OGH vom 19.03.2013, 11Os35/13a (11Os36/13y, 11Os37/13w, 11Os38/13t)
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab, Mag. Lendl, Mag. Michel und Dr. Oshidari als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Dr. Pausa als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Erhan S***** wegen der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 3 U 63/11v des Bezirksgerichts Reutte, über die von der Generalprokuratur gegen das Abwesenheitsurteil dieses Gerichts vom , ON 36, sowie den Beschluss dieses Gerichts vom , ON 42, und zwei Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache AZ 3 U 63/11v des Bezirksgerichts Reutte verletzen das Gesetz
1./ die Verlesung der Aussage des Zeugen Thomas H***** in der Hauptverhandlung vom in § 252 Abs 1 Z 1, Z 4 StPO iVm § 458 letzter Satz StPO;
2./ die Verlesung des Abschlussberichts der Polizei vom , soweit darin Aussagen nicht in der Hauptverhandlung vernommener Zeugen enthalten sind, in § 252 Abs 1 Z 4 StPO iVm § 458 letzter Satz StPO;
3./ die im Abwesenheitsurteil vom , GZ 3 U 63/11v 36, erfolgte Verwertung des in der Hauptverhandlung nicht vorgekommenen gerichtsmedizinischen Gutachtens ON 12 in § 258 Abs 1 StPO;
4./ der Beschluss des Bezirksrichters vom , GZ 3 U 63/11v 42, in seinem Punkt 2./ durch die Zurückweisung der Berufung des Angeklagten als verspätet in §§ 478 Abs 2, 470 Z 1 StPO.
Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Reutte vom , GZ 3 U 63/11v 36, wird aufgehoben und es wird die Strafsache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Reutte verwiesen.
Mit seiner gegen dieses Urteil erhobenen Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Im Strafverfahren des Bezirksgerichts Reutte gegen Erhan S***** wegen der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 3 U 63/11v, führte der Bezirksrichter die Hauptverhandlung am in Abwesenheit des ordnungsgemäß geladenen (ON 34) Angeklagten durch (ON 35). Nach Vernehmung des Zeugen Andreas P***** und der „gemäß § 252 Abs 1 Z 1 und im Einvernehmen mit dem Bezirksanwalt“ vorgenommenen Verlesung der Aussage des Zeugen Thomas H*****, dessen „Ladung nicht ausgewiesen“ war (ON 35 S 4), und des „wesentlichen Inhalts“ des Abschlussberichts vom (= ON 2) sowie weiterer Erhebungsergebnisse wurde Erhan S***** mit Abwesenheitsurteil vom des Vergehens (richtig: der Vergehen) der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer siebenmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt (ON 36).
Danach hat er am in E***** nachstehende Personen durch Faustschläge in das Gesicht vorsätzlich am Körper verletzt, und zwar
1./ Thomas H*****, wobei dieser eine Zahnverletzung im Bereich des ersten Schneidezahns im linken Oberkiefer erlitt,
2./ Andreas P*****, wobei dieser eine Rissquetschwunde samt Prellung im Bereich des linken Auges erlitt.
Begründend führt der Bezirksrichter ua aus (US 3), dass sich der festgestellte Sachverhalt „schlüssig und widerspruchsfrei aus den Erhebungen der Polizei, insbesondere den glaubwürdigen Aussagen der Zeugen H***** und P*****“, ergibt. „Die Verletzungen schließen sich aus dem entsprechenden Attest bzw hinsichtlich H***** aus dem“ [in der Hauptverhandlung überhaupt nicht vorgekommenen!] „gerichtsmedizinischen Gutachten ON 12“.
Gegen dieses Urteil erhob der Angeklagte nach dessen Zustellung am (ON 40 S 3) mit am zur Post gegebenem Schriftsatz Einspruch und erklärte unter einem, „Berufung einzulegen“ (ON 39). Mit Beschluss vom verwarf das Bezirksgericht den Einspruch (Punkt 1./) und wies die Berufungsanmeldung als verspätet zurück (Punkt 2./), letzteres weil Rechtsmittel gegen Urteile „innerhalb 3 er Tage“ angemeldet werden müssen (ON 42). Der Beschluss erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, verletzen der gerade erwähnte Beschluss, das Abwesenheitsurteil und davor liegende Vorgänge das Gesetz.
Gemäß § 252 Abs 1 StPO dürfen (unter anderem) Aussagen von Zeugen in der Hauptverhandlung nur in den im Gesetz genannten, das strafprozessuale Unmittelbarkeitsprinzip gegen Surrogate absichernden (RIS Justiz RS0118778) Fällen verlesen werden.
