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OGH vom 13.11.2002, 9ObA158/02d

OGH vom 13.11.2002, 9ObA158/02d

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling und Dr. Hradil sowie die fachkundigen Laienrichter Ernst Viehberger und Gerhard Loibl als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Ulrike B*****, vertreten durch Klein, Wuntschek & Partner, Rechtsanwälte GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei L*****, vertreten durch Dr. Christian Strobl, Rechtsanwalt in Hartberg, wegen EUR 11.090,39 brutto sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Ra 7/02g-24, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 30 Cga 35/00a-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidungen der Vorinstanzen zu lauten haben:

"Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei den Betrag

von EUR 11.090,39 (= ATS 152.607,08) brutto samt 4 % Zinsen aus EUR

5.596,17 (= ATS 77.004,98) brutto vom bis

und aus EUR 11.090,39 seit sowie die mit EUR 500,72 (=

ATS 6.890) bestimmten Pauschalgebühren des Verfahrens erster Instanz binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Hingegen wird das Zinsenmehrbegehren von 4,5 % per anno aus dem zugesprochenen Klagebetrag abgewiesen."

Die beklagte Partei ist schuldig, der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark, Hand-Resel-Gasse 8 - 10, 8020 Graz, die mit EUR 450,57 (= ATS 6.200) bestimmten Aufwendungen für das Verfahren erster Instanz zu ersetzen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark die mit EUR 297,96 (= ATS 4.100) bestimmten Aufwendungen für das Berufungsverfahren binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 1.633,58 (darin EUR 95,43 USt und EUR 1.061 Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin war vom 10. Mai (- im Revisionsverfahren nicht mehr strittig -) 1999 bis bei der beklagten Partei als Bürokraft beschäftigt, wobei das Dienstverhältnis bis befristet war, aber vorher durch Entlassung endete. Die beklagte Partei ist einer von mehreren Zweigvereinen ("Sektionen") des Landesverbandes Steiermark der "L*****". Die Klägerin begehrte zuletzt den Zuspruch von Kündigungsentschädigung für die Zeit vom bis in Höhe von S 118.210,30, anteiligen Sonderzahlungen von zusammen S 19.631,13, Urlaubsentschädigung für das erste Urlaubsjahr in der Höhe von S 13.353,28 sowie Urlaubsabfindung für das begonnene Urlaubsjahr vom 10. 5. bis in Höhe von S 1.412,37, zusammen S 152.607,08 brutto samt 8,5 % gestaffelten Zinsen. Sie sei unberechtigt entlassen worden. Weder habe sie weisungswidrig Buchhaltungsunterlagen nach Hause genommen, noch sei sie öfter unentschuldigt zu spät gekommen oder habe andere Mitarbeiter gegen ihre Vorgesetzten aufgewiegelt. Sie habe auch die ihr übergebene Handkasse redlich verwaltet und kein Geld daraus zweckwidrig verwendet.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die Klägerin habe die strikte Anweisung gehabt, aus Gründen der Geheimhaltung versperrt gehaltene Unterlagen nicht außer Haus zu bringen. Diese Weisung sei am von der vorgesetzten "Geschäftsführerin" gegenüber der Klägerin ausdrücklich wiederholt worden. Dennoch habe die Klägerin solche Unterlagen mitgenommen und der Mitarbeiterin eines anderen Zweigvereines zeigen wollen. Diese habe jedoch die Einsicht verweigert und die beklagte Partei vom Vertrauensbruch der Klägerin verständigt, welche daraufhin entlassen worden sei. Die Klägerin habe auch noch weitere Entlassungsgründe gesetzt, indem sie laufend zu spät gekommen sei, vereinnahmte Spendengelder zweckentfremdet verwendet und versucht habe, andere Mitarbeiter gegen die "Geschäftsführerin" aufzuwiegeln. Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es legte seinem Urteil im Wesentlichen folgende Feststellungen zugrunde: Wenngleich die Klägerin erst am als geringfügig Beschäftigte bei der Gebietskrankenkasse angemeldet wurde, hatte sie ihren Dienst bereits am angetreten. Per wurde sie mit einer Wochenstundenleistung von 30 Stunden beschäftigt. Zwischen der Klägerin und dem beklagten Verein wurde eine Dienstzeit von 7,30 Uhr bis 13,00 Uhr vereinbart; die restlichen 2,5 Stunden wurden für entsprechende Mehrarbeit ad hoc an Nachmittagen vereinbart. Die Klägerin suchte mehrfach vor Dienstbeginn das Büro des Steuerberaters des beklagten Vereins auf, um dort Dienstgespräche für den beklagten Verein zu führen. Darüber hinaus kam es aber auch zu Gesprächen zu späteren Vormittagszeiten. Wenn die Klägerin bereits am Morgen Gespräche mit dem Steuerberatungsbüro geführt hatte, erschien sie erst nach 7,30 Uhr zum Dienst. Neben Büroroutinetätigkeiten zu Beginn und am Ende des Arbeitstages war die Klägerin mit Kassabuchführung, Kassaabrechnung, Rechnungseingangs- und Ausgangsverwaltung sowie der laufenden Buchführung beschäftigt. Es bestand keine (gemeint: generelle, schriftliche) Dienstanweisung, dass Buchhaltungsunterlagen oder Patientenunterlagen nicht außer Haus verbracht werden dürften. Die Vorgesetzte der Klägerin (= eine nicht mit dem Obmann idente "Geschäftsführerin") betonte bei verschiedenen Gelegenheiten - so auch bei der Leitersitzung am , an welcher die Klägerin teilnahm - dass das Verbringen von Buchhaltungsunterlagen außer Haus verboten sei. Die beklagte Partei erhält wie sämtliche anderen Zweigvereine jeweils für ein Jahr ein Budget des Landes Steiermark, dessen Höhe auf Grund der Abrechnung des Vorjahres ermittelt wird. Die Abrechnungen erfolgen, wie bei sämtlichen anderen Zweigvereinen, nach monatlichen Tagsatzabrechnungen. Aufgabe der Klägerin war zunächst, die Abrechnung für 1998 zu erstellen bzw Korrekturen anzubringen. Die Klägerin erhielt die notwendigen Unterlagen und nahm noch folgende Unterlagen nach Hause mit: Die Bilanz vom ;

