OGH vom 29.05.2012, 9ObA35/12f
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Michael Kutis und Ing. Thomas Bauer als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei H***** D*****, vertreten durch Freimüller/Obereder/Pilz Partner, Rechtsanwälte GmbH in Wien, wider die beklagte Partei I*****gmbH, *****, vertreten durch Dr. Walter Hausberger, Rechtsanwalt in Wörgl, wegen 37.817,56 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Ra 115/11x 44, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).
Text
Begründung:
Der Kläger, der bei der Beklagten als Außendienstmitarbeiter und Regionalmanager tätig war, konsumierte außerdienstlich mit einem der ihm unterstellten Mitarbeiter Cannabis und erwarb solches später von diesem auch entgeltlich. Am teilte der Mitarbeiter dem mit den Personalagenden befassten leitenden Angestellten der Beklagten (General Manager) mit, dass ihm der Kläger Cannabis verkauft habe. Für den General Manager war offensichtlich, dass es sich dabei um einen Racheakt des Mitarbeiters gegenüber dem Kläger handelte, weil dieser bei der Polizei den Mitarbeiter als Lieferanten angegeben hatte. Der General Manager forderte den Mitarbeiter deshalb erst zur Vorlage schriftlicher Unterlagen auf. Nach mehrfachen Urgenzen erhielt er am nachmittags Unterlagen aus dem gegen den Mitarbeiter geführten Gerichtsakt und ging damit unverzüglich zum Geschäftsführer der Beklagten, der am folgenden Morgen die Entlassung des Klägers aussprach.
Dessen Revision zeigt zur Rechtsansicht des Berufungsgerichts, das die Entlassung für gerechtfertigt erachtete, keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO auf:
Rechtliche Beurteilung
1. Unter den Tatbestand der Vertrauensunwürdigkeit iSd § 27 Z 1 letzter Fall AngG fällt jede Handlung oder Unterlassung eines Angestellten, die mit Rücksicht auf ihre Beschaffenheit und auf ihre Rückwirkung auf das Arbeitsverhältnis den Angestellten des dienstlichen Vertrauens seines Arbeitgebers unwürdig erscheinen lässt, weil dieser befürchten muss, dass der Angestellte seine Pflichten nicht mehr getreulich erfüllen werde, sodass dadurch die dienstlichen Interessen des Arbeitgebers gefährdet sind (RIS Justiz RS0029547). Die Vertrauensverwirkung kann auch auf Handlungen des Angestellten beruhen, die mit dem Dienstverhältnis in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen (RIS Justiz RS0029333; RS0029343). An Angestellte in leitender Stellung sind dabei im Allgemeinen strengere Anforderungen zu stellen. Bei der Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit kommt es weniger auf die tatsächliche Schädigung des Dienstgebers, sondern vor allem darauf an, ob für ihn vom Standpunkt vernünftigen kaufmännischen Ermessens die gerechtfertigte Befürchtung besteht, dass seine Belange durch den Angestellten gefährdet seien (RIS Justiz RS0029652; RS0029341).
Zutreffend weist das Berufungsgericht darauf hin, dass der Kläger als Außendienstmitarbeiter im Hinblick auf die fehlende Kontrollmöglichkeit des Arbeitgebers über seine Person und Tätigkeit eine besondere Vertrauensposition genoss, dass er sich als unmittelbarer Vorgesetzter jenes Mitarbeiters, mit dem er das Suchtgift konsumierte, erpressbar machte, maßgeblich an Autorität einbüßte und dass er durch den gemeinsamen Konsum und den Erwerb von Suchtgift überdies auch den Suchtgiftkonsum des Mitarbeiters förderte. Die Erwägung des Berufungsgerichts, dass ein Vorgesetzter durch diese Situation hervorgerufene Interessenkonflikte zu Lasten des Arbeitgebers lösen wird (zB keine Information an den Arbeitgeber über negative Handlungen des untergeordneten Mitarbeiters aus Furcht vor einem Verratenwerden), ist völlig nachvollziehbar und begründet auch, warum sehr wohl auch das Arbeitsverhältnis berührt wird.
2. Der vom Kläger angedachte Umkehrschluss zu § 15 Abs 4 ASchG, wonach sich Arbeitnehmer durch Suchtgift (nur) nicht in einen selbst oder fremdgefährdenden Zustand versetzen dürfen, was bei ihm nicht der Fall gewesen sei, ist schon im Hinblick auf die Strafbarkeit des Erwerbs von Suchtgift verfehlt (§ 27 SMG). Der Unrechtsgehalt der Tat wird auch nicht dadurch beseitigt, dass das Strafverfahren bei Vorliegen der in § 35 SMG genannten Voraussetzungen diversionell zu erledigen ist.
