VfGH vom 24.11.1983, B470/82
Sammlungsnummer
9837
Leitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; keine gesetzliche Deckung der Festnahme zur Vollstreckung einer Ersatzarreststrafe in § 53 VStG 1950; weder Durchführung eines Vollstreckungsverfahrens bezüglich der Primärgeldstrafe noch von Erhebungen über die aktuellen Einkommens- und Vermögensverhältnisse
Spruch
Der Bf. ist dadurch, daß er am um etwa 21 Uhr in I von Organen der dortigen Bundespolizeidirektion festgenommen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1. Mit der - in Rechtskraft erwachsenen - Strafverfügung der Bezirkshauptmannschaft I vom , Z Vst 4287/7-81, wurde über Ing. Wolfgang M wegen der Verwaltungsübertretung nach § 20 Abs 2 StVO 1960 gemäß § 99 Abs 3 lita StVO 1960 - in Anwendung des § 47 VStG 1950 - eine Geldstrafe von zweitausend Schilling, im Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzarreststrafe in der Dauer von 72 Stunden verhängt.
1.2.1. Ing. Wolfgang M begehrte in seiner auf Art 144 (Abs1) B-VG gestützten Beschwerde an den VfGH die kostenpflichtige Feststellung, er sei dadurch, daß in Organe der Bundespolizeidirektion I am abends zur Vollstreckung der zu Punkt 1.1. bezeichneten Ersatzarreststrafe festnahmen, demnach durch einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Zwangsgewalt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG) verletzt worden.
1.2.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion I als bel. Beh. legte die Administrativakten vor, ohne eine Gegenschrift zu erstatten.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1.1. Gemäß Art 144 Abs 1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. Nr. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. Nr. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung einer Person zutrifft (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 8146/1977).
Dies gilt auch für die - eine "Verhaftung" iS des Gesetzes vom 27. Oktober 1862 zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. Nr. 87, bildende - zwangsweise Vorführung eines Bestraften zum Antritt einer (Ersatz-)Arreststrafe (VfSlg. 9623/1983).
2.1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß der Bf. am um etwa 21 Uhr von Organen der - damit einem Ersuchen der Bezirkshauptmannschaft I entsprechenden - Bundespolizeidirektion I, wie in der Beschwerdeschrift dargelegt, zur Einleitung der Vollstreckung der in Rede stehenden Ersatzarreststrafe festgenommen wurde.
2.1.3. Demgemäß ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, zulässig.
2.2.1. § 4 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862 zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. Nr. 87, sieht in seinem ersten Absatz vor, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person "in den vom Gesetze bestimmten Fällen" in Verwahrung nehmen dürfen.
2.2.2.1. Hiezu zählt auch die - hier heranzuziehende - Bestimmung des § 53 Abs 4 VStG 1950, welche die Vollziehung einer Ersatzarreststrafe davon abhängig macht, daß die "Geldstrafe ganz oder zum Teil uneinbringlich (ist) oder dies mit Grund anzunehmen (ist)". Fände die Festnehmung in dieser Gesetzesvorschrift keine Deckung, wäre der Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG) verletzt worden (VfSlg. 8642/1979, 8770/1980).
2.2.2.2. Die Vollstreckung der Ersatzarreststrafe an Stelle der Geldstrafe liegt also keineswegs im Belieben der Vollstreckungsbehörde: Vielmehr hat diese Behörde, ehe sie die Ersatzarreststrafe in Vollzug setzt, entweder ein Vollstreckungsverfahren durchzuführen oder aber Erhebungen zu pflegen, deren Ergebnis die Annahme rechtfertigen muß, daß die verhängte Geldstrafe mit hoher Wahrscheinlichkeit uneinbringlich sei (VfSlg. 8642/1979, 8679/1979, 9046/1981).
2.2.3.1. Ein Vollstreckungsverfahren (iS des § 3 VVG 1950) wurde hier nach der Aktenlage nicht durchgeführt.
2.2.3.2. Nach einem in den Verwaltungsakten einliegenden Bericht vom gab der Bf. damals an, daß er beschäftigungslos und zur Bezahlung der Geldstrafe nicht imstande sei. Zu weiteren Erhebungen in der Frage der Einbringlichkeit kam es vor der Festnehmung des Bf. am nicht mehr. Im Akt findet sich lediglich eine allgemeine Meldung der Bundespolizeidirektion I vom , wonach die Geldstrafe nicht eingetrieben werden konnte. Abgesehen davon, daß es nicht auf die Zahlungsbereitschaft des Bf., sondern auf die tatsächliche Einbringlichkeit der Geldstrafe ankommt (VfSlg. 8679/1979), hätte sich die Behörde am nicht mit den Erhebungen vom begnügen dürfen, weil sich die Einkommensverhältnisse innerhalb eines Zeitraumes von nahezu fünf Monaten wesentlich ändern können (s. auch VfSlg. 8642/1979). Es ging daher nicht an, aufgrund eines so lange zurückliegenden Berichtes mit Grund anzunehmen, daß die Geldstrafe uneinbringlich sei. Die Behörde hätte darum, ehe sie die Vorführung verfügte, weitere Erhebungen iS des § 53 Abs 4 VStG 1950 pflegen müssen, um ein verläßliches Bild über die aktuelle Einkommens- und Vermögenssituation des Beschwerdeführers zu gewinnen.
2.2.4. Schon daraus folgt, daß die Festnahmevoraussetzungen des § 53 VStG 1950 nicht gegeben waren.
Im übrigen erhellt die Zahlungsfähigkeit des Bf. am allein schon daraus, daß die Geldstrafe nach der Festnahme im Polizeigefangenenhaus sofort bar bezahlt wurde.
2.2.5. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Bf. durch seine gesetzlich ungedeckte und daher verfassungswidrige Festnahme im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.