VfGH vom 02.11.2005, B440/05
Sammlungsnummer
17691
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Absehen von einer Berufungsverhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat in einem Verwaltungsstrafverfahren infolge Verhängung einer Geldstrafe von weniger als 500,- €; kein Verzicht des Beschwerdeführers auf eine Verhandlung
Spruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs 1 EMRK) verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Tirol ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.340,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom wurde der Beschwerdeführer verurteilt, weil er als bestellter verantwortlicher Beauftragter der Firma N. T. GmbH, welche Zulassungsbesitzerin eines näher bezeichneten Lkw sei, nicht dafür Sorge getragen habe, dass der Zustand bzw. die Ladung des genannten Lkw den Vorschriften des Kraftfahrgesetzes (KFG) entspreche. Es wurde eine Geldstrafe in der Höhe von insgesamt € 264,- bzw. eine Ersatzfreiheitsstrafe von 84 Stunden verhängt.
2. In seiner gegen dieses Straferkenntnis erhobenen Berufung brachte der Beschwerdeführer vor, dass ihm der Fahrer des Lkw nicht mitgeteilt habe, dass ein Mangel an dem Fahrzeug hafte, weshalb er seiner Aufsichtspflicht nicht nachkommen habe können.
3. Der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol (im Folgenden: UVS) gab der Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Bescheid vom keine Folge, der Spruch des angefochtenen Straferkenntnisses wurde jedoch insoweit geändert, "als die verletzte Rechtsvorschrift zu Punkt 4. zu lauten hat '§103 Abs 1
Z. 1 KFG i.V.m. § 18a Abs 2 KDV'." Seine Beweiswürdigung traf der UVS aufgrund des Akteninhaltes.
4. In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gemäß Art 144 B-VG behauptet der Beschwerdeführer eine Verletzung in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art 6 Abs 1 und Abs 3 litd EMRK und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides.
5. Die belangte Behörde legte dem Verfassungsgerichtshof die Verwaltungsakten vor und beantragte - ohne eine Gegenschrift zu erstatten - die Abweisung der Beschwerde.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art 6 Abs 1 und Abs 3 litd EMRK. Im Erkenntnis fehle die Begründung, warum keine Verhandlung durchgeführt worden sei. Der Beschwerdeführer sei weder rechtsfreundlich vertreten gewesen, noch über die Möglichkeit eines Antrages auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt worden. Weiters sei ihm die Möglichkeit genommen worden, an den Belastungszeugen Fragen zu stellen oder die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen zu erwirken.
1.2. Art 6 Abs 1 EMRK normiert das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal, das über zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen zu entscheiden hat.
Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 16624/2002 in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) ausgesprochen hat, wird den Verfahrensgarantien des Art 6 Abs 1 EMRK durch ein Tribunal nur entsprochen, wenn dieses über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof - wie der EGMR im Fall Gradinger (EGMR vom , ÖJZ 1995/51) festgestellt hat - im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt, muss die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung vom UVS erfüllt werden (vgl. dazu auch EGMR vom , Fall Baischer, ÖJZ 2002/32).
In einem Strafverfahren, das vor einem Tribunal in einziger Instanz durchgeführt wird, folgt nach der Rechtsprechung des EGMR aus dem durch Art 6 EMRK garantierten Recht, gehört zu werden, das Erfordernis einer mündlichen Verhandlung, von der nur in Ausnahmefällen abgesehen werden kann (so etwa EGMR vom , Fall Allan Jacobsson gegen Schweden, RJD 1998-I, S 168, Rz. 46).
2.1. Gemäß § 51e Abs 3 VStG kann der UVS
"(...)von einer Berufungsverhandlung absehen, wenn
1. in der Berufung nur eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet wird oder
2. sich die Berufung nur gegen die Höhe der Strafe richtet oder
3. im angefochtenen Bescheid eine 500 € nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde oder
4. sich die Berufung gegen einen verfahrensrechtlichen Bescheid richtet
und keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Der Berufungswerber hat die Durchführung einer Verhandlung in der Berufung zu beantragen. (...)"
2.2. In VfSlg. 16894/2003 hat der Verfassungsgerichtshof zur Anwendung des § 51e Abs 3 VStG ausgesprochen, dass es verfassungswidrig wäre, allein aufgrund der Höhe der angefochtenen Geldstrafe (weniger als € 500,-) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Die Bestimmung räumt jedoch Ermessen ein und lässt damit eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall zu. Soweit es Art 6 EMRK gebietet, muss der UVS eine mündliche Verhandlung jedenfalls durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben (vgl. VfSlg. 16624/2002).
2.3. Die Berufung des Beschwerdeführers richtet sich gegen einen Bescheid, mit dem eine Geldstrafe unter € 500,- verhängt wurde. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwar nicht beantragt, er hat jedoch auch nicht ausdrücklich darauf verzichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob der UVS aufgrund dieses Schweigens einen konkludenten Verzicht des Beschwerdeführers annehmen durfte. Dieser war im Berufungsverfahren nicht rechtsfreundlich vertreten, sodass allein in der Unterlassung eines Antrages auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung noch kein konkludenter Verzicht gesehen werden kann.
2.4. Unter den Umständen des vorliegenden Falles kann das Verhalten des Beschwerdeführers nicht als schlüssiger Verzicht auf sein Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art 6 Abs 1 EMRK gedeutet werden:
Der Beschwerdeführer war nicht rechtsfreundlich vertreten. In seiner selbstverfassten Berufung lässt er nicht erkennen, dass er auf sein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet hätte. Ein schlüssiger Verzicht auf ein Recht setzt dessen Kenntnis voraus (VfSlg. 16894/2003). Der Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid, noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrages auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt. Er musste somit nicht von der Möglichkeit der Antragstellung wissen (zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR vom , Fall Cetinkaya gegen Österreich, Appl. Nr. 61595/00).
2.5. Der Beschwerdeführer hat auf sein Recht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung daher nicht verzichtet. Die Unterlassung der Durchführung führt nicht nur zur Gesetzeswidrigkeit des Bescheides, sondern hat - da im Beschwerdefall keine besonderen Gründe erkennbar sind, die im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art 6 EMRK allenfalls den Entfall einer mündlichen Verhandlung rechtfertigen könnten (vgl. EGMR vom , Fall Allan Jacobsson gegen Schweden, RJD 1998-I, S 168, Rz. 46; EGMR , Fall Fischer gegen Österreich, Serie A Nr. 312, Rz. 43f.) - auch die Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK zur Folge (vgl. auch ).
3. Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.
4. Der Kostenspruch beruht auf § 88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist die Umsatzsteuer in der Höhe von € 360,- enthalten.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.