die vom Steuerberater erstellte Erfolgsrechnung für das Jahr 1994;

Jahresbetriebskostenabrechnung für das Jahr 1994 für zwei Tagesheime einschließlich der Personal-Erfassungsblätter; ein Verwendungsnachweis für die Investitions- und Instandhaltungsrücklagen sowie den Schriftverkehr zwischen dem beklagten Verein und der Steiermärkischen Landesregierung bezüglich der Jahresbetriebskostenabrechnung 1994.

Mit einer Aufstellung der einzeln zu berechnenden Positionen suchte die Klägerin am die ihr bekannte Leiterin eines anderen Zweigvereins in Weiz auf, um mit dieser einzelne Fragen der Kostenstellenrechnung zu erörtern. Dieses Gespräch dauerte ca zwei Stunden. Es ist nicht möglich festzustellen, welche der oben erwähnten Unterlagen die Klägerin bei diesem Gespräch mitführte. Am darauffolgenden Tag erstattete die Leiterin des anderen Zweigvereines anlässlich eines Delegiertentages der Geschäftsführerin des beklagten Vereins Meldung davon, dass die Klägerin Unterlagen mitgeführt habe. Die Geschäftsführerin leitete diese Mitteilung an den Obmann des beklagten Vereines weiter, welcher am die Entlassung der Klägerin aussprach.

Die Klägerin verwaltete eine Handkasse, in welche Erlöse aus Verkäufen der Erzeugnisse der Tageswerkstätten kamen. Wenn Kunden den Kaufpreis aufrundeten, sollten die Überzahlungen als "Spenden" verbucht und in einem eigenen Kuvert verwahrt werden. Einmal äußerte ein Kunde den Wunsch, eine Überzahlung nicht als Spende, sondern als Beitrag für die Kaffeekasse der Mitarbeiter anzunehmen. Dem trug die Klägerin Rechnung. Das Erstgericht konnte nicht feststellen, dass die Klägerin derartige Mehreinnahmen nicht verbucht oder zweckwidrig verwendet hättte.

