OGH vom 16.11.2010, 14Os152/10z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Koller als Schriftführer in der Strafsache gegen Jun Y***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens der erpresserischen Entführung nach § 102 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 449 Hv 1/05y des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag der Generalprokuratur gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur wird im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Jungpeng J***** betreffenden Berufungsverfahrens verfügt, das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , AZ 21 Bs 274/05f, das im Übrigen unberührt bleibt, in dem diesen Angeklagten betreffenden Umfang aufgehoben und die Sache insoweit zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom , GZ 449 Hv 1/05y 183, an das Oberlandesgericht Wien verwiesen.
Text
Begründung:
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom , GZ 449 Hv 1/05y-183, wurde soweit hier relevant - Jungpeng J***** des Verbrechens der erpresserischen Entführung nach § 102 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür nach § 102 Abs 1 StGB unter Anwendung des § 41 Abs 1 (Z 2) StGB zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, von der nach § 43a Abs 3 StGB ein sechzehnmonatiger Strafteil unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde.
Der dagegen erhobenen Berufung der Staatsanwaltschaft (ON 191, ON 200) gab das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht mit Urteil vom , AZ 21 Bs 274/05f (ON 222), Folge und erhöhte die Freiheitsstrafe auf neun Jahre.
Die Ladung zur Berufungsverhandlung wurde dem Angeklagten, der am aus der Untersuchungshaft entlassen worden war (ON 211, 212), am an einer offenbar von seiner Verteidigerin bekannt gegebenen (vgl den Bleistiftvermerk auf der Jungpeng J***** betreffenden Zentralmeldeauskunft im Akt 21 Bs 274/05f des Oberlandesgerichts Wien), schon in der Anzeige der Bundespolizeidirektion Wien vom erwähnten (ON 7 S 23) Adresse durch Hinterlegung zugestellt (vgl den Rückschein im Bs Akt). Die Sendung wurde am unbehoben an das Berufungsgericht retourniert.
Zum Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung erschien Jungpeng J***** nicht, sie wurde in seiner Abwesenheit durchgeführt. Eine Prozesserklärung betreffend einen allfälligen Verzicht auf Teilnahme des Angeklagten durch seinen anwesenden Verteidiger ist dem Protokoll nicht zu entnehmen (ON 220).
Erst am ergaben vom Erstgericht veranlasste polizeiliche Erhebungen zur Ortsanwesenheit des Verurteilten, dass dieser an der Adresse, an der ihm die Ladung zur Berufungsverhandlung zugestellt wurde, zwar seit aufrecht gemeldet, jedoch seit Dezember 2004 nicht mehr aufhältig war (ON 146).
Aus von der Generalprokuratur beigeschafften Urkunden geht zudem hervor, dass über den Genannten bereits mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom , Zl III-1105250/FrB/05, für den Fall der Entlassung aus der Gerichtshaft die Schubhaft verhängt worden war. Am wurde ihm im Polizeianhaltezentrum Wien der Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom selben Tag, Zl III 1105250/FrB/05, auf Verhängung eines unbefristeten Aufenthaltsverbots zugestellt, demzufolge er nach Eintritt der Durchsetzbarkeit zur unverzüglichen Ausreise aus dem Bundesgebiet verpflichtet war.
Jungpeng J***** verbüßt die über ihn verhängte Freiheitsstrafe derzeit in der Justizanstalt Graz-Karlau, nachdem er aufgrund eines vom Erstgericht erlassenen Europäischen Haftbefehls (ON 256) am in München festgenommen (ON 265) und am zur Strafvollstreckung nach Österreich ausgeliefert worden war (ON 268).
Rechtliche Beurteilung
Aufgrund der oben genannten nachträglichen Verfahrensergebnisse begehrt die Generalprokuratur die außerordentliche Wiederaufnahme des Jungpeng J***** betreffenden Berufungsverfahrens. Der Antrag ist zulässig, weil die analoge Anwendung des § 362 Abs 1 Z 2 StPO durch den Obersten Gerichtshof stets dann in Betracht kommt, wenn sich herausstellt, dass letztinstanzliche strafgerichtliche Entscheidungen, die nicht vom Obersten Gerichtshof gefällt worden sind, auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv falschen Verfahrensgrundlage ergangen sind, ohne dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen wäre (RIS-Justiz RS0117416, RS0117312; Ratz , WK-StPO § 292 Rz 16, § 362 Rz 4; Fabrizy StPO 10 § 362 Rz 3).
Nach § 294 Abs 5 zweiter Satz StPO in der damals geltenden Fassung BGBl I 2000/108 waren für die Anberaumung und Durchführung des Gerichtstags zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung die Bestimmungen der §§ 286 und 287 StPO dem Sinne nach mit der Maßgabe anzuwenden, dass der nicht verhaftete Angeklagte vorzuladen (wobei im Falle unentschuldigten Fernbleibens in seiner Abwesenheit verhandelt werden konnte; § 286 Abs 1 letzter Satz StPO idF BGBl 1975/631) und die Vorführung des verhafteten Angeklagten zu veranlassen war, es sei denn, dieser hätte durch seinen Verteidiger ausdrücklich darauf verzichtet. Nach § 286 Abs 1 erster Halbsatz StPO idF BGBl 1975/631 war die Vorladung des Angeklagten in der Art vorzunehmen, dass er diese wenigstens acht Tage vor dem Gerichtstag erhalte (ein Zustellnachweis war nicht erforderlich; vgl § 79 StPO in der damals geltenden Fassung BGBl I 2000/26; 13 Os 63/03), wobei ihm zu bedeuten war, dass im Falle seines Ausbleibens seine Beschwerden und Ausführungen vorgetragen und der Entscheidung zugrunde gelegt werden würden.
Wie die Generalprokuratur zutreffend darlegt, führte das Berufungsgericht die Berufungsverhandlung auf der Grundlage der ihm zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Aktenlage demnach rechtsrichtig (§§ 286 Abs 1 und 287 Abs 3 StPO in der damals geltenden Fassung BGBl 1975/631) in Abwesenheit des Angeklagten durch.
Die nachträglich zu den Akten gelangten Ergebnisse der im Jänner 2006 durchgeführten Erhebungen im Verein mit den oben genannten fremdenpolizeilichen Bescheiden und dem Umstand, dass Jungpeng J***** keinen ausdrücklichen Verzicht auf die Teilnahme an der Berufungsverhandlung durch einen Verteidiger erklärt hatte (vgl dazu 15 Os 126/09g), wecken aber erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der der Berufungsentscheidung des Oberlandesgerichts Wien zugrunde gelegten Annahme, wonach die Voraussetzungen für eine Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten vorlagen, wobei die Annahme dieser Tatsachengrundlage geeignet ist, zu seinem Nachteil zu wirken.
Es war daher dem Antrag der Generalprokuratur stattzugeben, das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , AZ 21 Bs 274/05f, im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang aufzuheben und dem Oberlandesgericht Wien insoweit die neuerliche Entscheidung über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom , GZ 449 Hv 1/05y-183, aufzutragen.
Mit der in Hinsicht auf die Entscheidung über die ergriffene Berufung verfügten Wiederaufnahme tritt (erneut) die von § 294 Abs 1 zweiter Satz StPO mit der Berufungsanmeldung verbundene aufschiebende Wirkung ein ( Ratz , WK-StPO § 294 Rz 1, § 362 Rz 7).