OGH vom 14.03.1995, 10ObS286/94
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber Dipl.Ing.Dr.Hans Peter Bobek und Dr.Friedrich Stefan in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johann K*****, Landwirt, nunmehr *****, vertreten durch Dr.Peter S.Borowan und Dr.Erich Roppatsch, Rechtsanwälte in Spittal an der Drau, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, wegen Entziehung der Versehrtenrente infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Rs 48/94-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , GZ 32 Cgs 269/93b-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß die Entscheidung der ersten Instanz wiederhergestellt wird.
Die Beklagte hat dem Kläger binnen vierzehn Tagen die einschließlich 676,48 S Umsatzsteuer mit 4.058,88 S bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit seit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , 32 Cgs 254/91 wurde die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom zu leistende Versehrtenrente im Ausmaß von 60 vH der Vollrente samt Zusatzrente weiterzugewähren. Im November 1992 wurde der Kläger von der Beklagten schriftlich zu einer Nachuntersuchung geladen, entschuldigte sich aber wegen Terminschwierigkeiten. Die weiteren schriftlichen Ladungen der Beklagten zur Nachuntersuchung vom 1.2., 11.3. und sowie einen (nicht zu eigenen Handen zugestellten) Rückscheinbrief der Beklagten vom 10. (richtig 8.) 3.1993, in dem auf die nach § 99 Abs 2 ASVG mögliche Folge der Entziehung der Versehrtenrente hingewiesen wurde, erhielt der Kläger nicht mehr. Da er damals in Scheidung lebte, hielt er sich nämlich nicht in der Ehewohnung in K*****, sondern in U***** auf, wo er eine Jagd hatte und bei einem Bauern zwei Zimmer benützen durfte. Vom 15.4. bis war er in den USA. Die Beklagte ließ dem Kläger keinerlei Belehrungen über die Meldevorschriften zukommen.
Mit Bescheid vom entzog die Beklagte dem Kläger die Versehrtenrente unter Berufung auf § 99 Abs 2 und § 366 Abs 1 ASVG mit Ablauf Juni 1993.
Das später modifizierte Klagebegehren richtet sich auf Zahlung der Versehrtenrente über den Monat Juni (1993) hinaus. Der Kläger bestreitet, daß die Voraussetzungen des § 99 Abs 2 ASVG vorlägen.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie meint,
der Kläger hätte es zu vertreten, daß er die weiteren Ladungen zur
Nachuntersuchung nicht erhalten habe. Er habe ihr nämlich entgegen §
18 Abs 1 BSVG die Änderung seines Wohnsitzes nicht angezeigt.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Voraussetzungen für
eine Entziehung der Versehrtenrente nach § 99 Abs 2 ASVG lägen
nicht vor.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge; es änderte das erstgerichtliche Urteil dahin ab, daß es die Versehrtenrente mit Ablauf Juni 1993 entzog und das Klagebegehren abwies. Es vertrat die Rechtsansicht, daß der Kläger die erste Ladung zur Nachuntersuchung erhalten habe. Da er sich wegen Terminschwierigkeiten entschuldigt habe, habe er mit einer weiteren Ladung rechnen müssen. Daß ihn diese nicht erreichen würde, wenn er den Wechsel seines Wohnsitzes nicht melde, hätte er bei gehöriger Aufmerksamkeit leicht erkennen können. Deshalb habe er es zu vertreten, daß ihn die (an die alte Anschrift gerichteten) Ladungen zu weiteren Nachuntersuchungsterminen nicht erreichten. Damit lägen die Voraussetzungen des § 99 Abs 2 ASVG vor.
In der Revision macht der Kläger unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache geltend. Er beantragt, das angefochtene Urteil durch Wiederherstellung der Entscheidung des Gerichtes erster Instanz abzuändern.
Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nach § 46 Abs 3 ASGG in der gemäß Art X § 2 Z 7 Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz-Novelle 1994 BGBl 624 hier noch anzuwendenden Fassung BGBl 1989/343 auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 der erstzit Gesetzesstelle zulässig; sie ist auch berechtigt.
Gemäß § 148 BSVG gelten hinsichtlich der Leistungen der Unfallversicherung die Bestimmungen ua des Abschnittes VI des Ersten Teiles sowie des Dritten Teiles des ASVG mit im vorliegenden Fall nicht zutreffenden Maßgaben.
Nach § 99 Abs 2 ASVG kann die Leistung (ferner) auf Zeit ganz oder teilweise entzogen werden, wenn sich der Anspruchsberechtigte nach Hinweis auf diese Folge einer Nachuntersuchung oder Beobachtung entzieht.
