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OGH vom 18.01.1994, 10ObS259/93

OGH vom 18.01.1994, 10ObS259/93

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Heinz Paul (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Renate Klenner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ronald W***** ohne Beschäftigungsangabe, ***** vertreten durch Dr.Julius Brändle und Dr.Karl Schelling, Rechtsanwälte in Dornbirn, wider die beklagte Partei Vorarlberger Gebietskrankenkasse, 6850 Dornbirn, Jahngasse 4, vertreten durch Dr.Klaus Grubhofer, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen Leistungen aus dem Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 5 Rs 67/93-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Arbeits- und Sozialgerichtes vom , GZ 35 Cgs 95/91-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten der Revision, die Beklagte die der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am geborene Kläger konsumiert seit dem 16. Lebensjahr regelmäßig Suchtgifte aller Art. Seit mindestens zehn Jahren besteht eine körperliche und psychische Abhängigkeit im Sinn einer Polytoxikomanie einschließlich des Morphin- und Kokaintyps in einem weit fortgeschrittenem Stadium. Am späten Nachmittag oder frühen Abend des schnupfte er mit Freunden vier oder fünf Prisen Kokain. Gegen 22.15 Uhr fuhr er mit dem Zug nach Innsbruck, wo er gegen 1.30 Uhr ankam. Für den direkten Weg zu seiner Wohnung brauchte er etwa 30 Minuten. Nach Betreten seines im 4. Stock gelegenen Zimmers versuchte er, das Fenster zu schließen. Dies gelang ihm nicht. weil er den Rolladen nicht hochziehen konnte. Da er sehr müde war, legte er sich dann sofort auf das zugeschlagene Bett, ohne Kleidung und Schuhe abzulegen. Er wollte sich nur kurz ausruhen und dann das Zimmer aufräumen, schlief jedoch ein. Später stürzte er aus dem Fenster auf die Straße, wo er um 3.05 Uhr schwer verletzt gefunden wurde. Durch den Sturz erlitt er lebensgefährliche Verletzungen und war lang bewußtlos. Infolge dieser Verletzungen war er vom bis arbeitsunfähig. Bis bezog er vom beklagten Träger der Krankenversicherung Kranken- bzw Taggeld. Die Ursache des Sturzes aus dem Fenster war mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein sogenanntes Kokaindelir. Dieses entwickelt sich innerhalb von 24 Stunden nach dem Konsum von Kokain. Es ist durch taktile und olphaktorische Halluzinationen, Affektlabilität, gewalttätiges und aggressives Verhalten gekennzeichnet, das oft die Fixierung des Betroffenen erfordert. Differentialdiagnostisch käme auch eine kokaininduzierte wahnhafte Störung in Frage. Bei einer solchen kommt es zu Verzerrungen des Körperbildes, Fehlwahrnehmungen, aggressiven oder gewalttätigen Handlungen, Halluzinationen und Unruhezuständen. Eine Kokainintoxikation zum Unfallszeitpunkt ist mit großer Wahrscheinlichkeit auszuschließen, weil der Kläger das Kokain mehrere Stunden vorher genommen hatte und bis dahin von anderen Intoxikationserscheinungen frei war. Er befand sich im Unfallszeitpunkt in einem Zustand, der relativ plötzlich im Rahmen eines beginnenden Entzuges auftritt. Die als Folgen des Drogenkonsums auftretenden Komplikationen können sich auch bei sehr erfahrenen Drogenkonsumenten einstellen. Es handelt sich um schwer kalkulierbare Zwischenfälle, mit denen aber jederzeit gerechnet werden muß.

Auf Grund dieses Sachverhaltes wies das Erstgericht das auf Leistung von Kranken- und Taggeld im gesetzlichen Ausmaß für die Zeit der Arbeitsunfähigekit infolge des Vorfalles vom gerichtete Klagebegehren ab.

Das Krankengeld sei nach § 142 Abs 1 ASVG zu versagen, weil es sich um eine Arbeitsunfähigkeit infolge einer Krankheit handle, die sich als unmittelbare Folge des Mißbrauches von Suchtgiften, nämlich des Kokainkonsums am Tag vor dem Unfall, erweise.

In der Berufung machte der Kläger Nichtigkeit des erstgerichtlichen Urteils und des diesem vorangegangenen Verfahrens im Sinn des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO geltend, weil ihm durch eine ungesetzliche Zustellung die Möglichkeit, am vor Gericht zu verhandeln, entzogen worden sei, weiters Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtige Beweiswürdigung und Tatsachenfeststellung und unrichtige rechtliche Beurteilung. Zur Rechtsrüge führte er aus, aus den Feststellungen ergebe sich nicht, daß die Verletzungen unmittelbare Folge eines Suchtgiftkonsums wären. Es handle sich vielmehr um eine mittelbare Auswirkung desselben.

