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OGH vom 10.12.1991, 10ObS311/91

OGH vom 10.12.1991, 10ObS311/91

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Karlheinz Kux (Arbeitgeber) und Otto M.Schmitz (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Veronika R*****, vertreten durch den Sachwalter Dr.Heribert S*****, dieser vertreten durch Dr.Thomas Stampfer, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei Steiermärkische Gebietskrankenkasse, 8011 Graz, Josef-Pongraz-Platz 1, diese vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Gewährung der Anstaltspflege, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 141/90-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , GZ 32 Cgs 251/88-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß

gefaßt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Erstgerichtes, das im übrigen mangels Anfechtung unberührt bleibt, und das Urteil des Berufungsgerichtes werden aufgehoben, soweit damit über die Gewährung der Anstaltspflege für die Zeit vom 25.3. bis entschieden wurde. Die Rechtssache wird in diesem Umfang zur neuerlichen Verhhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Mit Bescheid vom wies die beklagte Gebietskrankenkasse den Antrag der Klägerin, ab die Pflegegebühren im Landes-Sonderkrankenhaus Graz zu übernehmen, im wesentlichen mit der Begründung ab, daß es sich um einen Fall der Asylierung gehandelt habe.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei

unter - rechtskräftig gewordener - Abweisung des Mehrbegehrens schuldig, der Klägerin für die Zeit vom 25.3. bis die Pflege in der allgemeinen Gebührenklasse der angeführten Krankenanstalt zu gewähren. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:

Die Klägerin wurde am aufgrund einer polizeiärztlichen Bescheinigung mit der Diagnose "Oligophrenie und erethischer Zustand bei massiver familiärer Belastung" im Landes-Sonderkrankenhaus Graz aufgenommen. Am wurde mit ihrem Sachwalter vereinbart, daß sie vorerst stationär belassen und daß eine Trennung von ihrer Mutter in die Wege geleitet werde. Ab erhielt sei keine Medikamente mehr, jedoch eine persönliche gesprächstherapeutische Betreuung. Für den wurde in der Krankengeschichte festgehalten, daß sich die Arbeitstherapie, der die Klägerin in der Wäscherei unterzogen wurde, positiv auswirke, daß die Klägerin lockerer und frischer wirke und daß sie sich auch schon an gruppentherapeutischen Sitzungen beteilige. Die Trennung von der Mutter habe sichtlich eine entlastende Wirkung. Am wurde die Klägerin von einem von der beklagten Partei beauftragten Facharzt untersucht. Dieser stellte fest, daß sie einen örtlich und zeitlich orientierten, verhältnismäßig lebendigen Eindruck mache und in der Wäscherei, in der Küche und auf der Station mitarbeite. Sie nahm damals keine Medikamente und bekam auch keine Injektionen. Der Facharzt kam zu dem Schluß, daß es sich um keinen Behandlungs-, sondern um einen Asylierungsfall handle.

Am wurde die Klägerin aus der Krankenanstalt entlassen und in ein Heim überstellt.

Nach der Einlieferung in das Landes-Sonderkrankenhaus zeigt sich bei einem Patienten meist erst nach einer gewissen Zeit der Beobachtung, ob ein Behandlungs- oder ein Asylierungsfall vorliegt. Ob bei der Klägerin die Durchführung einer Gesprächstherapie vor und nach dem die Annahme eines Behandlungsfalles rechtfertigt, ist (gemeint wohl: aus medizinischer Sicht) eine Grenzfrage. Eine Gesprächstherapie kann auch ohne stationäre Behandlung stattfinden und auch vom Hausarzt oder Sozialarbeiter durchgeführt werden.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den von ihm festgestellten Sachverhalt dahin, daß ab die Anstaltspflege der Klägerin zwar nicht mehr durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt gewesen sei, weil sie keine Medikamente mehr erhalten habe und die Gesprächstherapie "unter Umständen" auch außerhalb einer Krankenanstalt hätte durchgeführt werden können. Obwohl demnach ein Fall der Asylierung vorgelegen sei, habe die Klägerin Anspruch auf Gewährung der Anstaltspflege bis . Ihr Anspruch sei nämlich nicht gemäß § 100 Abs 1 lit a ASVG ohne weiteres Verfahren erloschen, weil diese Bestimmung nur angewendet werden könne, wenn eindeutig sei, daß die Voraussetzungen für den Anspruch weggefallen sind. Dies treffe aber bei einem Asylierungsfall nicht zu, weil die Abgrenzung zu einem Behandlungsfall in der Regel nur mit Hilfe eines Sachverständigen vorgenommen werden könne. In einem solchen Fall müsse die Leistung daher gemäß § 99 Abs 1 ASVG entzogen werden. Dies sei erst durch den Bescheid der beklagten Partei vom mit Wirkung ex nunc geschehen, weshalb die beklagte Partei bis zu diesem Tag die Anstaltspflege zu gewähren habe.

