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VfGH vom 21.06.2000, B412/98

VfGH vom 21.06.2000, B412/98

Sammlungsnummer

15840

Leitsatz

Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit durch Unterbleiben der rechtzeitigen Inkenntnissetzung des beschwerdeführenden Rechtsanwaltes von der Äußerung des Kammeranwaltes im Verfahren vor der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in dem durch Art 6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.

Der Bescheid wird daher aufgehoben.

Die Tiroler Rechtsanwaltskammer ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit S 29.500,- bestimmten Prozeßkosten bei sonstigem Zwang zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Disziplinarrat der Tiroler Rechtsanwaltskammer (im folgenden: Disziplinarrat) erkannte mit Bescheid vom den Beschwerdeführer der Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes für schuldig, weil er sowohl gegen § 2 RL-BA als auch gegen § 9 Abs 1 RAO verstoßen habe und verhängte über ihn gemäß § 16 Abs 1 Z 2 Disziplinarstatut 1990 idF BGBl. 1990/474 (im folgenden: DSt 1990) eine Geldbuße in der Höhe von S 15.000,-.

2. Die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK) gab der dagegen erhobenen Berufung hinsichtlich der Schuldsprüche des Disziplinarrates zum Teil Folge. Unter Berücksichtigung des "teilweisen Freispruches" wurde die über den Disziplinarbeschuldigten verhängte Geldbuße auf S 10.000,- herabgesetzt.

3. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

4. Die OBDK als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, erstattete jedoch keine Gegenschrift.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Der Beschwerdeführer macht ua. geltend, er habe erst anläßlich der Berufungsverhandlung Kenntnis davon erhalten, daß sowohl der Kammeranwalt als auch der Generalprokurator Äußerungen zu der von ihm eingebrachten Berufung abgegeben hätten. Da ihm diese Äußerungen nicht zur Kenntnis gebracht worden seien und ihm dadurch die Möglichkeit der Entgegnung genommen worden sei, könne unter Hinweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom im Fall Bulut gg. Österreich nicht von einer Waffengleichheit im Verfahren vor der OBDK gesprochen werden.

2. Dieser Vorwurf erweist sich im Ergebnis als berechtigt.

2.1. Die maßgebliche Rechtslage im DSt 1990 stellt sich wie folgt dar:

"§47. Die Rechtsmittel der Berufung und der Beschwerde stehen zu:


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1.
dem Beschuldigten;
2.
dem Kammeranwalt;
3.
der Oberstaatsanwaltschaft, in deren Sprengel der Disziplinarrat seinen Sitz hat, jedoch nur bei einem Disziplinarvergehen, durch das Berufspflichten verletzt wurden.

§48. (1) Die Berufung oder die Beschwerde ist binnen vier Wochen nach Zustellung der Entscheidung bei dem Disziplinarrat, der sie gefällt hat, schriftlich in dreifacher Ausfertigung einzubringen.

(2) Je eine Ausfertigung des Rechtsmittels ist den anderen zur Erhebung eines Rechtsmittels Berechtigten zuzustellen, die hiezu binnen vier Wochen eine schriftliche Äußerung abgeben können. Nach Einlangen aller Äußerungen oder nach Fristablauf sind die Akten der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission vorzulegen.

(3) Für die Akteneinsicht der im § 47 Genannten sowie der Generalprokuratur gilt § 31 Abs 3 sinngemäß."

2.2. Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner ständigen Rechtsprechung, wonach die Verfahrensgarantien nach Art 6 EMRK im Disziplinarverfahren vor der OBDK Anwendung finden (vgl. bereits VfSlg. 11512/1987, jüngst ).

2.3. Wie sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt der OBDK ergibt (Z14 Bkd 8/97, ON 6), behielt sich der Generalprokurator mit Schreiben vom vor, erst in der für den anberaumten mündlichen Verhandlung zur Berufung des Beschwerdeführers Stellung zu nehmen. Tatsächlich trug der Generalprokurator erst in der mündlichen Verhandlung vor der OBDK die angekündigte Äußerung vor. Die Ausführungen der Beschwerde, wonach dem Beschwerdeführer eine zuvor (vor der mündlichen Verhandlung) abgegebene schriftliche Stellungnahme des Generalprokurators nicht zugestellt worden sei, haben sich daher als unrichtig erwiesen.

Nicht nur dem Generalprokurator, sondern auch dem Kammeranwalt wurde Gelegenheit geboten, zu der vom Beschwerdeführer eingebrachten Berufung Stellung zu nehmen. Der Kammeranwalt erstattete mit Schriftsatz vom in der Sache eine ausführliche Äußerung iS des § 48 Abs 2 DSt 1990 (s. Verwaltungsakt des Disziplinarrates zur Zl. D 31/96, DV 25/96, ON 17) und trat dafür ein, der Berufung keine Folge zu geben und das Erkenntnis des Disziplinarrates vom vollinhaltlich zu bestätigen. Wie sich aus einem Schreiben des Disziplinarrates vom an die OBDK ergibt (ON 18 des Verwaltungsaktes des Disziplinarrates), wurde diese Äußerung zwar der OBDK, nicht jedoch dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht, sodaß diese Äußerung des Kammeranwaltes - vom Beschwerdeführer unbeantwortet - in die Entscheidungsfindung der OBDK einfließen konnte.

