OGH vom 23.05.2000, 10ObS304/99z

OGH vom 23.05.2000, 10ObS304/99z

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Hübner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerd Swoboda (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Edith B*****, vertreten durch Dr. Gabriele Vana-Kowarzik, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Bundespensionsamt, Barichgasse 38, 1031 Wien, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Rs 116/99y-19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom , GZ 21 Cgs 104/98g-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben:

Das Klagebegehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ein Pflegegeld der Stufe 1 ab zu bezahlen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom auf Zuerkennung des Pflegegeldes ab. In der dagegen eingebrachten, erkennbar auf Zuerkennung des Pflegegeldes gerichteten Klage macht die Klägerin geltend, dass sie infolge von Muskelkrämpfen und Atemnot fremde Hilfe insbesondere beim Kochen, bei der täglichen Körperpflege und beim Ankleiden benötige. Die beklagte Partei beantragt die Abweisung des Klagebegehrens und wendet ein, dass der Pflegebedarf der Klägerin lediglich 30 Stunden monatlich betrage, sodass kein Anspruch auf Pflegegeld bestehe.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei, der klagenden Partei ein Pflegegeld der Stufe 1 ab zu gewähren. Dabei ging es von folgenden wesentlichen Feststellungen aus:

Die Klägerin kann aufgrund ihrer im Einzelnen festgestellten gesundheitlichen Leiden nicht mehr die Wohnung gründlich aufräumen, die große Wäsche besorgen und den großen Lebensmitteleinkauf tätigen. Sie kann nur mehr maximal 2 bis 3 Minuten am Herd stehend kochen und andere Kochvorgänge durchführen, danach benötigt sie eine "sitzende Pause" von 5 bis 10 Minuten.

Rechtlich folgerte das Erstgericht, dass der Klägerin zufolge ihres durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich betragenden Pflegebedarfs ein Pflegegeld der Stufe 1 gebühre. Für die Hilfsverrichtungen der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie der Pflege der Leib- und Bettwäsche gebühre der Klägerin ein fixer Zeitwert von jeweils 10 Stunden monatlich (zusammen sohin 30 Stunden monatlich). Hinzu kämen gemäß § 1 Abs 4 EinstV weitere 30 Stunden monatlich für die Zubereitung von Mahlzeiten. Wenn auch die Zubereitung von Mahlzeiten aus Einzelhandlungen bestehe, die sowohl im Sitzen als auch im kurzfristigen Stehen erledigt werden können, sei ein Zeitraum von 2 bis 3 Minuten im Stehen zu kurz, um einen Arbeitsschritt im Rahmen des Kochvorganges zu Ende zu führen.

Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es übernahm die Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes und trat dessen rechtlicher Beurteilung bei. Aus der bezüglich der Zubereitung von Mahlzeiten "einschränkendsten" Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 10 ObS 82/97z sei zu entnehmen, dass der Oberste Gerichtshof die Möglichkeit, bei der Zubereitung von Mahlzeiten 10 Minuten zusammenhängend zu stehen, als "Untergrenze" betrachte. Könne daher jemand nur mehr 2 bis 3 Minuten stehen und müssen anschließend 5 bis 10 Minuten sitzen, sei ihm die Zubereitung einer ordentlich gekochten Mahlzeit nicht mehr möglich. Ein Niedersetzen etwa während des Abbratens eines Schnitzels sei wegen der Gefahr hochspritzenden Fettes unzumutbar. Bei der Verwendung von Deckeln könne der Garungsprozess nicht hinreichend beobachtet werden. Gerade ältere gebrechliche Menschen seien in der Abwicklung auch gewohnter Vorgänge langsamer und schwerfälliger.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision ist zulässig (§ 46 Abs 3 Z 3 ASGG) und rechtzeitig; die Klägerin gibt für ihren Zurückweisungsantrag keine nähere Begründung. Die Revision ist im Übrigen auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nach § 503 Z 2 ZPO liegt jedoch nicht vor; diese Beurteilung bedarf nach § 510 Abs 3 Satz 3 ZPO keiner Begründung. Soweit die Revisionswerberin unter diesem Rechtsmittelgrund (vermeintliche) Widersprüche in den medizinischen Sachverständigengutachten rügt, ist darauf hinzuweisen, dass dem Obersten Gerichtshof die Überprüfung der Beweiswürdigung entzogen ist (Kodek in Rechberger, ZPO2 Rz 1 zu § 503).

Berechtigt ist jedoch die Rechtsrüge der Revisionswerberin:

Die 77-jährige Klägerin hat unstrittig einen monatlichen Pflegebedarf von 30 Stunden für die Hilfsverrichtungen der Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, der Reinigung der Wohnung sowie der Pflege der Wäsche (§ 2 Abs 2 und 3 EinstV). Gegenstand des Revisionsverfahrens bildet lediglich die Frage, ob die Klägerin auch noch bei der Zubereitung von Mahlzeiten der zusätzlichen Betreuung im Ausmaß von 30 Stunden monatlich bedarf und sodann aufgrund eines Pflegebedarfes von insgesamt durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 hat. Dies wurde von den Vorinstanzen bejaht, wird jedoch von der Revisionswerberin zu Recht bestritten.

