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VfGH vom 30.09.2002, B423/01

VfGH vom 30.09.2002, B423/01

Sammlungsnummer

16638

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Zurückweisung der Beschwerde des Vaters und gesetzlichen Erben sowie des Cousins eines während einer polizeilichen Einvernahme verstorbenen Häftlings gegen die Unterlassung ärztlicher Hilfeleistung; Unterlassen bestimmter Maßnahmen im Zuge einer Festnahme und Anhaltung vor dem UVS bekämpfbarer Akt

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit € 2.339,88 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Der Erstbeschwerdeführer ist der Vater und gesetzliche Erbe, der Zweitbeschwerdeführer ist der Cousin des A. I., der am in der Justizanstalt für Jugendliche in Wien-Erdberg verstorben ist.

1.2. A. I. wurde am im Zuge einer Razzia wegen Verdachts des Suchtmittelhandels festgenommen; seine Einvernahme erfolgte im Wiener Sicherheitsbüro. Die folgenden zwei Tage verbrachte er in Verwahrungshaft im Polizeigefangenenhaus Rossauer Kaserne; am wurde er in die Justizanstalt Erdberg eingeliefert. Am wurde er in seiner Zelle im Sessel sitzend tot aufgefunden.

Nach dem Beschwerdevorbringen - das sich zum Großteil auf diverse Medienberichte stützt - habe eine am gerichtsmedizinischen Institut durchgeführte Obduktion ergeben, dass A. I. an verschluckten Drogenpäckchen verstorben sei. Der Verdacht, dass er möglicherweise Suchtgift verschluckt habe, habe bereits bei seiner Verhaftung bestanden. Aus diesem Grund sei er im Polizeigefangenenhaus in einer so genannten "Schluckerzelle" untergebracht worden, wo Kontrollen der Darmausscheidungen durchgeführt werden können.

2.1. Die Beschwerdeführer erhoben beim Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (im Folgenden: UVS) Beschwerde gemäß Art 129a Abs 1 Z 2 B-VG, in der sie beantragten, der UVS Wien möge

"feststellen, daß A. I. durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien vom bis zu seiner Überstellung in die Justizanstalt Wien-Erdberg durch nachstehende Handlungen bzw. Unterlassungen in seinem Recht auf Leben gem. Art 2 MRK verletzt wurde:

* keine ausreichende ärztliche Untersuchung;

* keine ständige ärztliche Überwachung;

* kein ausdrücklicher Hinweis eines Arztes, daß die Situation für A. I. lebensbedrohlich ist, wenn er tatsächlich Drogen verschluckt hat;

* die Nichtdurchführung einer röntgenologischen Untersuchung um festzustellen, ob A. I. Suchtgift verschluckt hat oder nicht;

* das Nichteinräumen der Möglichkeit, allenfalls verschluckte Drogen auszuscheiden, ohne daß diese als Beweismittel im Strafverfahren gegen A. I. sichergestellt werden;

* das Unterlassen von ausdrücklichen Warnhinweisen an die Justizanstalt Wien-Erdberg, daß der begründete Verdacht bestehe, daß A. I. Drogen verschluckt hat;

* im übrigen mögen diese Amtshandlungen für rechtswidrig erklärt werden".

2.2. Der UVS wies die Beschwerde mangels Vorliegens unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt mit Bescheid vom als unzulässig zurück. Die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt setze begriffsnotwendig ein positives Tun voraus und könne nicht in einem bloßen Unterbleiben eines Verhaltens bestehen, auch wenn auf dieses Verhalten - etwa weil es zur Realisierung eines im Gesetz eingeräumten Rechts unerlässlich sei - ein Anspruch bestehe.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs 2 B-VG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheids beantragt wird.

4. Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt, auf die Erstattung einer Gegenschrift aber verzichtet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige (vgl. auch ) - Beschwerde erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10.374/1985, 11.405/1987, 13.280/1992).

2.1. Die im vorliegenden Fall erhobene Beschwerde an den UVS richtete sich der Sache nach gegen die - in der Beschwerde näher spezifizierten - Umstände und Bedingungen, unter denen der Verstorbene von 29. April bis im Polizeigefangenenhaus angehalten wurde. Insbesondere werfen die Beschwerdeführer den Behörden vor, trotz der bestehenden Vermutung, dass der Inhaftierte Drogen verschluckt habe, die ärztliche Betreuung unterlassen zu haben.

Der UVS begründete den Bescheid, mit dem die Beschwerde zurückgewiesen wurde, damit, dass es sich im vorliegenden Fall um bloßes Unterlassen handle, das nicht als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt bekämpfbar sei.

2.2. Es ist zwar zutreffend, dass nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ein Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt dann nicht vorliegt, wenn die Behörde bloß untätig blieb, weil sie in dieser Beziehung von ihrer Befehls- und Zwangsgewalt gar nicht Gebrauch machte (zB VfSlg. 6470/1971, 9025/1981, 9813/1983).

Ein - nicht bekämpfbares - bloßes Untätigbleiben im Sinne dieser Judikatur liegt jedoch im hier gegebenen Fall gerade nicht vor: Der gegen eine Person durch Festnahme geübte Polizeizwang dauert für die gesamte Dauer der nachfolgenden Haftanhaltung unvermindert fort (VfSlg. 9813/1983). Damit ist aber nicht nur eine Festnahme bzw. eine Anhaltung an sich als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt bekämpfbar, sondern sind auch die Umstände, unter denen die Anhaltung erfolgte, einer (gesonderten) Anfechtung zugänglich (vgl. zB VfSlg. 8126/1977, 8627/1979, 10.051/1984, 11.673/1988 zur Verfassungsrechtslage vor der B-VG-Novelle 1988 - der Begriff der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt hat durch diese Novelle keine Änderung erfahren, s. zB VfSlg. 13.670/1994). Zu diesen Umständen zählen etwa auch die Verweigerung ärztlicher Hilfe und die Zustände in den Arrestlokalen (VfSlg. 8627/1979).

Ob das Unterlassen der Sicherstellung einer medizinischen Betreuung eines Häftlings - der nach eigenen Angaben drogensüchtig war und bei dem zusätzlich die Vermutung bestand, er habe vor seiner Festnahme Suchtgift verschluckt - im konkreten Fall eine Verletzung von Bestimmungen der Anhalteordnung (BGBl. II Nr. 128/1999) und damit auch einen Verstoß gegen die aus Art 2 EMRK erfließende staatliche Schutzpflicht darstellte, wird vom UVS im Zuge des Verfahrens zu entscheiden sein. Dass das Unterlassen bestimmter Maßnahmen jedoch einen anfechtbaren Akt im Sinne des Art 129a B-VG darstellen kann, ist zweifelsfrei (vgl. dazu Köhler, Art 129a B-VG, in: Korinek/Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Rz. 45 ff. mwH).

2.3. Auf Basis einer rechtsirrigen Auffassung wurde die Beschwerde vom UVS zurückgewiesen; somit hat der UVS zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert und die Beschwerdeführer insoweit im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG; im zugesprochenen Betrag sind ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von € 163,50, Umsatzsteuer in Höhe von € 359,70 sowie der Ersatz der entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 181,68 enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.