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VfGH vom 23.09.2003, B374/03

VfGH vom 23.09.2003, B374/03

Sammlungsnummer

16954

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Absehen von einer Berufungsverhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat in einem Verwaltungsstrafverfahren infolge Verhängung einer Geldstrafe von weniger als 500,- €; kein Verzicht des Beschwerdeführers auf eine Verhandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs 1 EMRK) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.142,- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion Wien vom , Zl. S 119541/F/02, wurde der Beschwerdeführer bestraft, weil er es "als vom Zulassungsbesitzer des Kfz mit [näher bezeichnetem Kennzeichen] genannter Auskunftspflichtiger unterlassen [habe], der Behörde auf ihre schriftliche Anfrage vom , zugestellt am , innerhalb einer Frist von zwei Wochen Auskunft zu erteilen, wer dieses Kfz am um 23.04 Uhr in Wien [...] gelenkt hat". Er habe dadurch gegen § 103 Abs 2 KFG 1967 verstoßen. Über den Beschwerdeführer wurde deswegen eine Geldstrafe in Höhe von € 56,-, eine Ersatzfreiheitsstrafe von 56 Stunden sowie die Verpflichtung zum Ersatz eines Verfahrenskostenbeitrags verhängt.

2. In seiner gegen dieses Straferkenntnis erhobenen selbstverfaßten Berufung machte der Beschwerdeführer unter anderem geltend, daß er "die Auskunft nicht geben" könne. Mit dem angefochtenen Bescheid vom gab der Unabhängige Verwaltungssenat Wien (in der Folge: UVS) seiner Berufung keine Folge, bestätigte das Straferkenntnis und verpflichtete den Beschwerdeführer auch zum Ersatz der Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art 144 B-VG, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird. Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und keine Gegenschrift erstattet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. In der Berufung gegen das Straferkenntnis erster Instanz hat der Beschwerdeführer vorgebracht, daß er die verlangte "Auskunft nicht geben" könne und daher jene Person genannt habe, die (an seiner Stelle) die Auskunft geben könne. Auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Tribunal hat zwar die Behörde erster Instanz - anläßlich der Vorlage der Berufung an den UVS - ausdrücklich verzichtet, nicht jedoch der Beschwerdeführer als Beschuldigter (und damit als Träger des in Art 6 EMRK gewährleisteten Rechts).

2. Der belangten Behörde, die offenbar aufgrund der Höhe der in erster Instanz verhängten Geldstrafe von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat, ist dabei entgegenzuhalten, daß der Inhalt der - verschuldensbezogenen (und damit sachverhaltsbezogenen) - Berufung keineswegs zweifelsfrei darauf schließen läßt, daß der Beschwerdeführer dadurch auf sein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Durchführung der öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet hätte. Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom , B1312/02, ausgesprochen hat, setzt der schlüssige Verzicht auf ein Recht die Kenntnis dieses Rechts voraus. Der - nicht rechtsfreundlich vertretene - Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt; es deuten auch sonst keine Umstände darauf hin, daß der Beschwerdeführer von der Möglichkeit der Antragstellung wissen hätte müssen (zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR , Cetinkaya gg. Österreich Zl. 61595/00).

Wie der Verfassungsgerichtshof ebenfalls bereits im Erkenntnis vom , B1312/02, ausgeführt hat, kann bei diesem Ergebnis die grundsätzliche Frage dahingestellt bleiben, ob auf das durch Art 6 Abs 1 EMRK gewährleistete Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Verwaltungsstrafverfahren durch eine konkludente Willenserklärung überhaupt wirksam verzichtet werden kann. Selbst wenn Art 6 EMRK im Strafverfahren einen schlüssigen Verzicht auf das Recht auf eine mündliche Verhandlung zuließe, kann das Verhalten des Beschwerdeführers unter den beschriebenen Umständen des vorliegenden Falles nämlich keineswegs dahin verstanden werden, daß er konkludent auf dieses Recht verzichtet hätte.

3. Der Beschwerdeführer hat sich seines Rechts auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung daher nicht begeben. Da auch sonst keine Gründe vorliegen, die aus Sicht des Art 6 EMRK für eine Einschränkung der Mündlichkeit sprechen, ist der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art 6 EMRK verletzt worden.

4. Der Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben, ohne daß auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.

5. Der Kostenspruch beruht auf § 88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,- enthalten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.