Das Erstgericht konnte auch Versuche der Klägerin, andere Mitarbeiter gegen die Geschäftsführerin des beklagten Vereins aufzuwiegeln, nicht feststellen. Vielmehr hatte die Klägerin mit dem Obmann nur Gespräche wegen einer Änderung der Buchführung geführt, was von diesem jedoch abgelehnt worden war.

Das Erstgericht vertrat die Rechtsauffassung, dass die Klägerin keinen Entlassungsgrund gesetzt habe. Die Vorwürfe des andauernden Zuspätkommens, des Aufwiegelns von Mitarbeitern gegen die Geschäftsführerin sowie Unregelmäßigkeiten bei der Kassaführung seien nicht erwiesen worden. Wenngleich die Klägerin Buchhaltungsunterlagen weisungswidrig außer Haus gebracht habe, liege darin noch nicht der Entlassungsgrund der Vertrauensunwürdigkeit. Es könne nicht übersehen werden, dass die Klägerin die Unterlagen nur deshalb mitgenommen habe, um sich von der Leiterin eines anderen Zweigvereins der selben Organisation beraten zu lassen. Dies könne einem Offenbaren gegenüber außenstehenden Dritten nicht gleichgehalten werden. Das Berufungsgericht änderte das Urteil des Erstgerichtes dahin ab, dass es das Klagebegehren abwies. Es vertrat zwar in Übereinstimmung mit dem Erstgericht die Rechtsauffassung, dass die Klägerin keine Entlassungsgründe wegen fortgesetzten Zuspätkommens, Veruntreuung von Kassengeldern oder Aufhetzens anderer Mitarbeiter gegen die Geschäftsführerin gesetzt habe, dass aber entgegen der Meinung des Erstgerichtes das weisungswidrige Außerhausbringen von Buchhaltungsunterlagen und das Zugänglichmachen gegenüber der Leiterin eines anderen Zweitvereins derart gravierend seien, dass darin der Tatbestand der Vertrauensunwürdigkeit nach § 27 Z 1 dritter Tatbestand AngG liege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der klagenden Partei aus dem Grunde der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt werde.

Rechtliche Beurteilung

Die beklagte Partei beantragte, der Revision nicht Folge zu geben. Die Revision ist in der Hauptsache berechtigt.