Das Berufungsgericht wies infolge Berufung der beklagten Partei das Klagebegehren zur Gänze ab und sprach aus, daß der Wert des Entscheidungsgegenstandes 50.000 S übersteigt. Bei der Gewährung der Anstaltspflege handle es sich um eine laufende Leistung in der Krankenversicherung, die § 100 Abs 1 lit a ASVG zu unterstellen sei. In einem solchen Fall sei aber die Anwendung des § 99 Abs 1 ASVG ausgeschlossen. Der vom Erstgericht unternommene Versuch einer teleologischen Reduktion des § 100 Abs 1 lit a ASVG sei nicht gangbar, weil aus den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage dieses Gesetzes geschlossen werden müsse, daß der Gesetzgeber keine Ausnahme von dem in der Krankenversicherung allein vorgesehenen Erlöschen des Anspruchs zulassen habe wollen.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn der Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Der Oberste Gerichtshof pflichtet dem Berufungsgericht allerdings darin bei, daß die Regelung des § 99 Abs 1 ASVG über die Entziehung von Leistungsansprüchen nicht angewendet werden kann, wenn die Anstaltspflege nicht durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt ist und daher gemäß § 144 Abs 3 ASVG als Fall der Asylierung nicht gewährt wird. Gemäß § 99 Abs 1 ASVG ist die Leistung nämlich nur zu entziehen, sofern nicht der Anspruch hierauf gemäß § 100 Abs 1 ohne weiteres Verfahren erlischt. Dies ist aber im § 100 Abs 1 lit a ASVG für den Anspruch auf eine laufende Leistung in der Krankenversicherung vorgesehen, wenn die Voraussetzungen für den Anspruch weggefallen sind. Ein Anspruch auf Gewährung der Anstaltspflege ist als Anspruch auf eine laufende Leistung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen, zumal darunter, wie das Berufungsgericht unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialen (EB zur RV des ASVG 599 BlgNR 7.GP, 44) richtig erkannte, Leistungen zu verstehen sind, die auf bestimmte und unbestimmte Dauer gewährt und in regelmäßig wiederkehrenden Zeiträumen "flüssig gemacht" (erbracht) werden.

Auch der Oberste Gerichtshof ist wie schon das Berufungsgericht der Meinung, daß das Erlöschen des Anspruchs auf Anstaltspflege gemäß § 144 Abs 3 ASVG wegen Wegfalls der Notwendigkeit ärztlicher Behandlung nicht im Wege der teleologischen Reduktion (vgl hiezu F.Bydlinski in Rummel, ABGB2 I Rz 7 zu § 7 mwN aus dem Schrifttum und der Rechtsprechung) vom § 100 Abs 1 lit a ASVG ausgenommen werden kann. Der Gesetzgeber ist zwar bei Schaffung der angeführten Regelung davon ausgegangen, in der Krankenversicherung trete der Wegfall der Voraussetzungen des Anspruchs so eindeutig an den Tag, daß sich ein weiteres Verfahren hierüber erübrigt (EB zur RV des ASVG aaO). Dies trifft aber auch in anderen Bereichen höchstens auf den Regelfall zu. So kann es etwa auch beim Anspruch auf Krankengeld trotz der entsprechenden Aussage eines Arztes in besonderen Fällen nicht eindeutig sein, ob die Arbeitsfähigkeit wieder gegeben oder Krankenbehandlung noch notwendig ist (aM aber anscheinend Schrammel in Tomandl, System 2.1.6.3. 3.ErgLfg 182). Auf der anderen Seite sind auch Fälle denkbar, in denen unschwer erkennbar ist, daß die weitere Anstaltspflege nicht durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt ist. Es kann somit nicht gesagt werden, daß der Fall der Asylierung von den anderen Fällen, in denen in der Krankenversicherung die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine laufende Leistung wegfallen können und der Anspruch hierauf daher gemäß § 100 Abs 1 lit a ASVG ohne weiteres Verfahren erlöschen kann, so verschieden ist, daß die Gleichbehandlung sachlich ungerechtfertigt und willkürlich wäre. Eher ist anzunehmen, der Gesetzgeber im Sinn der beabsichtigten Verwaltungsvereinfachung gewisse Härtefälle bewußt in Kauf genommen hat (ebenso für die Asylierungsfälle Schrammel aaO 183). All dies schließt aber die teleologische Reduktion des § 100 Abs 1 lit a ASVG aus (vgl F.Bydlinski aaO).