§ 252 Abs 1 Z 1 StPO sieht Ausnahmen vom Verlesungsverbot wegen der Unmöglichkeit vor, die persönliche Vernehmung eines Zeugen (oder Mitbeschuldigten) vor dem erkennenden Gericht etwa wegen Krankheit oder Gebrechlichkeit oder entfernten Aufenthalts zu bewerkstelligen. Die Frage, welche Anstrengungen ein Gericht zur Ladung eines Zeugen unternehmen muss, bevor es davon ausgehen kann, dass dessen persönliches Erscheinen „füglich nicht bewerkstelligt werden konnte“ (§ 252 Abs 1 Z 1 StPO), kann immer nur nach Lage des konkreten Einzelfalls beurteilt werden, wobei die Verlesungsvoraussetzungen umso restriktiver zu handhaben sind, je wichtiger der fragliche Zeugenbeweis insbesondere unter Berücksichtigung der übrigen Verfahrensergebnisse für die Wahrheitsfindung ist und je schwerer der dem Angeklagten zur Last liegende Vorwurf wiegt (RIS Justiz RS0108361). Das bloße Fernbleiben des Zeugen H*****, bei dem nicht einmal die Zustellung der Ladung ausgewiesen ist, vermag die Verlesung seiner Aussage vor der Polizei gemäß § 252 Abs 1 Z 1 StPO nicht zu rechtfertigen.
Die den Angeklagten im relevanten Kernbereich belastenden sich auch auf das Schuldspruchfaktum 2./ beziehenden Aussagen der Zeugen Johannes W***** (ON 2 S 33 f) und Gerhard Wi***** (ON 2 S 37 f) wurden durch die „im Einvernehmen mit dem Bezirksanwalt“ vorgenommene Verlesung des Abschlussberichts vom (ON 2) in das Verfahren eingebracht. Eine einverständliche Verlesung im Sinn des § 252 Abs 1 Z 4 StPO konnte jedoch nicht stattfinden, weil aus der Abwesenheit des gesetzeskonform geladenen Angeklagten in der Hauptverhandlung seine Verlesungszustimmung im Sinn der genannten Bestimmung nicht abgeleitet werden kann (RIS Justiz RS0117012; Kirchbacher , WK StPO § 252 Rz 103).
Gemäß § 258 Abs 1 StPO hat „das Gericht … bei der Urteilsfällung nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist“ ( Lendl , WK StPO § 258 Rz 3 ff). Das gerichtsmedizinische Gutachten ON 12 ist nach dem Protokoll der Hauptverhandlung gerade nicht in das Verfahren eingebracht worden (und hätte nach Lage des Falles auch gemäß § 252 Abs 1, Abs 2 StPO durch Verlesung nicht eingebracht werden dürfen RIS Justiz RS0102088, RS0099246, RS0098177).
Da sowohl die unzulässige Verlesung der Depositionen der Zeugen Thomas H*****, Johannes W***** und Gerhard Wi***** als auch das in der Hauptverhandlung nicht vorgekommene gerichtsmedizinische Gutachten nach der Beweiswürdigung des Bezirksgerichts Grundlagen beider Schuldsprüche waren, ist nicht auszuschließen, dass die Gesetzesverletzungen dem Angeklagten zum Nachteil gereichten. Der Oberste Gerichtshof sah sich daher gemäß § 292 letzter Satz StPO veranlasst das Urteil aufzuheben.
Zur evident zum Nachteil des Angeklagten erfolgten „Zurückweisung“ dessen Berufung gegen dieses Urteil:
Gegen ein in Abwesenheit des Angeklagten beim Bezirksgericht ergangenes Urteil kann gemäß § 478 Abs 1 StPO binnen 14 Tagen nach Urteilszustellung Einspruch erhoben werden und entweder schon mit dem Einspruch (vgl EvBl 1970/188, 1979/67 ua) oder erst mit der an das Landesgericht gerichteten Beschwerde gegen die Verwerfung des Einspruchs durch das Bezirksgericht das Rechtsmittel der Berufung verbunden werden (§ 478 Abs 2 StPO), das in diesen Fällen nicht gesondert angemeldet werden muss ( Ratz , WK StPO § 478 Rz 6; RIS Justiz RS0101837 [T4]).
Die Erklärung des Angeklagten in seinem (rechtzeitigen) Einspruch, Berufung einzulegen (ON 39), entspricht diesen Voraussetzungen.
Im bezirksgerichtlichen Verfahren obliegt die Kompetenz zur Zurückweisung der Berufung zufolge des hier maßgeblichen § 470 Z 1 StPO ausschließlich dem Landesgericht als Berufungsgericht ( Fabrizy , StPO 11 § 467 Rz 4). Die Bezugnahme des Bezirksrichters auf § 285a Z 1 StPO (ON 42 S 2), der dem Landesgericht (als Schöffengericht) die Zurückweisung einer verspätet angemeldeten Nichtigkeitsbeschwerde aufträgt, war verfehlt § 471 StPO verweist gerade nicht auf § 285a StPO.
Zufolge der gemäß § 292 letzter Satz StPO verfügten Aufhebung des bekämpften Urteils erübrigt sich eine formelle Kassation des hievon rechtslogisch abhängenden Beschlusses vom , ON 42, in seinem gesetzwidrigen Teil (RIS Justiz RS0100444; Ratz , WK StPO § 292 Rz 28).