Das Berufungsgericht hat Entlassungsgründe insoweit zutreffend verneint, als der beklagte Verein auch das angebliche Zuspätkommen (§ 27 Z 4 erster Tatbestand AngG), die angeblich zweckwidrige Verwendung der Handkassengelder (§ 27 Z 1 erster Tatbestand AngG) und das angebliche Aufhetzen von Mitarbeitern gegenüber einer Vorgesetzten (§ 27 Z 1 erster Tatbestand bzw § 27 Z 4 dritter Tatbestand AngG) für die Berechtigung der Entlassung der Klägerin herangezogen hat. Es reicht daher insoweit aus, auf die diesbezüglich zutreffende Begründung in der angefochtenen Entscheidung hinzuweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Hingegen ist die Revision insoweit berechtigt, als sie sich gegen die Annahme richtet, die Klägerin habe durch die weisungswidrige Mitnahme von Buchhaltungsunterlagen und deren (zumindest teilweisen) Offenlegung gegenüber der Mitarbeiterin eines anderen Zweigvereins das Vertrauen des beklagten Vereins derart erschüttert, dass dieser zur Entlassung berechtigt gewesen sei. Selbst wenn man zu Lasten der Klägerin annehmen wollte, dass sie nicht nur am , sondern auch schon davor auf das Mitnahmeverbot hingewiesen worden wäre (- die Feststellungen des Erstgerichtes sind diesbezüglich nicht eindeutig -), ergibt sich daraus noch keine beharrliche Dienstverweigerung iSd § 27 Z 4 2. Tatbestand AngG. Davon geht offensichtlich auch das Berufungsgericht aus, welches dieses Verhalten der Klägerin nur unter dem Blickwinkel des § 27 Z 1 dritter Tatbestand AngG prüfte. Bei der Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit kommt es vor allem darauf an, ob für den Dienstgeber vom Standpunkt vernünftigen kaufmännischen Ermessens die gerechtfertigte Befürchtung bestand, dass seine Belange durch den Angestellten gefährdet seien, wobei nicht das subjektive Empfinden des Dienstgebers entscheidet, sondern an das Gesamtverhalten des Angestellten ein objektiver Maßstab anzulegen ist, der nach den Begleitumständen des einzelnen Falles und nach der gewöhnlichen Verkehrsauffassung angewendet zu werden pflegt (RIS-Justiz RS0029833). Der Angestellte, der zum Träger fremder, betrieblicher und geschäftlicher Interessen geworden ist, ist verpflichtet, diese Interessen seines Arbeitgebers wahrzunehmen und alles zu unterlassen, was diese Interessen zu gefährden geeignet ist. Gerade die Verletzung der Geheimhaltungspflicht - selbst wenn davon nicht unmittelbare Geschäftsgeheimnisse betroffen sind - muss bei objektiver und vernünftiger kaufmännischer Erwägung beim Dienstgeber die gerechtfertigte Befürchtung auslösen, dass auch künftighin Informationen nicht mit der gebotenen Vertraulichkeit behandelt würden (SZ 69/14). Der Tatbestand des § 27 Z 1 dritter Fall AngG bedingt zumindest Fahrlässigkeit. Im vorliegenden Fall handelte die Klägerin zwar vorsätzlich hinsichtlich des Verstoßes gegen das Verbot der Mitnahme von Buchhaltungsunterlagen, doch ist in keiner Weise hervorgekommen, dass ihr auch nur bewusst war, gegen Interessen ihres Dienstgebers zu verstoßen. Im speziellen Fall kann nicht übersehen werden, dass die Klägerin nur bereits fünf Jahre alte Unterlagen als Muster mitnahm, um eine aktuelle Kostenaufstellung verfassen zu können. Daraus, dass sie sich nicht an einen völlig außenstehenden Dritten, sondern an die ihr bekannte, ebenfalls mit Buchführung beschäftigte Mitarbeiterin eines anderen Zweigvereines wendete, wird evident, dass ihr nicht bewusst war, in schützenswerte Geheimhaltungsinteressen ihres Dienstgebers einzugreifen. Ein Eingriff in derartige Interessen könnte auch zweifelhaft sein, weil zum einen - entgegen dem Vorbringen des beklagten Vereins in der Berufung - ein echtes Konkurrenzverhältnis zwischen den Zweigvereinen desselben Dachverbandes nicht festgestellt werden konnte, und zum anderen unstrittig ist, dass die Tagsätze, welche vom Land bezahlt werden, gemeinsam für sämtliche Zweigvereine ausgehandelt werden. Der Verstoß der Klägerin ist daher nicht auf Illoyalität gegenüber der beklagten Partei, sondern auf Unbesonnenheit und Gedankenlosigkeit (vgl 9 ObA 64/91) zurückzuführen. Bei objektiver Betrachtung ist das Verhalten der Klägerin wohl als Ordnungswidrigkeit, nicht jedoch als so gravierend anzusehen, dass ein derartiger Vertrauensverlust eingetreten wäre, welcher eine Weiterbeschäftigung bis zum vereinbarten Ende des Dienstverhältnisses unzumutbar gemacht hätte.

Die Klägerin begehrt offenbar den Zinssatz nach § 49a erster Satz ASGG. Demgegenüber kann aber nur der 4 %ige Zinssatz zuerkannt werden, weil das Verhalten der Klägerin aus der Sicht des Dienstgebers als Grenzfall angesehen werden durfte und die Verzögerung der Zahlung daher auf einer vertretbaren Rechtsansicht beruhte (§ 49a zweiter Satz ASGG).

Die Kostenentscheidungen gründen sich auf §§ 42 Abs 2 bzw 50 Abs 1 ZPO, die Entscheidungen über den Aufwandersatz auf § 58a ASGG. Da die Klägerin nur geringfügig (mit einem Teilzinsenbetrag) unterlegen ist, können ihr Kosten auf Basis des zugesprochenen Betrages zuerkannt werden.