare Regelungen fehlen (wie offensichtlich nach der für das Urteil im Fall Zolotukhin maßgeblichen russischen Rechtslage), erscheint die Annahme nachvollziehbar, dass dann auf der Grundlage einer Sachverhaltsdarstellung (unabhängig von der rechtlichen Qualifikation) zu beurteilen ist, ob eine Identität der Tat gegeben ist. Wenn aber durch ein dem Bestimmtheitsgebot entsprechendes Gesetz, wie zB durch Vorschriften über das Kumulationsprinzip, und durch eine hiezu ergangene Rechtsprechung klargestellt ist, dass und inwieweit eine Verfolgung wegen unterschiedlicher strafbarer Handlungen bezogen auf denselben Sachverhalt stattfinden darf, ist zu prüfen, ob sich die in Betracht kommenden Straftatbestände in ihren wesentlichen Elementen unterscheiden (vgl. EGMR , Fall Franz Fischer, Appl. 37.950/97, ÖJZ 2001, 657, Z 29).

5. Dieses Ergebnis wird in systematischer Interpretation des Art 4 7. ZPEMRK unter Berücksichtigung des gesamten Bundesverfassungsrechts bestätigt. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits im Erkenntnis VfSlg. 11.500/1987 dargelegt, wie die zwingenden Vorgaben des Staatsorganisationsrechts der österreichischen Bundesverfassung mit den Konsequenzen einer dynamischen Interpretation des EGMR in Einklang zu bringen sind. Er führte damals aus:

"Das österreichische Verfassungsrecht ist von der strikten Trennung von Justiz und Verwaltung bestimmt. Die unter der Leitung - und Verantwortung - der obersten Organe des Bundes und der Länder geführte Verwaltung unterliegt keiner Kontrolle durch die Organe der Gerichtsbarkeit (im Sinne der Art 82 ff B-VG), und die Justiz ist von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt (Art94 B-VG). Oberste Instanz in Zivil- und Strafrechtssachen ist der Oberste Gerichtshof (Art92 Abs 1 B-VG), während zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung ausschließlich der VwGH berufen ist, der außerhalb der Organisation der Gerichtsbarkeit steht (Art129 ff B-VG)."

5.1. Für die Reichweite einer dynamischen Interpretation des Art 4 7. ZPEMRK ist maßgeblich, dass der verfassungsgesetzliche Grundsatz der Trennung von Justiz und Verwaltung ausschließt, dass es einen Instanzenzug in "derselben Sache" von der Verwaltungsbehörde zu einem Gericht oder vom Gericht zu einer Verwaltungsbehörde gibt (vgl. etwa VfSlg. 3236/1957, 9590/1982, 17.083/2003 mwH). Er verbietet insbesondere, dass über eine (mit Verwaltungsstrafe bedrohte und möglicherweise auch gerichtlich strafbare) Handlung zunächst ein Gericht befindet und sodann - im selben Verfahren - im Fall des Vorliegens (bloß) einer Verwaltungsübertretung eine Verwaltungsbehörde eine Entscheidung trifft.

Der Grundsatz steht aber auch einer verfahrensrechtlichen Lösung entgegen, nach der ein einmal begonnenes Verwaltungsstrafverfahren in höherer Instanz als Strafverfahren oder umgekehrt ein Strafverfahren, das nicht zu einer Verurteilung führt, als Verwaltungsstrafverfahren fortgeführt wird.

5.2. Eine mit der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des EGMR in Widerspruch stehende Auslegung des Art 4 7. ZPEMRK würde den Gesetzgeber zwingen, in Teilbereichen auf eine (verwaltungs-)strafrechtliche Verfolgung der Verletzung von Rechtsgütern im Schutzbereich verschiedener Grund- und Menschenrechte zu verzichten, da das Bundesverfassungsrecht eine verfassungskonforme Koordination von Verwaltungsstrafverfahren und gerichtlichem Strafverfahren in einem Verfahren bei eintätigem Zusammentreffen einer Verwaltungsübertretung und einer gerichtlich strafbaren Handlung nicht erlaubt. Insoweit stützt das nicht zum Prüfungsmaßstab des EGMR gehörende übrige Bundesverfassungsrecht die der übereinstimmenden Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des EGMR zugrunde liegende - durch Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte sowie Ziel und Zweck der Konvention gedeckte - Auslegung.

