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VfGH vom 25.09.1995, b532/95

VfGH vom 25.09.1995, b532/95

Sammlungsnummer

14226

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch verfassungswidrige Gesetzesauslegung bei der Ungültigerklärung von Sichtvermerken für ein türkisches Ehepaar mit minderjährigem Kind mangels ausreichenden Einkommens; Unterlassung der gesetzlich gebotenen Interessenabwägung

Spruch

Die beschwerdeführenden Parteien sind durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit 20.700 S bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Die Bezirkshauptmannschaft Gmünd erklärte mit Bescheiden vom und vom ua. unter Bezugnahme auf § 11 Abs 1 iVm § 10 Abs 1 Z 2 Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992, die den Beschwerdeführern, ein türkisches Ehepaar mit minderjährigem Kind, jeweils erteilten (unbefristeten) Sichtvermerke im wesentlichen mit der Begründung für ungültig, die Familie hätte über kein ausreichendes Einkommen verfügt.

1.2. Gegen diese Bescheide wendet sich die vorliegende, auf Art 144 Abs 1 B-VG gestützte (gemeinsam ausgeführte) Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 Abs 1 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide beantragt wird.

1.3. Die Bezirkshauptmannschaft Gmünd als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde begehrt.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

2.1.1. Der administrative Instanzenzug ist ausgeschöpft (§70 Abs 2 FrG).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Beschwerde zulässig.

2.1.2. Gemäß § 11 Abs 1 FrG ist ein Sichtvermerk für ungültig zu erklären, wenn nachträglich Tatsachen bekannt werden oder eintreten, welche die Versagung des Sichtvermerks (§10 Abs 1 und 2 FrG) rechtfertigen würden.

§ 10 Abs 1 Z 2 FrG normiert, daß die Erteilung eines Sichtvermerks zu versagen ist, wenn der Sichtvermerkswerber nicht über ausreichende eigene Mittel zu seinem Unterhalt oder nicht über einen alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt.

2.2.1. Die angefochtenen Bescheide greifen hier in das gemäß Art 8 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens bereits deshalb ein, weil die Beschwerdeführer - wie aus den Verwaltungsakten hervorgeht - schon längere Zeit in Österreich leben: Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ist ein Eingriff in das durch Art 8 Abs 1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheids eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage denkunmöglich anwendete; dies trifft nur zu, wenn die Behörde einen Fehler beging, der so schwer wiegt, daß er mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

Wie der Gerichtshof ebenfalls schon in bezug auf einen (auch) auf § 10 Abs 1 Z 2 FrG gestützten Bescheid aussprach, liegt eine Verletzung des in Rede stehenden verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts dann vor, wenn die Behörde die durch Art 8 EMRK verlangte Interessenabwägung unterließ, ob der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährdete, daß die im Abs 2 dieses Artikels umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in sein Privat- und Familienleben rechtfertigten (s. ). Grundsätzlich das gleiche gilt für die in diesem Absatz erwähnten Maßnahmen für das öffentliche Wohl des Landes (vgl. VfSlg. 13336/1993).

2.2.2. Ein derartiger Fehler ist der Behörde im vorliegenden Fall anzulasten:

Der Erstbeschwerdeführer (Ehegatte der Zweitbeschwerdeführerin und Vater des Drittbeschwerdeführers) lebt - wie die Verwaltungsakten zeigen - seit 1980, die beiden letztgenannten Personen leben seit 1986 in Österreich. Ihre familiären Bindungen waren der belangten Behörde im Zeitpunkt der Bescheiderlassung bekannt; dennoch nahm sie die nach dem Gesagten gebotene Interessenabwägung nicht vor. In den (gleichlautenden) Bescheidbegründungen heißt es vielmehr: "Bei der Bedachtnahme auf Ihre privaten und familiären Interessen wird angeführt, daß die gesetzliche Regelung keinen Beurteilungsspielraum offen läßt. Aufgrund des vorliegenden Sachverhalts müssen daher Ihre persönlichen Verhältnisse vernachlässigt werden." Die Behörde ging - wie aufgezeigt und sich auch aus der Gegenschrift ergibt ("Das Gesetz hat bewußt nicht die Prüfung ... am Maßstab des Art 8 EMRK geboten") - somit davon aus, sie habe bei Anwendung des § 11 Abs 1 iVm § 10 Abs 1 Z 2 FrG von einer Interessenabwägung (notwendig) abzusehen. Damit hat sie dem Gesetz aber fälschlicherweise einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt (vgl. auch und B2259/1994).

2.2.3. Die angefochtenen Bescheide waren sohin wegen Widerspruchs zu Art 8 EMRK als verfassungswidrig aufzuheben.

2.3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 3.450 S enthalten.

2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.