OGH vom 23.04.2014, 10ObS34/14v
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau (§ 11a Abs 3 Z 2 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*****, vertreten durch Dr. Albert Laimighofer, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84 86, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens 31 Cgs 77/09i des Landesgerichts Linz als Arbeits und Sozialgericht, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Rekursgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 12 Rs 13/14i 19, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 528a iVm § 510 Abs 3 ZPO).
Text
Begründung:
Die Vorinstanzen wiesen die Wiederaufnahmsklage im Vorprüfungsverfahren (a limine) zurück.
Rechtliche Beurteilung
1. Obgleich ein bestätigender Beschluss vorliegt, ist er gemäß § 528 Abs 2 Z 2 ZPO nicht absolut unanfechtbar, weil die Klage ohne Sachentscheidung aus formellen Gründen zurückgewiesen wurde (10 Ob 15/09t mwN).
2. Der Revisionsrekurs ist jedoch mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO unzulässig:
Im Vorverfahren brachte der Wiederaufnahmskläger in seiner auf Gewährung der Erwerbsunfähigkeitspension gerichteten Klage vor, nach Meinung der von ihm konsultierten Ärzte seien seine zahlreichen gesundheitlichen Beschwerden zum Teil auf ein „vibratorisches Angioödem“ zurückzuführen. Er sei erwerbsunfähig.
Das Erstgericht holte im Vorverfahren ua ein dermatologisches Gutachten ein. Auch der Gutachter kam zu dem Ergebnis, der Kläger leide an einem erworbenen vibratorischen Angioödem (Quincke Ödem), weiters an einer Sarkoidose. Dieser Gesundheitszustand führe aus dermatologischer Sicht aber nicht zur Erwerbsunfähigkeit, sondern ermögliche noch leichte Arbeiten vollzeitig im Sitzen und Gehen, nur kurzfristig im Stehen mit weiteren Einschränkungen (insbesondere nicht mit vibrierenden Maschinen bzw auf vibrierenden Untergründen).
Im Einzelnen führte der dermatologische Gutachter im Rahmen der gutacherlichen Beurteilung aus (Seite 5 und 6 des Gutachtens):
„Das Angioödem beruht grundsätzlich auf einem Defekt des C1-Esterase-Inhibitors (C1-INH), eines multifunktionalen Serinproteaseninhibitors(-hemmstoffs), der neben den Komplementfaktoren C1r und C1s auch den aktivierten Hagemann-Faktor und Kallikrein hemmt. Sinken die Konzentration oder die Aktivität des C1-INH im Serum unter einen kritischen Schwellenwert von etwa 40 %, kommt es vor allem durch eine verstärkte Bradykininbildung spontan oder nach Bagatelltraumen zu Ödemen bzw Schwellungszuständen.
In unregelmäßigen Abständen treten dabei akut umschriebene Schwellungen der Haut, am häufigsten im Gesicht, an Extremitäten oder äußerem Genitale auf, oder, wie im Fall des Klägers, bevorzugt auf den Fußsohlen.
Daneben können Lippen, Zunge oder Schleimhaut des Mund und Rachenraums, die Glottis und der Gastrointestinal oder Urogenitaltrakt betroffen sein. Daher geben die Patienten nicht selten beispielsweise Beschwerden wie Heiserkeit, Husten, Globusgefühl, Übelkeit und Bauchschmerzen an. Bedrohlich ist ein zur Atemnot führendes Glottisödem, das vor Einführung einer wirksamen Therapie eine Letalität von mehr als 50 % hatte. Besonders bei Fehlen von Hautsymptomen wird manchmal unter der Verdachtsdiagnose Abdomen fälschlicherweise eine Laparotomie (Bauchoperation) durchgeführt. Auch zentralnervöse Beschwerden, vor allem Kopfschmerzen oder Bewusstseinstrübung, führen diagnostisch in die Irre. Als Auslöser werden immer lokale Traumen wie zahnärztliche Behandlung, hormonelle Umstellungen, psychischer Stress sowie gelegentlich Medikamente und Nahrungsmittel genannt. Etwa 50 % der Patienten bemerken typische Symptomverläufe wie: Müdigkeit, Frösteln, Fieber, Gelenkschmerzen oder figurierte Hautausschläge der oberen Körperpartie. Typische Quaddeln finden sich dagegen nie. Die Schwellungen der Haut sind blass und teigig, nicht juckend, aber gelegentlich schmerzhaft und bilden sich spontan nach etwa 2 bis 4 Tagen zurück ... .“
Im Hinblick auf die Ergebnisse des dermatologischen Gutachtens und der weiters eingeholten medizinischen Gutachten aus anderen Fachgebieten wurde im Vorverfahren die Klage abgewiesen.