3. Dem Vorbringen des Klägers, die Beklagte habe ihr Entlassungsrecht verwirkt, weil er nur zweimal, zuletzt über ein Jahr vor der Entlassung Cannabis konsumiert habe, steht entgegen, dass das Berufungsgericht die Feststellung eines bloß zweimaligen Cannabiskonsums aufgrund der auch im vorliegenden Verfahren aufrecht erhaltenen Aussage des Klägers bei seiner polizeilichen Einvernahme („Ich rauche meistens am Wochenende ein bis zwei Joints. Zuletzt habe ich einen Joint vor ca. drei bis vier Wochen geraucht.“) gerade nicht übernommen hat.
4. Zu Unrecht richtet sich der Kläger schließlich gegen die Annahme der Rechtzeitigkeit des Entlassungsausspruchs.
Die Gründe für eine vorzeitige Lösung eines Dienstverhältnisses sind bei sonstiger „Verwirkung“ des Entlassungsrechts unverzüglich, dh ohne schuldhaftes Zögern, geltend zu machen. Der Dienstgeber darf mit der Ausübung seines Entlassungsrechts nicht wider Treu und Glauben so lange warten, dass der Arbeitnehmer aus diesem Zögern auf einen Verzicht auf die Geltendmachung der Entlassungsgründe schließen muss. Der Dienstnehmer, dem ein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen wird, soll darüber hinaus nicht ungebührlich lange über sein weiteres dienstrechtliches Schicksal im Unklaren gelassen werden (RIS Justiz RS0031799 ua). Bei dieser Beurteilung sind keine starren zeitlichen Grenzen zu ziehen. Wesentliches Kriterium für die Unschädlichkeit eines Zuwartens mit der Entlassung ist, ob das Zögern des Dienstgebers aufgrund der Sachlage begründet war oder ob darin im Einzelfall ein schlüssiger Verzicht auf die Geltendmachung des Entlassungsgrundes zu erblicken war. Auch eine verzögerte Entlassung kann daher noch rechtzeitig sein, wenn sie etwa aufgrund unternehmensinterner Hierarchien der Genehmigung durch den Vorgesetzten oder den Vorstand bedarf. Der Dienstgeber muss sich aber den Kenntnisstand eines mit Personalagenden befassten leitenden Angestellten zurechnen lassen, und zwar auch dann, wenn dieser selbst nicht zum Ausspruch von Entlassungen berechtigt ist (8 ObA 14/11x mwN).
Überall dort, wo ein vorerst undurchsichtiger, zweifelhafter Sachverhalt vorliegt, den der Arbeitgeber mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zunächst gar nicht aufklären kann, muss diesem das Recht zugebilligt werden, bis zur einwandfreien Klarstellung aller wesentlichen Tatumstände in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch die hiefür zuständige Behörde mit der Entlassung zuzuwarten. Diese Voraussetzungen werden vor allem dann anzunehmen sein, wenn gegen einen Arbeitnehmer der Vorwurf einer strafbaren Handlung erhoben worden ist (RIS Justiz RS0029297; vgl auch RS0029309).
Nach den Umständen des Falles ist die Ansicht des Berufungsgerichts, dass der Beklagten keine unschädliche Verzögerung des Entlassungsausspruchs zur Last zu legen ist, vertretbar. Zu bedenken ist nämlich, dass der General Manager zum Zeitpunkt, als ihn der Mitarbeiter von einem Cannabisverkauf des Klägers informierte, zunächst nur einen Racheakt des Mitarbeiters annahm. Ihn deshalb erst zur Vorlage schriftlicher Unterlagen aufzufordern und deren Einlangen abzuwarten, war erforderlich, um die Verdachtslage gegen den Kläger zu objektivieren. Ein schlüssiger Verzicht auf die Geltendmachung des Entlassungsgrundes liegt darin nicht.
Im Gegensatz zu dem der Entscheidung 8 ObA 14/11h zugrunde liegenden Sachverhalt lag hier auch kein Zugeständnis des Klägers vor, von dem der General Manager in Kenntnis gewesen wäre und das unverzügliche weitere Nachforschungspflichten ausgelöst hätte.
Da es dem Kläger sohin nicht gelingt, einen Korrekturbedarf in der Rechtsansicht des Berufungsgerichts aufzuzeigen, ist die Revision mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.