OGH vom 11.05.2007, 10ObS30/07w
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dipl. Tierarzt Andreas Krösen (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johann R*****, vertreten durch Dr. Georg Maxwald und Dr. Georg Bauer, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 12 Rs 110/06t-20, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 8 Cgs 344/04b-16, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichtes zu lauten hat:
„Der Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension besteht dem Grunde nach ab dem zu Recht. Die Leistung fällt erst an, wenn der Kläger seine Tätigkeit als Handelsvertreter aufgibt. Der beklagten Partei wird aufgetragen, dem Kläger ab Aufgabe seiner Tätigkeit als Handelsvertreter bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von EUR 300 monatlich jeweils zum Monatsersten im Nachhinein zu erbringen."
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 333,12 (darin enthalten EUR 55,52 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am geborene Kläger hat eine Hafner- und Fliesenlegerlehre ohne Lehrabschlussprüfung absolviert. Ab 1982 war er als Angestellter im Außendienst beschäftigt und hat Non-Food-Artikel für die Gastronomie vertrieben. Ab 1994 führte er - mit Unterbrechungen - eine völlig gleichartige Tätigkeit als Selbständiger aus. Im Zeitraum von bis hat er Beitragszeiten nach dem ASVG im Ausmaß von 54 Monaten und 11 Tagen zurückgelegt, weiters 50 Monate als Beitragszeiten nach dem GSVG. Auch seit ist er selbständig erwerbstätig und übt nach wie vor dieselbe Tätigkeit aus. Er unterlag bis zum Stichtag während 51 Kalendermonaten weiterhin der Versicherungspflicht nach dem GSVG, hat allerdings die ihm vorgeschriebenen Beiträge für diesen Zeitraum nicht geleistet.
Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, Tätigkeiten im Außendienst zu verrichten.
Strittig ist im nunmehrigen Verfahren allein noch die Frage, ob der Kläger zu dem (während des sozialgerichtlichen Verfahrens durch Vollendung des 57. Lebensjahres ausgelösten) Stichtag die Voraussetzungen des § 255 Abs 4 (§ 273 Abs 2) ASVG erfüllt; zu diesem Stichtag ist die beklagte Pensionsversicherungsanstalt leistungszuständig.
Das Erstgericht stellte den Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitspension ab als dem Grunde nach zu Recht bestehend fest und trug der beklagten Partei bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von EUR 300 monatlich auf. Nach dem Wortlaut des § 255 Abs 4 ASVG genüge die Ausübung einer gleichartigen Tätigkeit durch mindestens 120 Kalendermonate hindurch; nicht erforderlich für die Erlangung des Tätigkeitsschutzes sei hingegen, dass der Versicherte durch die Ausübung dieser Tätigkeit auch entsprechende Beitragsmonate erwerbe. Die Nichtentrichtung der Beiträge ab wirke sich daher beim Kläger nur auf die Pensionshöhe aus, ändere aber nichts daran, dass er durch die weitere Ausübung derselben versicherungspflichtigen Tätigkeit bis zum Stichtag die Anspruchsvoraussetzungen für die Berufsunfähigkeitspension erfülle:
Er weise nunmehr nämlich insgesamt mehr als 120 Kalendermonate auf, während derer er ein und dieselbe Tätigkeit im Außendienst ausgeübt habe, die ihm nach dem ihm verbliebenen Leistungskalkül ab nicht mehr möglich sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im klagsabweisenden Sinn ab. Die Begriffe „Beitragsmonat" und „Kalendermonat" seien grundsätzlich nicht gleichzusetzen. Der Gesetzgeber verfolge mit der Differenzierung unterschiedliche Regelungsziele. In § 255 Abs 4 ASVG, der auf unselbständig Erwerbstätige zugeschnitten sei, diene die Verwendung des Begriffs „Kalendermonat" ganz offensichtlich dazu, dass dem Versicherten der Tätigkeitsschutz nur dann zugute kommen solle, wenn er die betreffende Tätigkeit im Beobachtungszeitraum durch mindestens 120 volle Monate ausgeübt habe. Ob es sich dabei jeweils um beitragsgedeckte Zeiten handle, sei im Geltungsbereich des ASVG ohne Bedeutung, weil für die diesem Gesetz unterliegenden Versicherten schon die Anmeldung zur Pflichtversicherung binnen sechs Monaten nach Beginn der unselbständigen Beschäftigung zur Begründung von Beitragszeiten der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung genüge (§ 225 Abs 1 Z 1 lit a ASVG). Dies zeige, dass der Gesetzgeber bei der Konzeption des § 255 Abs 4 ASVG mit der Verwendung des Begriffes „Kalendermonate" keine Abgrenzung von „Beitragsmonaten" vornehmen habe wollen; vielmehr habe er voraussetzen können, dass es sich bei den „Kalendermonaten" jedenfalls um Beitragszeiten nach dem ASVG handle.