3. Der im Vorprozess somit unterlegene Kläger begehrt nun die Wiederaufnahme des Verfahrens. Er steht auf dem Standpunkt, das die Entscheidung im Vorprozess mittragende dermatologische Sachverständigengutachten sei unrichtig. Zwar treffe die Diagnose des vibratorischen Angioödems zu, das erstellte Leistungskalkül entspreche jedoch nicht seinen gesundheitlichen Beschwerden. Der Sachverständige habe die detaillierte Schilderung seiner Beschwerden nicht ernst genommen bzw ignoriert. Überdies habe er nach Vorliegen der letztinstanzlichen Entscheidung im Vorverfahren herausgefunden, dass der Sachverständige die oben wiedergegebene Passage aus dem medizinischen Lehrbuch „Dermatologie und Venerologie“ (Springer Verlag, 5. Auflage) „abgeschrieben“ habe, ohne dies durch ein entsprechendes Zitat klarzustellen und den Autor des Beitrags, Dr. Jürgen Grabbe, zu erwähnen. Somit lägen nun erstmals medizinische Beweise für die schwerwiegenden Beeinträchtigungen vor, die durch das Angioödem verursacht werden und zur Erwerbsunfähigkeit führen. Als neue Beweismittel iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO werden daher das medizinische Lehrbuch „Dermatologie und Venerologie“ genannt und der Verfasser der oben wiedergegebenen Passage, Dr. Jürgen Grabbe, als Zeuge namhaft gemacht. Lägen in einem neuen Verfahren diese Beweise für die Schmerzhaftigkeit und Schwere seiner Erkrankung vor, sei ein anderes Urteil zu erwarten (ON 1 S 26).
Dazu ist auszuführen:
1. Nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO berechtigen nur solche neue Tatsachen und Beweismittel zur Wiederaufnahmsklage, deren Vorbringen und Benutzung in früheren Verfahren eine der Partei günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Die neuen Beweise müssen abstrakt geeignet sein, eine andere Entscheidung herbeizuführen. Lässt sich der geltend gemachte Wiederaufnahmsgrund hingegen überhaupt unter keinen der im Gesetz angeführten Wiederaufnahmsgründe einordnen oder steht er in keinem rechtlich beachtlichen Zusammenhang mit der angefochtenen Entscheidung, könnte der Wiederaufnahmswerber also auch bei Zutreffen der behaupteten Wiederaufnahmsgründe eine Aufhebung oder Abänderung der Entscheidung nicht erreichen, so ist die Wiederaufnahmsklage bereits im Vorprüfungsverfahren zurückzuweisen (RIS Justiz RS0117780). Bei dieser Prüfung der Wiederaufnahmsklage, bei der von der im früheren Urteil zugrunde gelegten Rechtsansicht auszugehen ist, handelt es sich letztlich um eine Schlüssigkeitsprüfung (RIS Justiz RS0044631).
2. Ob im Einzelfall ein Vorbringen zur Darstellung eines Wiederaufnahmsgrundes ausreicht oder nicht, stellt regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 528 Abs 1 ZPO dar, soweit nicht eine krasse Fehlbeurteilung vorliegt, die aus Gründen der Rechtssicherheit zu korrigieren wäre (8 Ob 85/12a mwN). Eine derartige Fehlbeurteilung zeigt der Revisionsrekurswerber nicht auf.
3.1 Im vorliegenden Fall stützt der Wiederaufnahmskläger seine Wiederaufnahmsklage darauf, dass das Leistungskalkül des dermatologischen Gutachtens unrichtig sei. Ferner macht er als Wiederaufnahmsgrund geltend, das Gutachten wäre anders gewürdigt worden, wenn dem Richter die Tatsache bekannt gewesen wäre, dass die oben wiedergegebene Passage aus einem medizinischen Lehrbuch stamme. Letztlich meint er, es wäre eine günstigere Entscheidung in der Hauptsache herbeigeführt worden, wenn der Verfasser dieser Passage als sachverständiger Zeuge einvernommen worden wäre. Prüft man die geltend gemachten neuen Tatsache und jedes einzelne Beweismittel gesondert auf ihre bzw seine Tauglichkeit als Wiederaufnahmsgrund (RIS Justiz RS0115972), ergibt sich:
3.2 Wie bereits das Rekursgericht ausführte, ist die sich aus späteren Tatumständen ergebende Unrichtigkeit eines Gutachtens für sich allein kein tauglicher Wiederaufnahmsgrund nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO (RIS Justiz RS0044555). Dazu bedürfte es weiterer Umstände, etwa des Nachweises, dass eine behauptete Zwischenerhebung vom Sachverständigen in Wahrheit nicht durchgeführt wurde oder neue wissenschaftliche Methoden entdeckt wurden, deren Anwendung im Hauptverfahren zu anderen Erkenntnissen hätten führen können (RIS Justiz RS0044555 [T4]). Die vom Wiederaufnahmskläger aufgestellte bloße Behauptung der Unrichtigkeit eines Sachverständigengutachtens vermag für sich allein eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht zu begründen (5 Ob 552/94).
