OGH vom 01.03.2011, 14Os188/10v

OGH vom 01.03.2011, 14Os188/10v

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bergmann als Schriftführerin in der Strafsache gegen Julius M***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 334 HR 436/08g des Landesgerichts für Strafsachen Wien (AZ 608 St 1/08w der Staatsanwaltschaft Wien), über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom , AZ 22 Bs 308/09v, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Seidl, des Beschuldigten Erwin L***** und seines Verteidigers Dr. Moringer zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache AZ 334 HR 436/08g des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom , AZ 22 Bs 308/09v, in seinem Ausspruch, dass durch Verweigerung der Ausfolgung einer Kopie des Protokolls über die Vernehmung des Erwin L***** vom keine Rechtsverletzung erfolgte, das Gesetz in § 96 Abs 5 zweiter Satz StPO.

Dieser Beschluss, der im Übrigen unberührt bleibt, wird in diesem Umfang aufgehoben und es wird insoweit in der Sache selbst erkannt:

Der Beschwerde des Beschuldigten Erwin L***** gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom , GZ 334 HR 436/08g-594, wird Folge gegeben und festgestellt, dass der Beschuldigte durch Verweigerung der Ausfolgung einer Kopie des Protokolls über seine am durchgeführte Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft in seinem in § 96 Abs 5 zweiter Satz StPO normierten subjektiven Recht verletzt wurde.

Text

Gründe:

Bei der Staatsanwaltschaft Wien ist zur Zahl 608 St 1/08w ein Ermittlungsverfahren gegen Julius M*****, mehrere Vorstands und Aufsichtsratsmitglieder der M*****, der M***** Ltd, der Julius M***** AG und der M***** AG und andere Beschuldigte unter anderem wegen des Verdachts des Verbrechens der Untreue nach §§ 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall, 12 StGB zum Nachteil der M***** bzw deren Zertifikatsinhaber anhängig, welches durch nicht ordnungsgemäß veröffentlichten Zertifikatsrückkauf, Ankauf eigener Zertifikate zu überhöhtem Preis, Zurverfügungstellung von Geldern an die M***** AG im Rahmen des Placement- und Market Maker Agreements und Zahlung bezughabender Gebühren sowie Beitragshandlungen dazu begangen worden sein soll.

Am wurde der seit bei der M***** AG beschäftigte Erwin L***** als Zeuge vernommen (ON 270). Im Zuge der Vernehmung ergab sich nach Ansicht des vernehmenden Staatsanwalts der Verdacht, „dass der Zeuge in die strafbaren Handlungen verwickelt ist“. Daraufhin wurde die Vernehmung als Zeuge abgebrochen und im Protokoll festgehalten, dass diese „nunmehr als Beschuldigtenvernehmung fortgesetzt“ werde, worauf Erwin L***** um Verlegung der Vernehmung auf einen späteren Zeitpunkt ersuchte. Diesem Begehren wurde entsprochen (ON 270 S 13).

Am verfügte der Staatsanwalt schriftlich im Antrags- und Bewilligungsbogen die Beschränkung der Akteneinsicht gemäß § 51 Abs 2 StPO hinsichtlich des Protokolls über die Vernehmung des Erwin L***** am mit der Begründung, dass durch entsprechende Akteneinsicht der Zweck des Ermittlungsverfahrens gefährdet wäre, „da der ständige Kontakt der Beschuldigten am Arbeitsplatz Absprachen der Beschuldigten befürchten lässt“ (ON 1 S 41).

Mit Schriftsatz vom beantragte der Verteidiger des Erwin L***** Akteneinsicht in der Form zu gewähren, dass eine Kopie des Protokolls über die in Rede stehende Vernehmung zur Verfügung gestellt werde. Diesem Begehren wurde nicht entsprochen.

Den (unter anderem) dagegen gerichteten Einspruch des Beschuldigten wegen Rechtsverletzung (ON 446) wies die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit Beschluss vom , AZ 334 HR 436/08g, ab (ON 594). Seiner dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom , AZ 22 Bs 308/09v, soweit hier wesentlich dahin Folge, dass eine Verletzung des nach § 51 StPO eingeräumten Rechts durch die Verweigerung der Akteneinsicht in das über die Vernehmung des Beschwerdeführers errichtete Protokoll vom wegen Fehlens der Vorraussetzungen des § 51 Abs 2 StPO festgestellt wurde.