Zu beachten ist aber § 107 Abs 1 ASVG, wonach der Versicherungsträger unter bestimmter Voraussetzung unter anderem zu Unrecht "erbrachte" Aufwendungen für Anstaltspflege zurückzufordern hat. Ein Leistungsempfänger ist also zum Ersatz von Aufwendungen für die Anstaltspflege, die nach dem Erlöschen seines Anspruchs auf diese Leistung und daher zu Unrecht im Sinn der angeführten Gesetzesstelle erbracht wurden, nur unter den Voraussetzungen verpflichtet, die in der angeführten Gesetzesstelle festgelegt sind. Die Aufwendungen für die Anstaltspflege bestehen darin, daß der Versicherungsträger die der Krankenanstalt gebührenden Pflegegebühren entrichtet hat (vgl § 148 Z 2 ASVG und die hiezu ergangenen Ausführungsgesetze der Länder, hier also § 44 StmkKAG). Ist dies bereits geschehen, so kann er den entsprechenden Betrag von demjenigen, der sich in Anstaltspflege befand, somit auch dann nur unter bestimmten Voraussetzungen zurückfordern, wenn der Anspruch auf Gewährung der Anstaltspflege schon gemäß § 100 Abs 1 lit a ASVG erloschen war. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes wäre es aber nicht zu rechtfertigen, den Fall, in dem die Pflegegebühren noch nicht entrichtet und dem Versicherungsträger daher Aufwendungen noch nicht entstanden sind, anders zu behandeln und damit das Risiko der Tragung der Kosten der Anstaltspflege dem Patienten aufzuerlegen, der von sich aus in der Regel nicht in der Lage sein wird, zu beurteilen, ob noch ein Behandlungsfall vorliegt, und sein Verhalten danach einzurichten (Verlassen der Krankenanstalt). Es ist vielmehr anzunehmen, daß das Unterbleiben einer entsprechenden Regelung eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes bildet; dies ermöglicht und gebietet aber die sinngemäße Anwendung des § 107 ASVG (vgl F.Bydlinski aaO Rz 2 zu § 7 mwN aus dem Schrifttum und der Rechtsprechung).

Der Versicherungsträger ist daher unabhängig davon, ob der Anspruch auf Gewährung der Anstaltspflege schon gemäß § 100 Abs 1 lit a iVm § 134 Abs 3 ASVG erloschen ist, weil die Anstaltspflege nicht mehr durch die Notwendigkeit der ärztlichen Behandlung bedingt ist, verpflichtet, die Pflegegebühren zu entrichten, wenn gegebenenfalls die Voraussetzungen für die Rückforderung bereits entstandener Aufwendungen nicht gegeben wären. Von den im § 107 Abs 1 ASVG hiefür festgelegten Voraussetzungen wird am ehesten in Betracht kommen, daß der Leistungsempfänger erkennen mußte, daß die Leistung nicht (mehr) gebührt. Sieht man von besonders gelagerten Fällen ab, wird dies jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Fall sein, in dem der Versicherungsträger die Weitergewährung der Anstaltspflege ablehnt, wobei hiefür nicht ein Bescheid erforderlich ist, sondern auch eine andere eindeutige Form der Mitteilung genügt. Wird nämlich der Leistungsempfänger von einer hiefür zuständigen Stelle auf die Umstände aufmerksam gemacht, die das Erlöschen seines Anspruchs bewirken, so kann er sich nicht mehr mit Erfolg darauf berufen, daß er das Erlöschen nicht im Sinn des § 107 Abs 1 ASVG hätte erkennen müssen.

Das Gesagte gilt auch dann, wenn die Lösung der Frage, ob der Anspruch erloschen ist, vom Gutachten eines Sachverständigen abhängt und möglicherweise auch im Rahmen der rechtlichen Beurteilung einen Grenzfall bildet. Ein Rechtsirrtum ist im allgemeinen zwar nur vorwerfbar, wenn die richtige rechtliche Beurteilung bei Anwendung der gehörigen Aufmerksamkeit hätte erreicht werden können (F.Bydlinski aaO Rz 3 zu § 2), wobei dies in den Asylierungsfällen sehr oft zu verneinen sein wird. Der Zweck der Regelung des § 107 ASVG erfordert aber ein anderes Verständnis des Verschuldens, weil durch diese Bestimmung vermieden werden soll, daß der Leistungsempfänger im Genuß einer Leistung verbleibt, die ihm zu Unrecht gewährt wird. Unter diesem Gesichtspunkt muß es bei einer laufenden Leistung daher genügen, wenn er die Möglichkeit ernstlich in Betracht ziehen mußte, daß ihm die Leistung zu Unrecht gewährt wird. Dies ist aber der Fall, wenn ihm in eindeutiger Form mitgeteilt wird, daß die Voraussetzungen für die Gewährung der Anstaltspflege nicht (mehr) vorliegen, und zwar auch dann, wenn dem Leistungsempfänger abweichende ärztliche Meinungen bekannt sind.

Die dargelegte Rechtsansicht wurde bisher offensichtlich weder von den Vorinstanzen noch von den Parteien bedacht. Der Oberste Gerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß die Parteien nicht mit einer Rechtsansicht überrascht werden dürfen, die sie nicht beachtet haben und auf die sie nicht aufmerksam gemacht wurden (SZ 42/28; SZ 50/35; JBl 1988, 370 ua). Da dies hier der Fall ist, müssen die Urteile der Vorinstanzen im Umfang der Anfechtung aufgehoben werden, um den Parteien Gelegenheit zu einem der dargestellten Rechtslage entsprechenden Vorbringen und erforderlichenfalls der zum Beweis des Vorbringens notwendigen Anträge zu geben.

Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.