Soweit für die Erfüllung des im § 255 Abs 4 ASVG vorgesehenen Tätigkeitszeitraumes von mindestens 120 Kalendermonaten auch gleichartige, nach dem GSVG versicherte selbständige Tätigkeiten zu berücksichtigen seien, sei zu bedenken, dass für den Bereich des GSVG als Versicherungszeiten (Beitragszeiten) nur jene Zeiten einer Beitragspflicht nach dem GSVG gelten, für die die Beiträge auch wirksam entrichtet worden seien (§ 115 Abs 1 Z 1 iVm § 118 GSVG); eine dem § 225 Abs 1 Z 1 lit a ASVG korrespondierende Regelung fehle im GSVG. Es könne daher keinem Zweifel unterliegen, dass Voraussetzung für die Erlangung des (erweiterten) Berufsschutzes (Tätigkeitsschutzes) nach § 133 Abs 2 und 3 GSVG die Zurücklegung entsprechender Versicherungszeiten sei, im konkreten Fall also die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit durch mindestens 60 bzw 120 Kalendermonate, für die auch Beiträge wirksam entrichtet worden seien. Andernfalls könnte der nach dem GSVG Pflichtversicherte Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Pensionsversicherung lukrieren, ohne jemals Beiträge entrichtet zu haben; ein solches Verständnis widerspreche aber grundlegend dem österreichischen Versicherungsprinzip. Demnach komme der Tätigkeitsschutz auch im Rahmen des § 255 Abs 4 ASVG hinsichtlich gleichartiger nach dem GSVG versicherter selbständiger Tätigkeiten nur dann zum Tragen, wenn für die Zeiten der Ausübung dieser Tätigkeit auch Beiträge nach dem GSVG wirksam entrichtet worden seien. Da der Kläger ohne Berücksichtigung der nach dem zurückgelegten Zeiten die Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfülle, habe er keinen Anspruch auf die beantragte Leistung.
Die ordentliche Revision sei zulässig, weil eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu einem gleich gelagerten Sachverhalt nicht vorliege und die Lösung der entscheidungsrelevanten Rechtsfrage über den Einzelfall hinaus von erheblicher Bedeutung für die Rechtssicherheit sei.
Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des klagsstattgebenden Ersturteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig; sie ist auch berechtigt.
In der Revision wird im Wesentlichen vorgebracht, dass der Gesetzgeber in § 255 Abs 4 ASVG bewusst auf den Begriff des Kalendermonats (und nicht den des Beitragsmonats) zurückgegriffen habe; die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes laufe auf eine Korrektur des unmissverständlichen Gesetzeswortlauts hinaus. Auch in der bisherigen höchstgerichtlichen Judikatur zu § 255 Abs 4 ASVG und in der Literatur sei nie verlangt worden, dass ein Tätigkeitsmonat gleichzeitig ein wirksam erworbener Beitragsmonat sei.
