zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VfGH vom 25.06.2003, B366/03

VfGH vom 25.06.2003, B366/03

Sammlungsnummer

******

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Absehen von einer Berufungsverhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat in einem Verwaltungsstrafverfahren infolge Verhängung einer Geldstrafe von weniger als 500,- €; kein Verzicht des Beschwerdeführers auf eine Verhandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs 1 EMRK) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Burgenland ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.142,- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Eisenstadt-Umgebung vom , Zl. 300-6448-2002, wurde der Beschwerdeführer bestraft, weil er "am um 15:12 Uhr als Lenker [eines näher bezeichneten] PKW im Gemeindegebiet Klingenbach [...] die mit Verkehrszeichen kundgemachte Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h dadurch überschritten [habe, daß er] mit einer Geschwindigkeit von 77 km/h gefahren" sei.

Wegen dieses Vergehens wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von € 87,- (ATS 1.197,15) bzw. eine Ersatzfreiheitsstrafe von 66 Stunden verhängt.

2. In seiner gegen dieses Straferkenntnis erhobenen Berufung bekämpfte der Beschwerdeführer die im Straferkenntnis vorgenommene Beweiswürdigung und bestritt das Tatgeschehen. Er machte die Insassen von nachfahrenden Fahrzeugen als Zeugen namhaft und brachte vor, diese Personen würden seine Version des Tatgeschehens bestätigen.

3. Die Bezirkshauptmannschaft Eisenstadt-Umgebung legte die Berufung dem Unabhängigen Verwaltungssenat Burgenland (UVS) zur Entscheidung vor.

4. Der UVS gab der Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Bescheid vom , Zl. E 002/06/2002.217/002, keine Folge und traf seine Beweiswürdigung aufgrund des Akteninhalts, insbesondere aufgrund der im erstinstanzlichen Verfahren vorgenommenen Erhebungen.

5. In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gemäß Art 144 B-VG behauptet der Beschwerdeführer insbesondere die Verletzung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein mündliches Verfahren vor einem Tribunal bei der Entscheidung über eine "strafrechtliche Anklage" im Sinne des Art 6 EMRK. Er beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.

6. Die belangte Behörde hat dem Verfassungsgerichtshof die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisten Recht gemäß Art 6 EMRK. Gegen das Straferkenntnis habe er mit der Begründung Berufung erhoben, daß er zum Zeitpunkt der ihm zur Last gelegten Tat im Konvoi von Ungarn nach Hause gefahren sei. Die Insassen des nachkommenden Fahrzeuges und seine eigene Frau könnten bestätigen, daß er am um 15:12 Uhr die im Gemeindegebiet Klingenbach kundgemachte Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h nicht überschritten habe. Er habe in der Berufung eine ladungsfähige Anschrift der Zeugen Albert L., Irmgard L. und Gerlinde O. bekanntgegeben.

1.2. Art 6 Abs 1 EMRK normiert das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf eine mündliche Verhandlung (fair hearing) vor einem "Tribunal", das "über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen [den Beschuldigten] erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , B1737/01, in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ausgesprochen hat, wird den Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK durch ein Tribunal nur entsprochen, das über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof - wie der EGMR im Fall Gradinger (EGMR , ÖJZ 1995, 954) festgestellt hat - im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt, muß die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung vom Unabhängigen Verwaltungssenat erfüllt werden (vgl. dazu auch EGMR im Fall Baischer vom , ÖJZ 2002, 394, Z 28 bis 30).

In einem Strafverfahren, das vor einem Tribunal in einziger Instanz durchgeführt wird, folgt nach der Rechtsprechung des EGMR aus dem durch Art 6 EMRK garantierten Recht "gehört zu werden" das Erfordernis einer mündlichen Verhandlung, von der nur in Ausnahmefällen abgesehen werden kann (so etwa EGMR in den Urteilen Håkansson und Sturesson gg. Schweden vom , Serie A Nr. 171-A, S. 20, Rn 64; Fredin [Nr. 2] gegen Schweden vom , Serie A Nr. 283-A, S. 10-11, Rn 21-22; Allan Jacobsson gegen Schweden [Nr. 2] vom , Slg 1998-I, S. 168, Rn 46).

2.1. Die belangte Behörde rechtfertigt das Absehen von der Durchführung der mündlichen Verhandlung damit, daß die Berufung sich gegen einen Bescheid richtete, mit dem eine Geldstrafe von weniger als € 500,- verhängt wurde (§51e Abs 3 Z 3 VStG), sodaß ein Fall gegeben war, in dem der UVS von der Berufungsverhandlung absehen "kann". Der Berufungswerber hätte den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung bereits in der Berufung stellen müssen.

Hätte § 51e Abs 3 Z 3 VStG den Inhalt, daß allein die Höhe der angefochtenen Geldstrafe (weniger als € 500,-) von vornherein den Entfall der mündlichen Verhandlung nach sich zieht, so wäre dies verfassungswidrig. Die Bestimmung läßt eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall aber zu: Zur Frage des dem UVS aufgrund dieser Bestimmung eingeräumten Ermessens hat der Verfassungsgerichtshof bereits mit Erkenntnis vom , B1737/01 ausgesprochen, daß § 51e Abs 3 VStG den UVS nicht zwingt, von der Verhandlung abzusehen, er hat vielmehr einen Ermessensspielraum; "soweit es Art 6 EMRK jedoch gebietet, muß er [verfassungskonform] jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben".

2.2. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwar nicht ausdrücklich beantragt, er hat darauf aber auch nicht ausdrücklich verzichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob der UVS aufgrund dieses Schweigens einen konkludenten Verzicht des Beschwerdeführers annehmen durfte.

2.3. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob auf das durch Art 6 Abs 1 EMRK gewährleistete Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Verwaltungsstrafverfahren durch eine konkludente Willenserklärung wirksam verzichtet werden kann: Selbst wenn Art 6 EMRK im Strafverfahren einen schlüssigen Verzicht auf das Recht auf eine mündliche Verhandlung zuließe, kann nämlich das Verhalten des Beschwerdeführers unter den Umständen des vorliegenden Falles keineswegs dahin verstanden werden, konkludent auf dieses Recht verzichtet zu haben:

Wenn die belangte Behörde nämlich in der Gegenschrift meint, sie hätte schon deshalb keine mündliche Verhandlung durchzuführen gehabt, weil der Beschwerdeführer dies in der Berufung nicht beantragt hat, so ist ihr entgegenzuhalten, daß der Inhalt der - sachverhaltsbezogenen - Berufung keineswegs zweifelsfrei darauf schließen läßt, daß der Beschwerdeführer dadurch auf sein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Durchführung der öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet hätte. Der schlüssige Verzicht auf ein Recht setzt die Kenntnis dieses Rechts voraus. Der - nicht rechtsfreundlich vertretene - Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt; es deuten auch sonst keine Umstände darauf hin, daß der Beschwerdeführer von der Möglichkeit der Antragstellung wissen mußte (zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR , Cetinkaya gg. Österreich Zl. 61595/00).

2.4. Der Beschwerdeführer hat sich seines Rechts auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung daher nicht begeben. Da auch sonst keine Gründe vorliegen, die aus Sicht des Art 6 EMRK für eine Einschränkung der Mündlichkeit sprechen, ist der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid in seinem Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art 6 EMRK verletzt worden.

3. Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

4. Der Kostenspruch beruht auf § 88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 327,- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.