6. Nach der für den Beschwerdefall maßgeblichen Rechtslage ist durch Gesetz und Rechtsprechung klargestellt, dass die Verfolgung wegen ein und desselben tatsächlichen Verhaltens nach zwei verschiedenen Straftatbeständen zulässig ist, sofern sie sich in ihren wesentlichen Elementen unterscheiden. Die zweite Verfolgung und die in deren Gefolge erfolgende Bestrafung entspricht den Anordnungen des § 22 und des § 30 VStG (in der verfassungskonformen Auslegung nach dem Erkenntnis VfSlg. 14.696/1996), und es lagen bereits zahlreiche Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes zur Konkurrenz von gerichtlich strafbaren Handlungen einerseits und von Verwaltungsübertretungen nach der StVO andererseits vor, aus denen sich ergab, dass auch nach der strafgerichtlichen Verfolgung wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Lenken eines Kraftfahrzeuges unter bestimmten Voraussetzungen eine Verfolgung sowohl nach dem StGB wegen der Körperverletzung als auch nach der StVO wegen Verstoßes gegen § 5 Abs 1 iVm den jeweils einschlägigen Strafbestimmungen zu erfolgen hat.

7. Es ist daher zu prüfen, ob der Beschwerdeführer für dasselbe strafbare Verhalten, für das er bereits rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt wurde, neuerlich verfolgt oder bestraft wurde und ob sich die Straftatbestände, wegen derer er von den Gerichten einerseits und von der Verwaltungsbehörde andererseits verfolgt wurde, in ihren wesentlichen Elementen unterscheiden.

7.1. Nach den "travaux preparatoires" zu Art 4 7. ZPEMRK (siehe oben III.1.1.) und der Rechtsprechung des EGMR ist eine Entscheidung (Freispruch, Verurteilung) dann "rechtskräftig", wenn sie "nach der traditionellen Bedeutung Rechtskraft erlangt hat. Das ist dann der Fall, wenn sie unwiderruflich ist, dh. wenn keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stehen, wenn die Parteien diese Rechtsmittel erschöpft haben oder die Frist verstreichen haben lassen, ohne dieselben ergriffen zu haben". (EGMR , Fall Nikitin, Appl. 50.178/99, Z 37).

Mit Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom wurde das Verfahren betreffend das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 3 iVm § 81 Abs 1 Z 2 StGB aus dem Grund des § 34 Abs 2 Z 1 StPO gemäß § 227 Abs 1 StPO eingestellt, weil die Verfolgung weder auf die Strafe noch die mit der Verurteilung verbundenen Rechtsfolgen wesentlichen Einfluss gehabt hätte.

Der Rücktritt des Anklägers von der rechtskräftigen Anklage vor der Hauptverhandlung führte zur Einstellung des Verfahrens mit Beschluss des Landesgerichts St. Pölten. Außer durch Erhebung einer Subsidiaranklage ist eine Fortsetzung des Strafverfahrens im Fall des Anklagerücktritts nur unter den Voraussetzungen des § 352 Abs 1 StPO (Wiederaufnahme) möglich (vgl. Danek in WK-StPO, § 227, Rz 3). Es liegt somit eine rechtskräftige Entscheidung im Sinne des Art 4

