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VfGH vom 25.11.1985, B543/84

VfGH vom 25.11.1985, B543/84

Sammlungsnummer

10680

Leitsatz

Art144 Abs 1 B-VG; unter "Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt" wird auch die konkrete Gestaltung des jeweiligen Verwaltungsaktes verstanden

Art8 StGG; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Art 5 MRK;

vertretbare Annahme von Erregung ungebührlichen störenden Lärms nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950; gesetzmäßige Festnahme nach § 35 litc VStG 1950 und nachfolgende Anhaltung gemäß § 36 Abs 1 leg. cit.;

keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit; kein Verstoß gegen Art 3 MRK durch Verweigerung ärztlicher Hilfe; im übrigen kein Nachweis für (behauptete) Mißhandlungen iS des Art 3 MRK erbracht; keine Abtretung an den VwGH

Spruch

I. Der Bf. ist dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien ihn am in Wien (Donauinsel) festnahmen und bis zum nächsten Tag in Haft hielten, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird in diesem Umfang abgewiesen.

II. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

III. Der Antrag auf Abtretung der Beschwerde an den VwGH wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. G S begehrte in seiner mit Berufung auf Art 144 Abs 1 B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde teils ausdrücklich, teils der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, er sei dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien ihn am in Wien (Donauinsel) festnahmen und bis zum nächsten Tag in Haft hielten sowie während seiner Anhaltung tätlich mißhandelten (nämlich mit Füßen traten, schlugen und an den Haaren zogen, ferner ihn knapp nach der Festnahme zur Aufstellung mit erhobenen Armen und gespreizten Beinen bestimmten) und ihm ärztliche Hilfe verweigerten, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, und zwar auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art 5 MRK) und auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK), verletzt worden. Hilfsweise wurde die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt.

1.1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie für die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde eintrat.

1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß der Bf. am um etwa 22.35 Uhr auf der Donauinsel in Wien von dem im Dienst befindlichen Sicherheitswachebeamten Inspektor G B ua. wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretungen nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 und ArtIX Abs 1 Z 1 EGVG 1950 idF des ArtI Z 8 des BGBl. 232/1977 gemäß § 35 litc VStG 1950 festgenommen wurde. Weiters ergeben die Akten, daß die Bundespolizeidirektion Wien über den - in Haft gehaltenen - Bf. am mittags mit mündlich verkündetem Straferk. Pst 6364-Fd/84 ua. wegen der eingangs genannten Verwaltungsübertretungen Geldstrafen verhängte und den Betroffenen daraufhin, und zwar um 11.55 Uhr desselben Tages, auf freien Fuß stellte.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1. Zur Festnahme und Haftanhaltung

2.1.1.1. Gemäß Art 144 Abs 1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für eine Festnehmung und anschließende Verwahrung zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977; , 21. Feber 1985 B381/81). Dabei wird unter dieser einer Beschwerdeführung zugänglichen "Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt" in der Bedeutung des Art 144 Abs 1 B-VG - nach herrschender Judikatur - nicht nur das "Ob", sondern auch das "Wie", dh. also die konkrete Gestaltung des jeweiligen Verwaltungsaktes, verstanden (s. zB VfSlg. 8126/1977, 8580/1979, 10321/1985).

2.1.1.2. Demgemäß ist festzuhalten, daß die vorliegende Beschwerde - soweit sie die Festnahme und Anhaltung des Bf., und zwar ohne zeitgerechten ärztlichen Beistand, zum Gegenstand hat - Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art 144 Abs 1 B-VG bekämpft.

2.1.1.3. Da hier ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, ist die Beschwerde im dargelegten Umfang zulässig.

2.1.2.1. Art 8 StGG gewährt - ebenso wie Art 5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art 8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art 149 Abs 1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem § 4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung des Delikts betreten werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann vorliegt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).

Kraft § 35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

2.1.2.2. Aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens wird folgender Sachverhalt als erwiesen festgestellt:

F W wurde mit (rechtskräftigem) Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom , GZ 3c E Vr 8296/84-17, der Vergehen des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§15, 269 Abs 1 StGB und der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür gemäß § 269 Abs 1 StGB unter Bezugnahme auf § 28 Abs 1 StGB zu einer (bedingt nachgesehenen) Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt. Ihm fiel zur Last, am auf der Donauinsel in Wien den Polizeibeamten G Br. gewaltsam, nämlich durch Stoßen und Treten, an seiner Festnahme zu hindern versucht und überdies den Sicherheitswachebeamten G B mit Worten gefährlich bedroht zu haben. In den Urteilsgründen wurde dargelegt, daß G B, der damals aus gegebenem Anlaß mit seinem Kollegen G Br. gegen den zunächst flüchtenden F W einschritt, keine gezielten Pistolenschüsse abfeuerte, sondern im Hinblick auf die nächtliche Finsternis bloß Signalschüsse abgab, um Verstärkung zu erhalten. Von den Beamten eingeholt, setzte sich der unter Alkoholeinfluß Stehende gegen die Festnahme tätlich zur Wehr; er mußte - nach den Urteilsannahmen - überwältigt werden.

Der damals noch in jugendlichem Alter stehende G S, ein Freund des Festgenommenen, mischte sich nun - laut eigener Einlassung: verärgert (Polizeiprotokoll vom ) - in die Amtshandlung ein. Wie der Zeuge B - in diesem Punkt nach Lage des Falles durchaus glaubhaft - teils ausdrücklich, teils sinngemäß aussagte, beschimpfte ihn der Jugendliche offensichtlich lautstark längere Zeit hindurch gröblich, und zwar auch noch nach ausdrücklicher Abmahnung (ähnlich die Aussagen der gleichfalls anwesenden Inspektoren G Br. und J T).