In der Verweigerung der Ausfolgung einer Abschrift oder Kopie dieses Protokolls an den Beschuldigten erblickte das Oberlandesgericht dagegen mit der Begründung keine Rechtsverletzung, dass sich die Prüfung einer solchen auf die von einem ex-ante-Standpunkt aus zu erfolgende Kontrolle der Rechtmäßigkeit der bekämpften Maßnahme zu beschränken habe, wobei bloß willkürliches, nicht aber im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens liegendes Vorgehen der Staatsanwaltschaft bei Wahrnehmung ihrer Befugnisse eine Rechtsverletzung darstelle. Davon ausgehend habe das Erstgericht zu Recht angenommen, dass die begehrte Aktenabschrift im vorliegenden Fall dem Zweck der beschränkten Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren widerspreche, weil der Beschuldigte Erwin L***** als Prokurist der M***** AG in ständigen Kontakten mit einigen der Mitbeschuldigten stehe, die solcherart in Kenntnis des genauen Wortlauts der Vernehmung gelangen würden, was eine Erleichterung allfälliger Absprachen befürchten ließe (§ 96 Abs 5 erster Satz StPO).

Eine Abschrift oder Kopie des Protokolls wurde bislang weder an den Beschuldigten noch seinen Verteidiger ausgefolgt.

Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, steht der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Rechtliche Beurteilung

Das Recht des Beschuldigten, in die Akten Einsicht zu nehmen, regelt § 51 StPO. Nach Abs 2 dieser Bestimmung darf Akteneinsicht mit Ausnahme des hier nicht aktuellen Falls des Bestehens der in § 162 StPO angeführten Gefahr nur vor Beendigung des Ermittlungsverfahrens und nur soweit beschränkt werden, als besondere Umstände befürchten lassen, dass durch eine sofortige Kenntnisnahme von bestimmten Aktenstücken der Zweck der Ermittlungen gefährdet wäre.

Während sich für nach Maßgabe des Vorgesagten zur Akteneinsicht berechtigte Beschuldigte (sowie weil § 68 Abs 1 und 2 StPO auf §§ 51 und 52 StPO verweist Privatbeteiligte, Privatankläger und Opfer) aus § 52 Abs 1 StPO ein von den hier nicht in Rede stehenden Beschränkungen im zweiten Halbsatz abgesehen unbedingter Anspruch auf Ausfolgung von Kopien ergibt, sieht § 96 Abs 5 zweiter Halbsatz StPO in Bezug auf Protokolle über die Aufnahme von Beweisen im Sinn des Abs 1 dieser Norm vor, dass eine Kopie hievon jeder zur Akteneinsicht berechtigten vernommenen Person auf deren Verlangen sogleich auszufolgen ist, sofern dem schutzwürdige Interessen des Verfahrens oder Dritter nicht entgegenstehen.

Das Recht auf Ausfolgung von Kopien des Protokolls über die eigene Vernehmung weitergehenderen Beschränkungen zu unterwerfen, als in Bezug auf sonstige Aktenteile, von denen der zur Akteneinsicht Berechtigte noch gar keine Kenntnis hatte, ist dem Gesetzgeber nicht zuzusinnen.

Soweit ein solcher Antrag eines zur Akteneinsicht berechtigten Beschuldigten, Privatbeteiligten, Privatanklägers oder Opfers im Ermittlungsverfahren in Rede steht, ist bei Beurteilung der Frage, ob dessen Stattgebung schutzwürdige Interessen des Verfahrens entgegenstehen, daher derselbe, jedenfalls aber kein strengerer (inhaltlicher Prüfungs-)Maßstab anzulegen als bei der Verweigerung bzw Beschränkung der Akteneinsicht nach § 51 Abs 2 StPO ( Vogl , WK-StPO § 96 Rz 11). Wird daher dem Beschuldigten wie im vorliegenden Fall Akteneinsicht in das Protokoll über seine Vernehmung zugebilligt, so darf ihm die Ausfolgung einer Abschrift oder Kopie derselben nicht verweigert werden. Eine solche Maßnahme wäre eben nur dann zulässig, wenn in Ansehung dieses Protokolls die Voraussetzungen für eine Beschränkung der Akteneinsicht gemäß § 51 Abs 2 StPO vorlägen, was das Beschwerdegericht verneinte. Folglich hätte es eine durch Verweigerung der Ausfolgung einer Kopie des Protokolls verwirklichte Rechtsverletzung feststellen müssen, womit der angefochtene Beschluss das Gesetz in § 96 Abs 5 zweiter Satz StPO verletzt.

Angesichts dieser Gesetzesverletzungen sah sich der Oberste Gerichtshof über deren Feststellung hinaus zur Beschlussaufhebung im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang und Entscheidung in der Sache selbst veranlasst. Die Staatsanwaltschaft hat den dieser Entscheidung entsprechenden Rechtszustand mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln (durch Ausfolgung einer Kopie des Protokolls) herzustellen (§ 107 Abs 4 StPO).