Die Frage entzündet sich an der vom Erstgericht getroffenen und vom Berufungsgericht gebilligten Feststellung, dass die Klägerin aufgrund ihrer im Einzelnen festgestellten gesundheitlichen Leiden nur mehr maximal 2 bis 3 Minuten am Herd stehend kochen und andere Kochvorgänge durchführen kann und anschließend eine "sitzende Pause" von 5 bis 10 Minuten benötigt. Die getroffenen Feststellungen der Tatsacheninstanzen sind für den Obersten Gerichtshof bindend; von diesen ist bei der Prüfung der rechtlichen Beurteilung auszugehen (Kodek aaO Rz 9 zu § 471). Für davon abweichende Berechnungen der Revisionswerberin bleibt daher kein Raum. Dabei sind zunächst vor allem folgende rechtliche Überlegungen voranzustellen:

Für eine dem allgemeinen Standard angemessene menschengerechte Lebensführung ist einmal täglich die Einnahme einer ordentlich gekochten warmen Mahlzeit erforderlich, deren Zubereitung nicht nur eine ganz kurze Zeit in Anspruch nimmt. Es ist einem Versicherten nicht zumutbar, sich ausschließlich von aufgewärmten Speisen zu ernähren, wenngleich bei Prüfung des für die Speisenzubereitung notwendigen Aufwandes das handelsübliche Angebot an Tiefkühlkost und Fertiggerichten zu berücksichtigen ist (SSV-NF 5/46, 8/104 ua). Um für seine Ernährung selbst vorzusorgen, ist es nicht erforderlich, dass der Betroffene in der Lage ist, mehrgängige Menüs zu kochen. Kann er noch eine aus Fleisch, Zuspeise und Salat bestehende Mahlzeit selbst herstellen, ist in der Regel sichergestellt, dass er sich aus eigenem auf angemessene Weise ernähren kann (SSV-NF 9/66 ua).

Bei der Beurteilung der Frage der Zumutbarkeit der Zubereitung von Mahlzeiten handelt es sich primär um einen Aspekt der rechtlichen Beurteilung, sodass der diesbezüglichen Ansicht eines medizinischen Sachverständigen, der Klägerin sei es "sicherlich" möglich, den kompletten Kochvorgang im Sitzen durchzuführen, nur Relevanz in tatsächlicher Hinsicht zukommt. Der Sachverständige relativierte seine Auffassung aber ohnehin durch den Zusatz "aus medizinischer Sicht" und schränkte im Übrigen auch dahin ein, dass er nicht beurteilen könne, ob ein Kochen im Sitzen "technisch" möglich sei (ON 9, AS 26).

Wie der Senat bereits erkannt hat, ist es offenkundig und bedarf keines Beweises, dass auch die Zubereitung warmer Mahlzeiten nicht ununterbrochenes Arbeiten im Stehen erfordert, sondern weitgehend im Sitzen verrichtet werden kann (SSV-NF 11/57). Die Zubereitung von Mahlzeiten besteht aus einer Summe von Einzelhandlungen, die sowohl im Sitzen als auch abwechselnd im kurzfristigen Stehen erledigt werden können (SSV-NF 11/36; infas 1997, S 35 ua). Es entspricht der Rechtsprechung des Senates, dass die bloße Unfähigkeit, zusammenhängend länger als 10 bis 15 Minuten zu stehen, noch keinen Betreuungsbedarf für die Zubereitung von Mahlzeiten auslöst (SSV-NF 11/36; infas 1997, S 35; 10 ObS 246/98v ua). Somit ist in der Regel der Versicherte, der noch zusammenhängend 10 Minuten gehen und stehen kann, auch noch in der Lage, aus Frischprodukten eine komplette, aus einem Gang bestehende Mahlzeit zuzubereiten (SSV-NF 11/36). Aus dieser vom Berufungsgericht besonders hervorgehobenen Entscheidung kann nicht abgeleitet werden, dass der Senat ein 10-minütiges zusammenhängendes Gehen und Stehen als "Untergrenze" für die selbständige Zubereitung von Mahlzeiten angesehen hat. In der genannten Entscheidung war - fallbezogen - ein Wert von 10 Minuten zu beurteilen; der Senat hielt hiezu fest, dass jene Überlegungen, die (laut der vorhergehenden Rechtsprechung) für die Fähigkeit, noch ununterbrochen 15 Minuten zu stehen, gelten, auch bei einem selbst nur 10-minütigen selbständigen und zusammenhängenden Gehen und Stehen gelten muss.