Rechtliche Beurteilung
Dazu hat der Senat erwogen:
Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind bei Anwendung des § 255 Abs 4 ASVG auch Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit nach dem GSVG bei der Prüfung der Frage, ob eine Tätigkeit 120 Monate
hindurch ausgeübt wurde, zu berücksichtigen (10 ObS 4/05v = SZ
2005/30 = SSV-NF 19/22; 10 ObS 54/05x; RIS-Justiz RS0119740),
allerdings nur unter der Voraussetzung, dass im maßgebenden Beobachtungszeitraum der letzten 180 Kalendermonate vor dem Stichtag auch Zeiten einer unselbständigen Beschäftigung nach dem ASVG vorliegen (10 ObS 99/05i = EvBl 2006/92 = RIS-Justiz RS0119740 [T1]). Der Gesetzeswortlaut und auch die Gesetzesmaterialien stellen nämlich für das Vorliegen von Invalidität nach § 255 Abs 4 ASVG ganz allgemein darauf ab, ob der Versicherte nicht mehr in der Lage ist, einer bestimmten durch längere Zeit hindurch ausgeübten Tätigkeit nachzugehen; eine den beiden Vorgängerbestimmungen (§ 255 Abs 4 ASVG idF BGBl 1983/590; § 253d ASVG idF BGBl 1993/335) vergleichbare Einschränkung dahingehend, dass bei Beurteilung des „Tätigkeitsschutzes" ausschließlich Zeiten der Pflichtversicherung nach dem ASVG zu berücksichtigen seien, findet sich weder im Gesetzestext noch in den Materialien zum SVÄG 2000 (BGBl I 2000/43). In den angeführten Entscheidungen konnte letztlich die im vorliegenden Fall entscheidende Frage unbeantwortet bleiben, ob der Tätigkeitsschutz des § 255 Abs 4 ASVG hinsichtlich gleichartiger nach dem GSVG versicherter selbständiger Tätigkeiten nur dann zum Tragen kommt, wenn für die Zeiten der Ausübung dieser Tätigkeit auch Beiträge nach dem GSVG wirksam entrichtet wurden.
Der Oberste Gerichtshof hat schon mehrfach ausgesprochen, dass der Begriff „Kalendermonat" nicht mit dem Begriff „Beitragsmonat" gleichzusetzen ist (zB 10 ObS 264/02z = SZ 2004/37 = SSV-NF 18/15; RIS-Justiz RS0118621), auch wenn im Regelfall - vor allem bei unselbständig tätig gewesenen Versicherten - dem Kalendermonat auch eine entsprechende Beitragszeit entsprechen wird. In der erwähnten Entscheidung 10 ObS 264/02z ist bei der Bezugnahme auf § 133 Abs 2 GSVG ohne weitere Ausführungen von Zeiten die Rede, die die „Versicherungspflicht nach dem GSVG" begründen (vgl auch schon 10 ObS 40/93 = SSV-NF 7/31). Nun ist dem Berufungsgericht zweifellos insoweit zu folgen, als das Abstellen auf die Person eines/einer Versicherten in § 255 Abs 4 ASVG einen gewissen Bezug zur Sozialversicherung nahe legt: Für die Beurteilung des Tätigkeitsschutzes (oder es „besonderen Berufsschutzes") könne nur Monate einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit berücksichtigt werden (10 ObS 8/97t = SSV-NF 11/10). Wer nicht in das Pensionsversicherungssystem integriert ist (etwa eine Hausfrau oder ein Hausmann), soll mit einer nicht versicherten Tätigkeit auch nicht in den Genuss des § 255 Abs 4 ASVG kommen, selbst wenn die gleiche Tätigkeit zu einem anderen Zeitpunkt in einem der Sozialversicherungspflicht unterliegenden Dienstverhältnis ausgeführt wird (als Haushälterin oder Haushälter).
Die im Gesetz vorgenommene Differenzierung zwischen Kalendermonaten und Beitragsmonaten legt allerdings nahe, dass die wirksame Beitragsentrichtung keine Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 255 Abs 4 ASVG ist (ebenso Urbanek, Die Erwerbsunfähigkeit bei Selbständigen, ZAS 2003, 203 [210], und Teschner/Widlar, GSVG [85. ErgLfg] 370/101/2, zu § 133 Abs 2 und 3 GSVG). Die vom Kläger ausgeübte selbständige Tätigkeit hat eine Versicherungspflicht nach dem GSVG ausgelöst und es wurden ihm auch Beiträge vorgeschrieben, die von ihm ab aber nicht entrichtet wurden. Unter Zugrundelegung dieser Interpretation hat der Kläger mehr als 120 Monate innerhalb der letzten 180 Kalendermonate dieselbe Tätigkeit ausgeübt; diese (oder eine andere ihm unter Bedachtnahme auf § 255 Abs 4 ASVG zumutbare) kann er ausgehend von den Feststellungen nicht mehr ausüben. Damit besteht der Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension zu Recht.
Da der Kläger nach den Feststellungen nach wie vor als Handelsvertreter im Vertrieb von Non-Food-Artikeln für die Gastronomie selbständig erwerbstätig ist, ist der Leistungsanfall gemäß § 86 Abs 3 Z 2 ASVG gehemmt, bis der Kläger diese Tätigkeit aufgibt; dies gilt auch für die vorläufige Zahlung (10 ObS 314/02b = SSV-NF 16/121).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.