Die Entziehung gem § 99 Abs 2 ASVG wird von der Lehre als
(allgemeiner) "Versagungs"fall bezeichnet, der neben den (besonderen)
Versagungsfällen zB des § 143 Abs 6 ("Ruhen des Krankengeldes"), des
§ 197 ("Versagung der Versehrtenrente ...........") und des § 307b
ASVG ("Versagung der Pension") besteht (Tomandl, Grundriß des
österreichischen Sozialrechts4 Rz 213 und 216; Schrammel in Tomandl,
SV-System 5.ErgLfg 157; Grillberger, österreichisches Sozialrecht2,
102; sa SSV-NF 4/99).
"Versagung" ist der im Ermessen des Versicherungsträgers gelegene bescheidmäßige gänzliche oder teilweise Entzug von Leistungen auf Zeit mit dem Ziel, den Leistungsberechtigten zur Einhaltung von Nebenpflichten zu verhalten. Sie ist formal die Sanktion auf Verletzungen von Nebenpflichten des Leistungsberechtigten, materiell ein Beugemittel, ihn durch materielle Nachteile zu einer Haltungsänderung zu bewegen. Sie ist daher nur so lange zulässig, wie der Leistungsberechtigte in seinem Fehlverhalten verharrt, der vom Versicherungsträger angestrebte Erfolg also noch nicht erreicht ist (Tomandl, Grundriß4 Rz 213; Schramml in Tomandl aaO).
Eine Entziehung ("Versagung") gemäß § 99 Abs 2 ASVG kommt nur in Betracht, wenn der Leistungsberechtigte trotz ausdrücklichen Hinweises auf die Folgen seines (Fehl-)Verhaltens Anordnungen des zuständigen Versicherungsträgers nicht befolgt (Tomandl, Grundriß4 Rz 213; Schrammel in Tomandl aaO; SSV-NF 6/128).
Gemäß § 357 Abs 1 ASVG gelten für das Verfahren vor den
Versicherungsträgern in Leistungssachen und in Verwaltungssachen ua
die §§ 21 und 22 AVG entsprechend. Nach der erstbezogenen Vorschrift
sind Zustellungen nach den Bestimmungen des Zustellgesetzes
vorzunehmen. Nach der zweitbezogenen Gesetzesstelle ist eine
schriftliche Ausfertigung, wenn wichtige Gründe hiefür vorliegen, mit
Zustellnachweis zuzustellen. Bei Vorliegen besonders wichtiger Gründe
oder wenn es gesetzlich vorgesehen ist, ist die Zustellung zu eigenen
Handen des Empfängers zu bewirken. So ist zB nach § 19 Abs 3 AVG
die Anwendung von Zwangsmitteln nur zulässig, wenn sie in der Ladung
angedroht waren und die Ladung zu eigenen Handen zugestellt war. Als
besonders wichtiger Grund iS des § 22 AVG ist auch der im § 99 Abs 2
ASVG genannte Hinweis anzusehen, daß die Leistung auf Zeit ganz oder
teilweise entzogen werden kann, wenn sich der Anspruchsberechtigte
einer Nachuntersuchung oder Beobachtung entzieht. Die Folge des
zeitweiligen Verlustes einer zuerkannten Versicherungsleistung wiegt
nicht weniger schwer als die Anwendung von Zwangsmitteln
(Zwangsstrafen oder Vorführung) zur Erzwingung einer behördlichen
Ladung oder die im Fall der Nichtäußerung zu einer
Äußerungsaufforderung nach § 185 Abs 3 Außerstreitgesetz anzunehmende
Rechtsfolge, daß der Beteiligte dem Antrag keine Einwendungen
entgegensetzt. Auch diese Aufforderung ist nach den Bestimmungen für
die Zustellung von Klagen zuzustellen. Da im vorliegenden Fall der
Hinweis der Beklagten nach § 99 Abs 2 ASVG vom 10. (richtig 8.)
3.1993 dem Kläger - wie sich aus dem Rentenakt ergibt - nicht zu
eigenen Handen (§ 21 Zustellgesetz) zugestellt wurde, kann die
Leistung nicht entzogen werden. Es kann daher dahingestellt bleiben,
ob der Kläger die Meldevorschrift des auch in diesem Fall geltenden §
40 Satz 1 1. Fall ASVG verletzt hat, nach der die
Zahlungsempfänger verpflichtet sind, jede Änderung ihres Wohnsitzes binnen zwei Wochen dem zuständigen Versicherungsträger anzuzeigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2
ASGG (Bemessungsgrundlage 50.000 S).