7. ZPEMRK vor.

7.2. Zu prüfen ist sodann, ob sich der Straftatbestand, für den nach der Einstellung gem. § 227 Abs 1 StPO ein "Freispruch" im Sinne des Art 4 7. ZPEMRK vorliegt, von dem von den Verwaltungsbehörden verfolgten Tatbestand in seinen wesentlichen Elementen unterscheidet. Gemäß § 88 Abs 1 und Abs 3 iVm § 81 Abs 1 Z 2 StGB ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen, wer fahrlässig einen anderen am Körper verletzt, nachdem er sich vor der Tat, wenn auch nur fahrlässig, durch Genuss von Alkohol in einen die Zurechnungsfähigkeit nicht ausschließenden Rauschzustand versetzt hat, obwohl er vorhergesehen hat oder hätte vorhersehen können, dass ihm eine Tätigkeit bevorstehe, deren Vornahme in diesem Zustand eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit eines anderen herbeizuführen oder zu vergrößern geeignet sei. Gemäß § 99 Abs 1a StVO begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von 872 € bis 4 360 €, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Arrest von zehn Tagen bis sechs Wochen, zu bestrafen, wer ein Fahrzeug lenkt oder in Betrieb nimmt, obwohl der Alkoholgehalt seines Blutes 1,2 g/l (1,2 Promille) oder mehr, aber weniger als 1,6 g/l (1,6 Promille) oder der Alkoholgehalt seiner Atemluft 0,6 mg/l oder mehr, aber weniger als 0,8 mg/l beträgt. Das Verfahren vor dem Landesgericht St. Pölten wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung in der Qualifikation des § 81 Abs 1 Z 2 StGB wurde nach der Zurückziehung des Nachtragsstrafantrags durch die Staatsanwaltschaft mit Beschluss vom eingestellt. Im Hinblick auf dieses Verfahrensergebnis war es für das Strafgericht nicht mehr von Bedeutung, ob der Beschwerdeführer ein Fahrzeug in alkoholisiertem Zustand gelenkt hat (vgl. nur VfSlg. 15.821/2000; Fall Bachmaier, EGMR , Appl. 77.413/01); es prüfte die Alkoholisierung des Beschwerdeführers daher nicht. Das Landesgericht St. Pölten stellte das Verfahren ohne Bezugnahme auf das Element der Alkoholisierung ein, weil die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung aus dem Grund zurückgetreten ist, dass dies weder auf die Strafen noch auf die mit der Verurteilung verbundenen Rechtsfolgen wesentlichen Einfluss hat (§34 Abs 2 Z 1 StPO). Nur hinsichtlich des Vergehens des Imstichlassens eines Verletzten (§94 Abs 1 StGB) und des Vergehens der Unterdrückung eines Beweismittels nach § 295 StGB wurde der Beschwerdeführer schließlich verurteilt.

7.3. Da sohin der Beschwerdeführer wegen verschiedener Straftatbestände verfolgt bzw. "verurteilt" wurde, die sich in ihren wesentlichen Elementen unterschieden, lag in der Verfolgung des Beschwerdeführers wegen fahrlässiger Körperverletzung und Verurteilung wegen Imstichlassens eines Verletzten und Unterdrückung eines Beweismittels einerseits und der Verfolgung und Bestrafung wegen Lenkens eines Fahrzeugs mit einem Alkoholgehalt der Atemluft zwischen 0,6 mg/l und 0,8 mg/l keine unzulässige Doppelverfolgung wegen derselben strafbaren Handlung vor.

8. Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Bescheid nicht in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK, nicht wegen derselben strafbaren Handlung erneut vor Gericht gestellt zu werden, verletzt worden.

9.1. Der Beschwerdeführer behauptet darüber hinaus eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, da die belangte Behörde die Berufung zu Unrecht abgewiesen habe und das Verwaltungsstrafverfahren einzustellen gewesen wäre, womit der Sache nach der Vorwurf der Willkür erhoben wird.

Ein willkürliches Verhalten kann der Behörde unter anderem dann vorgeworfen werden, wenn sie den Beschwerdeführer aus unsachlichen Gründen benachteiligt hat oder aber, wenn der angefochtene Bescheid wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage in einem besonderen Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (zB VfSlg. 10.065/1984, 14.776/1997, 16.273/2001).

Nach dem oben Ausgeführten vermag der Verfassungsgerichtshof nicht zu erkennen, inwieweit die belangte Behörde den Beschwerdeführer unsachlich benachteiligt oder die Rechtslage im besonderen Maße verkannt hätte. Es liegt daher auch keine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz vor.

9.2. Das Beschwerdeverfahren hat auch nicht ergeben, dass der Beschwerdeführer in einem von ihm nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt worden ist.

IV. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG

ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.