Wie bereits ausgeführt, entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senates, dass die Zubereitung von Mahlzeiten weitgehend im Sitzen verrichtet werden kann und für einzelne Kochhandlungen ein kurzfristiges Stehen genügt. Damit erweisen sich auch die Bedenken des Berufungsgerichtes bezüglich eines allfälligen "Anbrennens" des Kochgutes als unbegründet. Einem solchen kann insbesondere durch kurze Kontrollen, Umrühren, Wenden des Kochgutes etc begegnet werden. Gegen die vom Berufungsgericht hervorgehobenen spritzenden Fette ist der Klägerin die Verwendung von Topf- und Pfannen-Deckeln zumutbar.

Die Zubereitung von Mahlzeiten erfordert es nicht, dass dieser Aufwand jeweils in einem Zuge und durchgehend erbracht werden muss. Auch wenn der Versicherte nur mehr maximal 2 bis 3 Minuten vor dem Herd stehend kochen kann und anschließend eine "sitzende Pause" von 5 bis 10 Minuten braucht - wobei davon auszugehen ist, dass sich diese Pause im Falle der Klägerin ganz offensichtlich nur auf das Stehen selbst (und nicht etwa auf den Kochvorgang als solchen) bezieht - ist dem Betreffenden noch in zumutbarer Weise die Zubereitung von Mahlzeiten möglich. Dabei wird nicht verkannt - wie schon das Berufungsgericht zutreffend aufzeigte - dass gerade ältere und gebrechliche Menschen in ihren Verrichtungen vielfach langsamer und schwerfälliger sind. Es darf aber andererseits auch nicht übersehen werden, dass die Zubereitung von Mahlzeiten - wie im Übrigen auch schon das Berufungsgericht erwähnte - in der Regel aus "gewohnten Vorgängen" besteht, sodass gerade was Brat- und Garzeiten, Temperaturen, Häufigkeit des Umrührens, Wendens des Kochgutes, Gefahr des Spritzens etc betrifft die mit der Zubereitung von Mahlzeiten zwangsläufig einhergehende Routine den gesamten Ablauf in der Praxis gegenüber bloß theoretischen Überlegungen erheblich erleichtert. Während Vorbereitungshandlungen beim Kochen und das Abwarten der Garzeit ohnehin unstrittig in sitzender Körperhaltung erfolgen können (vgl 10 ObS 134/97x), sind der Klägerin nach den Verfahrensergebnissen auch noch ein kurzfristiges Überwachen des Kochvorganges im Stehen und auch kurze Manipulationen am Kochgut ebenfalls im Stehen möglich. Die Kontrolle des Kochvorganges erfordert jeweils nur einen ganz kurzen Zeitraum, der jeweils unter 2 bis 3 Minuten liegt; es genügen regelmäßig nur einige Sekunden, um etwa den Fortschritt des Garvorganges zu beobachten, sodass auch zwischen den wiederholten Kontrollen nur kürzere Pausen notwendig sind. Es wird nicht übersehen, dass die Verrichtung einzelner Handlungen beim Kochen im Stehen, wenn es der Betreffende so gewöhnt ist, vielfach bequemer als deren Verrichtung im Sitzen empfunden werden mag; die Grenze der Zumutbarkeit wird jedoch nach Ansicht des Senates bei der Verrichtung dieser Vorgänge weitgehend im Sitzen nicht überschritten.

Die Klägerin besitzt nach den Verfahrensergebnissen, insbesondere den eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten, trotz der feststehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch die nötige Gewandtheit, sich nicht bloß unter Verwendung etwa handelsüblicher Tiefkühlkost und Fertiggerichte zu ernähren, sondern grunsätzlich auch aus Frischprodukten komplette, aus einem Gang bestehende Mahlzeiten zuzubereiten. Abstellend auf den konkreten Einzelfall liegen daher bei der Klägerin die Voraussetzungen für einen weiteren Betreuungsaufwand für die Zubereitung von Mahlzeiten gemäß § 1 Abs 4 zweiter Fall EinstV entgegen der Ansicht der Vorinstanzen nicht vor.

Der Vollständigkeit halber ist noch darauf hinzuweisen, dass im Hinblick auf die am in Kraft getretenen Novelle zum BPGG BGBl I 1998/111 und das zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossene gerichtliche Verfahren gemäß § 48 Abs 1 BPGG für die Zeit bis zum für die Beurteilung des Anspruches der Klägerin die Bestimmungen des § 4 BPGG vor der Novelle samt EinstV BGBl 1993/314 zugrunde zu legen sind (10 ObS 372/97x; 10 ObS 165/99h ua). Für die Zeit ab dem ist der Anspruch hingegen nach der neuen Rechtslage zu beurteilen, wobei allerdings die zitierte EinstV erst mit Wirksamkeit vom aufgehoben und durch die neue EinstV BGBl II 1999/37 ersetzt wurde. Die Anwendung der neuen Rechtslage führt allerdings zu keinem anderen Ergebnis; die hier maßgeblichen Bestimmungen des § 4 Abs 2 Sufe 1 BPGG und des § 1 Abs 4 zweiter Fall EinstV blieben nämlich unverändert.

Der Revision der beklagten Partei ist daher Folge zu geben; die Urteile der Vorinstanzen sind im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.