2.1.2.3. Angesichts dieser Sach- und Beweislage durfte der Zeuge G B aus damaliger Sicht - ganz unabhängig von der Frage der tatsächlichen Tatbestandsverwirklichung - mit gutem Grund annehmen, daß der Bf. zumindest die Verwaltungsübertretung der Erregung ungebührlichen störenden Lärms nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 begangen habe. War aber die Beurteilung des Verhaltens des Bf. als Verwaltungsdelikt - nach dem Gesagten - jedenfalls vertretbar und lag, wie hier, infolge Betretung auf frischer Tat und Tatwiederholung trotz Abmahnung der Festnehmungsgrund des § 35 litc VStG 1950 vor, entsprach die bekämpfte Festnehmung dem Gesetz.

2.1.2.4. Gemäß § 36 Abs 1 VStG 1950 hat die Behörde den (übernommenen) Festgenommenen sofort, spätestens aber binnen vierundzwanzig Stunden nach der Übernahme zu vernehmen.

Unter den obwaltenden Umständen bestehen keine hinlänglichen Anhaltspunkte dafür, daß der Grund für die verwaltungsbehördliche Verwahrung des - am erst spätnachts in den Arrest eingelieferten - Bf. schon vor dem Ende der (Verwaltungsstraf-)Verhandlung am folgenden Tag entfallen wäre. (Das Strafverfahren wurde im weiteren Verlauf gemäß § 51 Abs 5 VStG 1950 idF BGBl. 299/1984 eingestellt.)

2.1.3. Demgemäß wurde der Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

2.1.4. Wenn der Bf. mit Berufung auf Art 3 MRK einwendet, er sei während seiner Haftanhaltung längere Zeit ungerechtfertigt ohne ärztlichen Beistand gelassen worden, ist dem folgendes entgegenzuhalten: Den Akten ist zu entnehmen, daß der Bf. nach Einlieferung in die Zelle über Schmerzen in der Leistengegend klagte, und zwar mit dem Beifügen, er habe sich (offenbar vor einiger Zeit) beim Ringen verletzt.

Darauf wurde sogleich der Polizeiamtsarzt (über Funk) verständigt und herbeizitiert, der den Bf. so bald wie möglich, nämlich um 0.45 Uhr, untersuchte (Befund: "Leistenhoden rechts, dzt. schmerzhaft, keine äußeren Verletzungen festzustellen"). Daraus allein folgt, daß das entsprechende Beschwerdevorbringen schon in tatsächlicher Beziehung nicht zutrifft, eine Verletzung des Art 3 MRK durch Schaffung menschenunwürdiger Haftbedingungen also keinesfalls in Betracht kommt.

2.1.5. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde im bisher erörterten Umfang - da die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder ausdrücklich behauptet wurde noch im Verfahren hervorkam und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die den bekämpften Verwaltungsakten zugrundeliegenden Rechtsvorschriften nicht entstanden - als unbegründet abzuweisen.

2.2. Zu den übrigen Beschwerdepunkten

2.2.1. Der VfGH sieht sich in Prüfung und Würdigung aller Ergebnisse des durchgeführten Beweisverfahrens, insbesondere der - obschon nicht in jeder Hinsicht voll überzeugenden - Aussagen der Polizisten G Br. und G B nach Lage dieses Falles - keine Seite vermochte unbeteiligte und unbefangene Tatzeugen namhaft zu machen - nicht in der Lage, die in der Beschwerdeschrift angegebenen Mißhandlungen verschiedener Art als erwiesen anzunehmen, zumal der von G S als Zeuge genannte F W (Bf. im Verfahren B806/84) zur kritischen Zeit infolge Alkoholisierung in seiner Wahrnehmungsfähigkeit deutlich beeinträchtigt war. In diesem Zusammenhang ließ sich auch nicht nachweisen, daß der Bf. gezwungen wurde, in aller Öffentlichkeit grundlos einige Zeit lang eine ihn erniedrigende Position einzunehmen. Nach der Aussage der einvernommenen Polizisten fand zwar eine Personsdurchsuchung statt, zureichende Anhaltspunkte für die einschlägige Beschwerdebehauptung erbrachte das Beschwerdeverfahren indessen nicht.

2.2.2. Da demgemäß ein Nachweis für die in diesem Umfang bekämpften Vorgänge nicht gelang, liegt der Anfechtung kein tauglicher Beschwerdegegenstand zugrunde. Die Beschwerde war darum insoweit schon allein aus dieser Erwägung als unzulässig zurückzuweisen (s. Punkt II des Spruches).

2.3. Der Antrag auf Abtretung der Beschwerde an den VwGH war aus folgenden Erwägungen abzuweisen (s. Punkt III des Spruches):

Zum einen hat der VfGH die Gesetzmäßigkeit der Verhaftung und Haftanhaltung (einschließlich aller Anhaltungsmodalitäten) schlechthin zu untersuchen und sich nicht etwa auf die Frage der Gesetzlosigkeit oder denkunmöglichen Gesetzeshandhabung zu beschränken (VfSlg. 8076/1977), sodaß für eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Verletzung sonstiger - einfachgesetzlich eingeräumter - Rechte kein Raum bleibt. Daraus ergibt sich aber, daß der VfGH zur Entscheidung in diesem Umfang - Punkt 2.1. - ausschließlich zuständig (VfSlg. 8960/1980) und die Beschwerde also - insoweit - nicht an den VwGH abzutreten ist.

Zum anderen ist eine solche Abtretung nur für den - zu Punkt 2.2. nicht gegebenen - Fall einer ablehnenden Sachentscheidung des VfGH vorgesehen, nicht hingegen auch bei Zurückweisung einer unzulässigen Beschwerde (vgl. zB ).