Das Berufungsgericht verwarf die Berufung wegen Nichtigkeit in nicht öffentlicher Sitzung mit Beschluß; im übrigen gab es der Berufung nach mündlicher Berufungsverhandlung mit Urteil nicht Folge.

Die behauptete Nichtigkeit und Mangelhaftigkeit lägen nicht vor, die Beweisrüge und die Rechtsrüge seien nicht berechtigt. Die Verletzungen des Klägers seien eine unmittelbare Folge seines Suchtgiftkonsums. Eine Krankheit erweise sich dann als unmittelbare Folge des Mißbrauches von Suchtgiften, wenn sie auf das unter Suchtgifteinwirkung begangene abwegige Verhalten zurückzuführen sei oder nach allgemeinen Erfahrungsgrundsätzen als wahrscheinliche Folge in Betracht gezogen werden müsse. "Unmittelbar" sei nicht nur in zeitlicher Hinsicht, sondern kausal zu verstehen, so daß die Folgen typischerweise aus dem Suchtgiftmißbrauch entstünden. Nach den Feststellungen sei bei Suchtgiftmißbrauch mit derartigen Verhaltensweisen zu rechnen. Das müsse einem Süchtigen auch bekannt sein, so daß der Sturz aus dem Fenster und die dadurch verursachten Verletzungen als unmittelbare Folgen des Suchtgiftmißbrauches anzusehen seien.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die unrichtigerweise als "außerordentliche" bezeichnete Revision des Klägers. Er macht Nichtigkeit und unrichtige rechtliche Beurteilung, inhaltlich auch Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend und beantragt, die Urteile der Vorinstanzen im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder sie allenfalls aufzuheben.

Die Beklagte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie Kosten verzeichnet und beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässige (ordentliche) Revision ist nicht berechtigt.

Der im § 503 Z 1 ZPO genannte Revisionsgrund wurde zwar bezeichnet, aber nicht gesetzgemäß ausgeführt. Der Revisionswerber behauptet gar nicht, daß das Urteil (oder das Verfahren) des Berufungsgerichtes wegen eines der im § 477 ZPO bezeichneten Mängel nichtig sei. Er wiederholt nur den schon in der Berufung erhobenen Vorwurf, daß das erstgerichtliche Urteil und das diesem vorangegangene Verfahren iS des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO nichtig wären. Die diesbezügliche Nichtigkeitsberufung wurde vom Berufungsgericht mit Beschluß verworfen, diese Entscheidung des Berufungsgerichtes kann nach Lehre (zB Fasching, ZPR2 Rz 1905, 1974 und 1979) und ständiger Rechtsprechung weder mit Rekurs (SSV-NF 1/36 JBl 1991, 586; zuletzt , 10 Ob S 239/93) noch in der Revision bekämpft werden (zB MGA ZPO14 § 503 E 4).

Die inhaltlich geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Z 2 ZPO) - Unterlassung der Vernehmung des Klägers als Partei - liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit). Der behauptete Verfahrensmangel wurde bereits vom Berufungsgericht verneint und kann daher nach ständiger Rechtsprechung dieses Senates nicht neurlich in der Revision gerügt werden (zB SSV-NF 6/28 mwN; , 10 Ob S 134/93 mit Hinweis auf Ballon in Matscher-FS [1993] 15 f).

Auch der im § 503 Z 4 ZPO bezeichnete Revisionsgrund liegt nicht vor.

Nach § 117 Z 3 ASVG (in der hier noch anzuwendenden, bis geltenden Fassung vor der 50. ASVGNov BGBl 1991/676) wurden als Leistungen der Krankenversicherung nach Maßgabe der Bestimmungen des ASVG aus dem Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit Krankengeld (§§ 138 bis 143), gegebenenfalls an dessen Stelle Familien- oder Taggeld (§ 152) gewährt. Sowohl beim Familiengeld als auch beim Taggeld handelte es sich um vom Krankengeld abgeleitete Leistungen, die ein vom Krankengeldanspruch Ausgeschlossener nicht beanspruchen konnte (Tomandl, Grundriß des österreichischen Sozialrechts4 Rz 121, 122; Binder in Tomandl, SV-System 5. ErgLfg 237 f).

Nach § 142 Abs 1 ASVG gebührt das Krankengeld nicht für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit infolge einer Krankheit, sie sich ... als

unmittelbare Folge ... des Mißbrauches von Suchtgiften erweist. Diese Gesetzesstelle regelt trotz ihrer Überschrift "Versagung des Krankengeldes" nach der von der Lehre entwickelten Terminologie mehrere Fälle der "Verwirkung". Darunter wird ein dauernder und schon von Gesetzes wegen eintretender Anspruchsverlust verstanden. Der Gesetzgeber sieht die Verwirkung vor, wenn das zum Entstehen eines Leistungsanspruches führende Verhalten als Mißbrauch der Sozialversicherung oder als ein von der Gemeinschaft nicht zu prästierendes Verhalten angesehen wird. In einem solchen Fall entsteht trotz Erfüllung sämtlicher Tatbestandsmerkmale überhaupt kein Leistungsanspruch des sonst Leistungsberechtigten (Tomandl, Grundriß Rz 211, 212, 215; Schrammel in Tomandl, SV-System 5. ErgLfg 161 ff; Binder in Tomandl, SV-System 240; SSV-NF 4/66 mwN).