3.3 Dem Umstand, dass der Gerichtsgutachter bei der allgemein gehaltenen Schilderung der Ursachen und Symptome des „vibratorischen Angioödems“ auf ein medizinisches Lehrbuch zurückgegriffen hat, kann schon abstrakt keine Aussage über die im Vorverfahren strittigen Auswirkungen dieser Erkrankung gerade auf das Leistungskalkül (die Erwerbsfähigkeit) des Klägers entnommen werden.
3.4 Auch die zeugenschaftliche Einvernahme des Verfassers der oben wiedergegebenen Passage aus dem Lehrbuch „Dermatologie und Venerologie“ kann keine tragende Grundlage für die Beweiswürdigung im wiederaufzunehmenden Verfahren bilden. Ein sachkundiger Zeuge ist weder dazu berufen, aufgrund seiner Sachkunde Erfahrungssätze zu den Auswirkungen der Leidenszustände des Klägers auf dessen Erwerbsfähigkeit zu liefern, noch eigenständige gutachterliche Schlussfolgerungen aus den Leidenszuständen auf die Erwerbsfähigkeit zu ziehen. Die Erstellung entsprechender Wertungen unter Anwendung von Fachwissen war vielmehr Aufgabe des im Vorverfahren bestellten medizinischen Sachverständigen (10 ObS 157/00m).
3.5 Es wurde auch schon mehrfach die Ansicht vertreten, einem nachträglichen Gutachten könne die Eignung als Wiederaufnahmsgrund nicht abgesprochen werden, wenn das Gutachten des Vorprozesses auf einer unzulänglichen Grundlage beruhte, die durch das neue Gutachten richtiggestellt und vervollständigt worden sei (2 Ob 230/06x; 10 ObS 169/03f). Dass das dermatologische Gutachten aber auf unzulänglichen Sachverhaltsgrundlagen beruhen solle, wird aber nicht annähernd konkretisiert. Der Wiederaufnahmskläger legte auch kein neues Gutachten vor. Dennoch will er auch noch in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs die oben dargelegte Rechtsprechung für sich nutzbar machen, indem er seiner (bloßen) Vermutung Ausdruck verleiht, die Einvernahme des Zeugen Dr. Grabbe hätte „neue medizinische Erkenntnisse“ aufzeigen können, die im Vorprozess zu anderen Ergebnissen geführt hätte, ohne zu konkretisieren, um welche neuen Erkenntnisse bzw Erkenntnismethoden es sich handelt. Die Rechtsansicht des Rekursgerichts, es liege keine neue Tatsache bzw kein neues Beweismittel iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO vor (RIS Justiz RS0044411 [T9]), weil es sämtlichen als Wiederaufnahmsgründe nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO geltend gemachten Umständen an ihrer Eignung mangle, eine für den Wiederaufnahmswerber günstigere Entscheidung in der Hauptsache herbeizuführen, stellt demnach keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung dar.
4. Kommt es für die Schlüssigkeit der Wiederaufnahmsklage nicht darauf an, dass das Beweismittel schon dort vollständig angeführt wird (im vorliegenden Fall der Auszug aus dem medizinischen Lehrbuch vorgelegt und Dr. Jürgen Grabbe als Zeuge stellig gemacht wird), ist die vom Revisionswerber weiters relevierte Frage nicht entscheidungswesentlich, ob ihm ein Verbesserungsauftrag in dieser Richtung zu erteilen gewesen wäre (vgl 4 Ob 542/95).
5. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass eine auf § 530 Abs 1 Z 2 oder 3 ZPO gestützte Wiederaufnahmsklage nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 190 StPO und Abweisung eines allenfalls gestellten Antrags auf Fortführung des Verfahrens gemäß § 195 StPO gemäß § 539 Abs 2 ZPO ohne vorgängige mündliche Verhandlung als unzulässig zurückzuweisen ist (10 Ob 15/09t; vgl RIS Justiz RS0044638). Wie bereits das Rekursgericht dargelegt hat, wurde das gegen die drei Gerichtssachverständigen (wegen Erstellung eines falschen Gutachtens gemäß § 288 Abs 1 StGB) und den Richter (wegen Urkundenfälschung gemäß § 223 StGB) eingeleitete Strafverfahren gemäß § 190 StPO rechtskräftig eingestellt und die Fortführungsanträge des Wiederaufnahmsklägers abgewiesen. Auch die Rechtsansicht des Rekursgerichts, die geltend gemachten Wiederaufnahmsgründe des § 530 Abs 1 Z 2 und Z 3 ZPO liegen im gegenständlichen Fall nicht vor, steht somit im Einklang mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Gegen die Richtigkeit dieser Rechtsansicht wird im außerordentlichen Revisionsrekurs nur der nicht zielführende Einwand erhoben, die Staatsanwaltschaft habe die erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe nicht ausreichend geprüft.
Der außerordentliche Revisionsrekurs war daher mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 528 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.