2.4. Durch die Unterlassung der Inkenntnissetzung des Beschwerdeführers von dieser Äußerung hat die OBDK nicht bloß einen einfachgesetzlichen Verfahrensfehler begangen, sondern einen solchen, der im Hinblick aus dem sich aus dem verfassungsgesetzlichen Gebot, ein faires Verfahren durchzuführen (Art6 EMRK), ergebenden "Grundsatz der Waffengleichheit" in die Verfassungssphäre eingreift:

2.4.1. Im Urteil vom , Brandstetter gg. Österreich (ÖJZ 1992, 97ff.), erachtete der EGMR das sich aus Art 6 EMRK im Rahmen des Rechtes auf ein fair trial ergebende Gebot der Waffengleichheit verletzt, weil die Stellungnahme des Oberstaatsanwaltes zum Rechtsmittel des damaligen Beschwerdeführers letzterem nicht zur Kenntnis gebracht wurde: In dem, dem EGMR-Urteil zugrundeliegenden Anlaßverfahren, erstattete die Oberstaatsanwaltschaft eine Stellungnahme ("Croquis") zum Rechtsmittel der Berufung des Angeklagten gegen das Urteil. Das "Croquis" wurde zum Gerichtsakt genommen. Weder die Tatsache der Stellungnahme noch die Stellungnahme selbst wurden der Verteidigung zur Kenntnis gebracht. Obwohl sich das Recht der Verteidigung auf Akteneinsicht auch auf das "Croquis" bezogen hatte, erachtete es der EGMR durch diese Vorgangsweise nicht ausreichend gesichert, daß der Verteidigung dieses "Croquis" zwecks allfälliger Gegenäußerung zur Kenntnis gelangt (vgl. in diesem Zusammenhang auch EGMR , Kremzow gg. Österreich (ÖJZ 1994, 210ff.))

Im gleich gelagerten Fall Bulut gg. Österreich vom (ÖJZ 1996, 430ff.) ging der EGMR in seiner Begründung noch einen Schritt weiter, indem er die Auffassung vertrat, daß es für die Annahme der Verletzung des Rechts auf ein fair trial nicht darauf ankomme, ob ein Vorbringen der Gegenseite eine Reaktion der Verteidigung erfordere. Dies zu beurteilen sei ausschließlich Sache der Verteidigung (vgl. diesbezüglich auch die abweichende Stellungnahme des Richters Matscher). Der EGMR befand, "es sei daher unfair, wenn die Anklagebehörde gegenüber dem Gericht ein Vorbringen erstattet, von dem die Verteidigung nichts weiß".

2.4.2. Im Erkenntnis VfSlg. 14790/1997 erachtete der Verfassungsgerichtshof die damaligen Beschwerdeführer im Recht auf ein faires Verfahren verletzt, weil der im Disziplinarverfahren der Wirtschaftstreuhänder eingerichtete Berufungssenat dem Kammeranwalt Gelegenheit gab, zu den eingebrachten Berufungen Stellung zu nehmen, jedoch die in der Folge erbrachten Stellungnahmen den Beschwerdeführern nicht zur Kenntnis gebracht wurden (vgl. auch die das Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte betreffenden Erkenntnisse VfSlg. 9431/1982 und 10858/1986, in denen es der Verfassungsgerichtshof als dem Gleichheitsgrundsatz widersprechend ansah, daß dem Generalprokurator ein Informationsvorsprung gegenüber dem Beschuldigten eingeräumt wurde).

2.4.3. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich anläßlich des vorliegenden Falles - auch im Hinblick auf die dargestellte Judikatur des EGMR - nicht veranlaßt, von dieser Rechtsprechung abzugehen: Auch hier hätte dem Beschwerdeführer die Äußerung des Kammeranwaltes übermittelt werden müssen, um ihm auf diese Weise die Gelegenheit einer Replik zu geben. Der Wortlaut des § 48 DSt 1990 steht dieser verfassungsgesetzlich gebotenen Vorgangsweise jedenfalls nicht im Wege. Der im § 48 Abs 3 DSt 1990 geregelte Anspruch des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht ist nicht ausreichend, um den Garantien des Art 6 EMRK zu genügen (vgl. EGMR im Fall Brandstetter). Im Unterbleiben der rechtzeitigen Inkenntnissetzung hat der Beschwerdeführer im Verfahren vor der OBDK gegenüber der "Anklageseite" einen Informationsnachteil erlitten, der ihn im Hinblick auf den "Grundsatz der Waffengleichheit" in seinem gemäß Art 6 EMRK gewährleisteten Recht verletzt.

Der angefochtene Bescheid war sohin wegen Verletzung des durch Art 6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein faires Verfahren aufzuheben.

2.4.4. Bei diesem Ergebnis war es entbehrlich, auf das Beschwerdevorbringen im einzelnen einzugehen.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG 1953. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von

S 4.500,- enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.