Die von Binder aaO 242 im Zusammenhang mit dem im § 142 Abs 1 ASVG ebenfalls geregelten Verwirkungsfall bei Trunkenheit gestellte Frage, ob eine Gesundheitsstörung im Sinn der Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien als bis letzter Instanz in Leistungsstreitsachen dann "unmittelbare Folge" der Trunkenheit ist, wenn sie zum Eintritt der Gesundheitsstörung "wesentlich" beigetragen hat, oder in Anlehnung an die Adäquanztheorie dann, wenn die Gesundheitsstörung aus einer durch Trunkenheit eröffneten Gefahenquelle typischerweise folgen muß, wurde in SSV-NF 4/66 = ZAS 1991/23 [zust. Müller] beantwortet. Der erkennende Senat führte zu dem damals anzuwendenden § 88 Abs 1 Z 2 ASVG aus, der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Begehen der strafbaren Handlung und dem Eintritt der Berufsunfähigkeit könne nicht im Sinn der im Unfallversicherungsrecht herrschenden Theorie der wesentlichen Bedingung oder der Äquivalenztheorie geklärt werden. Vielmehr sei die auch im Schadenersatzrecht allgemein anerkannte Adäquanztheorie anzuwenden. Dazu berief sich der Senat auch auf die Ausführungen Binders in Tomandl, SV-System (damals 3. ErgLfg) 243 f zu § 142 Abs 1 ASVG, wobei er diese Gesetzesstelle ausdrücklich als dem damals angewendeten § 88 Abs 1 Z 2 leg cit nach dem Regelungszweck vergleichbar bezeichnete. Demnach habe eine Person den Versicherungsfall nur dann veranlaßt, wenn die Handlung ihrer allgemeinen Natur nach für die Herbeiführung eines derartigen Erfolges nicht als völlig ungeeignet erscheinen müsse und nicht nur infolge einer ganz außergewöhnlichen Verkettung von Umständen zu einer Bedingung des Versicherungsfalles geworden sei (zB Koziol-Welser, Grundriß des bürgerlichen Rechts9 443). Binder aaO 242 ist daher zuzustimmen, daß Erkrankungen oder Verletzungen, die typischerweise aus Trunkenheit, etwa durch Sturz oder durch Verkehrsunfall des alkoholisierten Versicherten, folgen, zum Leistungsausschluß nach § 142 Abs 1 ASVG führen.

Binder weist aaO 243 weiters zutreffend darauf hin, daß das Tatbestandsmerkmal der "unmittelbaren Folge" im Falle des - in diesem Rechtsstreit vorliegenden - Suchtgiftmißbrauchs eine untergeordnete Rolle spielt, weil hier der Verwirkungsgrund selbst bereits die Vorwerfbarkeit des Versichertenverhaltens in sich trägt. Suchtgiftmißbrauch liegt demnach entweder im eigenmächtigen Genuß von Suchtmitteln oder in der - entgegen ärztlicher Verordnungüberdosierten Einnahme von suchtgifthältigen Arzneien. Die Krankheit muß aber auch in diesem Fall eine adäquate Folge des Mißbrauches von Suchtgiften sein.

In diesem Sinne erweist sich die Arbeitsunfähigkeit des Klägers infolge der durch seinen Sturz aus dem Fenster am erlittenen Krankheit, das ist des die Krankenbehandlung notwendig machenden regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes (§ 120 Abs 1 Z 1 ASVG), als unmittelbare Folge des Mißbrauches von Suchtgiften. Denn als der Kläger aus dem Fenster stürzte, befand er sich entweder in einem sogenannten Kokaindelir oder in einer kokainiduzierten wahnhaften Störung, also in einem durch Mißbrauch eines Suchtgiftes hervorgerufenen Entzugszustand, in dem jederzeit mit - auch selbstgefährdenden - Zwischenfällen gerechnet werden muß. Ein solcher Ausnahmezustand ist daher insbesondere für den, der das Suchtgift gebraucht hat, eine typische Quelle vieler Gefahren. Er war daher auch im vorliegenden Fall eine adäquate und direkte Ursache für den Sturz aus dem Fenster und die daraus entstandene Krankheit. Ob diese Gefahr dem Kläger bewußt war oder bewußt sein mußte, ist nicht entscheidungswesentlich.

Die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß dem Kläger nach § 142 Abs 1 ASVG kein Kranken- oder Taggeld gebührt, ist daher richtig.

Der Revision ist somit nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidungen beruhen hinsichtlich der Revision auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG, hinsichtlich der Revisionsbeantwortung auf Abs 1 Z 1 und Abs 3 leg cit.